Das Altpapier am 24. April 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 24. April 2023 Selektive Empörung

24. April 2023, 10:31 Uhr

Benjamin von Stuckrad-Barres mutmaßlicher Bestseller führt zu munteren binnenpluralistischen Debatten. Was geht bei Springer, was beim RBB? Der Bundespresseball entfaltete Glamour. Doch was hat es mit dem Trend "Virtue Signalling" auf sich? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Allerhand Stuckrad-Barre-Debatten

Noch immer nicht alles gesagt zum "übertrieben gehypten Medien-Liebling" der vergangenen Woche (Altpapier). Benjamin von Stuckrad-Barre ist, wegen des am Donnerstag hier besprochenen Interviews, auf der Titelseite des aktuellen "Spiegel" zu sehen. Im Zusammenspiel mit der 160.000-Exemplare-Startauflage von "Noch wach?" ist er auf Stapeln in vielen (der insgesamt nicht mehr so vielen) Geschäfte, in denen gedrucktes Papier verkauft wird, also gut vertreten.

Und die Zahl der Artikel wächst exponentiell. Um das Positive zu betrachten: Auch binnenpluralistische Debatten ergeben sich. In der "taz" etwa hatte Nora Bossong ihr Eintreten für die Minderheiten-Position, dass Springer-Chef Döpfners Privatnachrichten nicht veröffentlicht gehörten, noch mal erläutert ("Erregungsjournalismus zielt auf reflexhafte Empörung der eigenen Klientel ..."). Woraufhin dann Chefredakteurin Ulrike Winkelmann unter der hübschen Überschrift " Please Stärke die Unabhängigkeit" wiederum eine  Gegenposition vertrat, also dass die Ansicht, "auch jenseits von Springer würden in Zeitungen Linientreue und Parteilichkeit verordnet", nicht zutreffe. Vor allem aber schöpft Winkelmann aus den gegensätzlichen Positionen die sympathische Synthese, "strenger über journalistische Standards nachzudenken", am besten überall.

"Der Gewinner ist vor allem Stuckrad-Barre selbst", der ja jahrelang "Teil des patriarchalen Machtsystems" war, das er nun schildert, sagt Miriam Zeh im Deutschlandfunk (Audio). Das sei unvermeidbar, schließlich ist er ja der Autor  des Romans. Dass aber "der mediale Diskurs sich so bereitwillig ... verengt" auf Spekulationen über Skandaldetails und die prominent entschlüsselbaren Personen, verpasse die Chance, struktureller über Machtmissbrauch zu diskutieren. "Die Kritik an Stuckrad-Barre spielt der Macht der Täter in die Hände", kolumniert indes im "Tagesspiegel" Aline von Drateln ("Denn mit der gleichen Herleitung wird betroffenen Frauen eine Mitschuld am System 'Vögeln, fördern, feuern' gegeben. Genau wie Stuckrad-Barre haben auch die Frauen zunächst die Vorteile ihrer Arbeit beim Springer-Verlag genossen...")

Wobei Kritik an Kritik an Stuckrad-Barre dem Buchverlag Kiepenheuer & Witsch in die Hände spielt, der hoch in die Bestsellerliste des "Spiegel" einsteigen will (dessen aktuelle Ausgabe übrigens das erste Kapitel "Noch wach?" auch noch enthält). Wobei Kiepenheuer & Witsch nicht zum weltgrößten Buchverlagsgruppe Penguin des Bertelsmann-Konzerns gehört (dem rund ein Viertel des "Spiegels" gehört), sondern zur Holtzbrinck-Gruppe, in der etwa auch "Zeit" erscheint (die vor anderthalb Wochen den Hype erst so richtig anfeuerte) – und der der "Tagesspiegel" zumindest brüderlich verbunden ist. Was wiederum keineswegs heißt, dass der "Tagesspiegel" das Kiwi-Buch grundsätzlich empfiehlt. Gerrit Bartels' Besprechung zählt zu den schärferen Verrