Das Altpapier am 8. Februar 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Autor René Martens kommentiert im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 8. Februar 2023 Das größte Versagen der Versager

08. Februar 2023, 13:16 Uhr

Warum es gut ist, dass die Fiktion von Bertelsmann als "Oberhaus der Demokratie" nunmehr Geschichte ist. Warum der Klimawandel nicht nur in Nachrichtensendungen und Wirtschafts- und Wissenschaftsformaten vorkommen sollte. Warum das Wort Objektivität ins Museum gehört. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die "Kill List" des "Totenvogels"

In den vergangenen 24 Stunden hat uns die Medienkrise wieder in ihren Bann gezogen: Die in Münster ansässige Verlagsgruppe Aschendorff hat angekündigt, "sämtliche Anzeigenblätter einzustellen", unter anderem den "Stadtanzeiger Coesfeld/Dülmen", "Wir in Steinfurt" und das "Lengericher Wochenblatt". Und in Liechtenstein droht der ältesten Tageszeitung des Landes, dem seit 1878 erscheinenden "Volksblatt", das Aus.

Und dann war da ja noch der "Kahlschlag" (u.v.a. "Spiegel", "Handelsblatt") bzw. die "historische Zäsur" (FAZ) bei den Zeitschriften von RTL Deutschland. Das Unternehmen will, wie zum Beispiel einer in dem erwähnten "Spiegel"-Text eingeklinkten Auflistung zu entnehmen ist, 23 Zeitschriften des früheren Verlags Gruner + Jahr von der Bildfläche verschwinden lassen - wobei zwei davon, "Chefkoch" und "Eltern", zumindest online erhalten bleiben sollen - und fast ebenso viele Titel verkaufen.

Auf der "Kill List" ("Medieninsider"-Newsletter) stehen zahlreiche Ableger (zum Beispiel "Geo Wissen" und "Geo Epoche") und Ableger von Ablegern (zum Beispiel "Geo Wissen Ernährung" und "Geo Epoche Panorama").

"RTL streicht 1000 Stellen bei Gruner + Jahr und in Kölner Zentrale",

lautet die Überschrift beim "Handelsblatt", eingerechnet sind hier also auch Mitarbeiterloswerdungspläne am Hauptstandort (zu letzterem Aspekt, siehe auch "Kölnische Rundschau")

13 Zeitschriftentitel will RTL Deutschland behalten, und das klingt auf den allerersten Blick weniger schlimm als erwartet, weil in den ärgsten kursierenden Szenarien ausgemalt war, dass das Bertelsmann-Unternehmen nur einen Titel behalten wolle, nämlich den "Stern" (Altpapier). Auf den zweiten Blick ist es aber eher schlimmer gekommen, weil all die Szenaristen, zumindest meiner Wahrnehmung nach, nicht davon ausgingen, dass RTL Deutschland derart viele Titel, mit denen das Unternehmen nichts mehr anzufangen zu können glaubt, in die ewigen Jagdgründe schickt.

Thomas Rabe, der Bertelsmann-Vorstandschef, der seit Sommer 2022 auch bei RTL Deutschland an der Spitze steht, sagte gegenüber dpa (via "Tagesspiegel"):

"Viele der Titel sind Ableger. Wir können uns nicht vorstellen, diese zu verkaufen, wenn wir die Kernmarken 'Geo' und 'Brigitte' behalten. Sonst wäre eine einheitliche Markenführung nicht möglich."

Das klingt nicht unplausibel, andererseits hat zum Beispiel Springer 2014 "Bild der Frau" verkauft und die "Bild"-Zeitung behalten, ohne dass dadurch die Erdrotation gestoppt worden wäre.

Michael Hanfeld kritisiert in der FAZ arithmetische Verrenkungen:

"Um seine Strategie zu stützen, rechnet Thomas Rabe Gruner + Jahr zum Schrottladen herunter."

Seinen, von den Hamburger Mitarbeitenden unlängst verbreiteten Spitznamen "Rabenvater" und "Totenvogel" (Altpapier), hat der Konzernlenker mit diesem Kettensägenmassaker jedenfalls alle Ehre gemacht.

Detlef Esslinger kommentiert in der SZ:

"Was die größeren Medienunternehmen der Bundesrepublik betrifft, war Burda stets ein Hof und Springer eine Kompanie; bei Bertelsmann hingegen hätte sich niemand dagegen gewehrt, als Oberhaus der Demokratie verehrt zu werden. Unter einem Aspekt sind die Entscheidungen, die die Bertelsmann AG am Dienstag verkündet hat, unbedingt zu begrüßen: Endlich beerdigt sie diese Fiktion. Jetzt sieht jeder, dass im Hauptquartier in Gütersloh keine Diener der Republik sitzen, sondern ganz normale Versager."

Während in der aktuellen Ausgabe des monatlich erscheinenden und neulich hier im Gruner/RTL-Kontext schon zitierten "Manager Magazins" noch davon die Rede ist, dass der Verkauf der RTL-Zeitschriften bisher "chaotisch" verlaufen sei, sagt Rabe gegenüber dpa, dass der Verkauf noch gar nicht begonnen habe, jedenfalls habe es bisher "keinerlei Sondierungs- oder Verkaufsgespräche" gegeben.

Um welches der Verkaufsobjekte man sich wohl keine Sorgen machen muss: um das Fußballmagazin "11 Freunde", das RTL zu 51 Prozent gehört. Jedenfalls twittert Philipp Köster, der Chefredakteur, der selbst 15,7 Prozent der Anteile hält:

"Wir arbeiten bereits an einer guten Lösung für den Verlag und das Magazin."

Dass einer der Kandidaten für den Kauf des 51-Prozent-Anteils diese Mediengruppe ist, steht in der taz (für die ich versucht habe, die "Kahlschlag"-Sache journalistisch halbwegs in den Griff zu kriegen).

Was sagen die Gewerkschaften? Michael Hanfeld fasst in der FAZ zwei Reaktionen zusammen:

"'Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) (…) spricht von einem 'verheerenden Aderlass für den renommierten Medienstandort Hamburg'. Diese Entscheidung sei 'durch nichts begründet als durch gewissenlose Profitmaximierung', sagte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. Dies stelle 'die Abwicklung des renommierten Medienhauses Gruner + Jahr' dar, und es sei 'zu befürchten, dass sich RTL mittelfristig doch von den verbleibenden Titeln trennen wolle und bis dahin nicht mehr investiere'. Ganz ähnlich klingt es bei Christoph Schmitz, der im Bundesvorstand von Verdi für den Bereich Medien zuständig ist: 'Aus Un­fähigkeit, ein profitables und europaweit beachtetes Zeitschriftenhaus in die digitale Transformation zu führen, zerschlägt Bertelsmann nun den Magazinverlag RTL in Hamburg' (…)"

Es zirkulieren natürlich auch Einschätzungen von direkt Betroffenen oder von dem Magazinjournalismus sich verbunden fühlenden Kolleginnen und Kollegen. Jakob Vicari etwa, Wissenschaftsjournalist und Gründungsmitglied der Freischreiber, twittert:

"Das ist das größte Management-Versagen im deutschen Journalismus der letzten Jahrzehnte. Da wurde grundlegend nicht verstanden, wie Geschäftsmodelle im Digitalen funktionieren."

Verknüpft man dies mit Esslingers SZ-Kommentar, ließe sich also sagen, dass die Versager noch nie so sehr versagt haben wie heute.

Mindestens einen Soli-Hashtag für die Abgewickelten gibt es schon: #geoepochemussbleiben. Kreiert hat ihn wohl der "Geo Epoche"-Redaktionsleiter Joachim Telgenbüscher, der einigen unserer Leserinnen und Leser möglicherweise eher unter seinem Twitter-Pseudonym "Dr. Guido Knapp" bekannt ist - und der am Dienstag in der 20-Uhr-"Tagesschau" zu Wort kam, die von einer Protestaktion der Verlagsmitarbeitenden vor dem Hamburger Rathaus berichtete (auf die auch der "Spiegel" eingeht).

Telgenbüscher alias Dr. Guido Knapp jedenfalls schreibt:

"Dass in diesen Zeiten ausgerechnet ein Magazin eingestampft wird, das historisches Wissen vermittelt, das erklärt und einordnet, wer soll das begreifen?"  

Warum Geschichtsjournalismus wichtig ist, hat er bereits mal vor viereinhalb Jahren in einem taz-Interview, das ich mit ihm geführt habe, formuliert. Weil nämlich "ständig über Geschichte gesprochen wird, aber ziemlich losgelöst von historischen Fakten". Beziehungsweise: Weil es eine "Cultural Dementia" gibt, wie er unter Bezug auf ein Buch des englischen Historikers David Andress sagte:

"Andress kritisiert die weit verbreitete, teilweise geradezu wahnhafte Vorstellung von einer glorreichen Vergangenheit, die den westlichen Nationen angeblich weggenommen worden ist und die sie zurückgewinnen müssen – durch den Brexit oder Abschottung oder was auch immer. Er betont dagegen: So glorreich waren die beschworenen Zeiten nicht. Der Erfolg des British Empire etwa basierte auf kolonialistischer Ausbeutung. Mehr denn je muss man den Leuten solche historischen Fakten vor Augen führen.

"Klimawandel: immer noch nicht Querschnittsthema bei ARD und ZDF

Vor rund einem Monat war hier bereits eine von Wissenschaftlern der Uni Hamburg erstellte und in der ARD-Zeitschrift "Media Perspektiven" veröffentlichte "Inhaltsanalyse" zur öffentlich-rechtlichen Klimaberichterstattung erwähnt. Die Initiative "Klima vor acht" hat dazu nun den an der Studie beteiligten Sozialwissenschaftler Robin Tschötschel interviewt. Tschötschel und Co. haben unter anderem 86.000 "Tagesschau"-Minuten in der Zeit zwischen 2007 bis 2022 ausgewertet. Dazu sagt der Interviewte:

"Man sieht ganz schön, dass es am Anfang des untersuchten Zeitraums so ein bisschen Aufmerksamkeit für das Thema gab (…) Und dann kam so ein langes Jahrzehnt - ich nenne es gern das verlorene Jahrzehnt -, wo eigentlich kaum berichtet wurde."

Gemeint ist damit der Großteil der 2010er Jahre. Tschötschel weiter:

"Das hat sich dann gedreht mit dem Aufkommen der Klimabewegung der letzten Jahre (…), wo man sagen kann, ja, so was wie Protest, der bringt auch in dieser Hinsicht was. Ob die 'Tagesschau' das schafft, den Klimawandel in seiner Bedeutung adäquat zu behandeln, auch wenn es zu anderen großen Krisen kommt, das wird sich noch zeigen über die nächsten Jahre."

Außerdem haben die Wissenschaftler das Gesamtprogramm von Das Erste, ZDF und WDR in der Zeit zwischen Juli 2021 und September 2022 untersucht. Zu diesem Teil der Arbeit sagt Tschötschel: Das Thema Klimawandel sei weiterhin "kein Querschnittsthema im öffentlich-rechtlichen Fernsehen", obwohl es jeden Zuschauenden betrifft und historisch und medienhistorisch singulär ist. Der Wissenschaftler sagt dazu des Weiteren:

"Unterschiedliche Publikumsgruppen, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen (werden) durch unterschiedliche Sendeformate erreicht (…) Es gibt Leute, die sind einfach nicht an Nachrichten interessiert, es gibt Leute, die schauen sich keine Wissenschaftsendungen an. Werden Leute mit dem Thema konfrontiert, (…) wenn sie es gar nicht erwarten, in Sendungen, die sie vielleicht anderweitig interessant finden oder unterhaltsam finden, wäre (das) eine Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die sonst dem Thema eigentlich sehr fern stehen."

Eine Forderung nach "angemessener Unparteilichkeit" im Journalismus

Das Thema Klimajournalismus kommt auch vor in einer Kolumne, die Alexandra Borchardt für den "Medieninsider" verfasst hat. Es geht um das in journalistischen Grundsatzdebatten immer noch gern in den Raum geworfene Schlagwort Objektivität. Borchardt meint:

"Das Wort Objektivität gehört ins Museum journalistischer Selbstbeschreibungen. Über Themen und Fakten zu berichten hat schon immer bedeutet, Themen und Fakten auszuwählen und zu gewichten. Viel öfter noch als heute, wo Daten beim Priorisieren helfen, wurde dazu früher vor allem das Bauchgefühl bemüht – und dann das Gespräch mit Kolleg:innen und Vorgesetzten, die ähnlich tickten. Auch am Beginn einer jeden investigativen Recherche stand und steht die Entscheidung: Ist das ein Thema, lohnt sich die Investition? Es ist kein Zufall, dass es bei großen Investigativ-Projekten bislang viel häufiger um Korruption und Steuerhinterziehung ging als um andere Arten von Machtmissbrauch – die Recherchen zum Fall Harvey Weinstein waren auch aus diesem Grund ein wichtiger Schritt zu mehr Vielfalt."

Außerdem schreibt die Autorin:

"Ähnlich angeschlagen ist der im britischen Englisch eher verwendete Begriff 'impartiality', die Unparteilichkeit. Diese Vorgabe hatte zum Beispiel im Klimajournalismus viel zu lange dazu geführt, dass Leugner des Klimawandels Sendezeit bekamen, obwohl die Fakten sie längst widerlegt hatten. Die für die BBC zuständige britische Regulierungsbehörde Ofcom hat deshalb den Begriff um 'due impartiality' – angemessene Unparteilichkeit – erweitert und in ihre Statuten geschrieben. Darin verbirgt sich der Auftrag, das zu ignorieren oder zumindest richtigzustellen, was aus Sicht der Wissenschaft Blödsinn ist – was sich in manchen Fällen leider erst im Nachhinein beurteilen lässt."

Unfaire Kämpfer

Georg Restle hat bei Twitter neulich darauf aufmerksam gemacht, dass der "Orga. Chef" des Troll-Accounts @oerrblog CSU-Politiker sei, und daher war es nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Journalist mal ausführlicher mit dem Projekt beschäftigt, das laut Selbstauskunft von "kritischen Beobachtern des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks" betrieben wird. Matthias Schwarzer hat es für das Redaktionsnetzwerk Deutschland nun getan.

"Das Problem an dem Kampagnen-Blog: Es kämpft mit unfairen Mitteln. Zwar findet sich zum Teil in den Beiträgen fundierte Kritik – etwa wenn der NDR in einer Bürger-Talkshow die Parteizugehörigkeit seiner Gäste verschweigt. Nicht selten aber werden Begebenheiten mit Screenshots oder abgeschnittenen Videobeträgen derart aus dem Zusammenhang gerissenen und ad absurdum geführt, dass vom Vorwurf bei näherer Betrachtung kaum noch etwas übrig bleibt."

Dass die Inhalte von @oerrblog oft einfach nur gaga sind, kann man auch noch erwähnen. Der CSU-Mann und seine Gesinnungsbrüder informieren zum Beispiel darüber, dass jemand, der beim WDR "als Vertreter des Personalrats an den Sitzungen des Ausschusses für Rundfunktechnik und Digitalisierung teilnimmt", 2007 den Grünen beigetreten ist (so what!). Dass ein heutiger Klimaaktivist mal als Schauspieler in ZDF-Krimis zu sehen war. Und die Autoren kennen auch keine Feiertagspause, wenn an Heiligabend bei funk das Abendland untergeht.


Altpapierkorb (Dominik Graf, Harry Potter)

+++ Wie ist denn der neue Graf eigentlich so? Christian Buß bezeichnet "Gesicht der Erinnerung" (zu sehen heute im Ersten) im "Spiegel" als "Meisterwerk", das "uns in furiosen Bildmontagen in das Empfinden der Heldin mitnimmt, bis wir für sie unseren Verstand über Bord werfen". Das Urteil von Christine Dössel in der SZ: "modern gefilmt, in eigenwillig subtilen, stimmungsvollen, oft auch überraschenden Bildern. Keine TV-Gebrauchsware". Und Heike Hupertz (FAZ) findet: "Religion, Kunst, Liebe, Freiheit, Seelenwanderung: Fernsehzuschauern, die lediglich am Plot einer Geschichte interessiert sind und eindeutige Aufklärungen schätzen, mag 'Gesicht der Erinnerung‘ wolkig vorkommen. Alle anderen dürfen gewärtigen, was ein Fernsehfilm als Gesamtkunstprodukt der Gewerke über sich hinausweisend vermag."

+++ Dass in den kommenden Tagen die Debatte um "Hogwarts Legacy", ein neues Harry-Potter-Videospiel, eskalieren wird, ist nicht auszuschließen. Sebastian Schuller ("Belltower News") stimmt uns schon mal ein: "Es ist (…) sicher falsch, Hogwarts Legacy nur aufgrund von Tweets von JK Rowling zu boykottieren. Vielmehr sollte das Spiel aufgrund des regressiven Weltbildes, das das gesamte Harry-Potter- Universum ausmacht, boykottiert werden."

Das Altpapier von Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

Mehr vom Altpapier

Kontakt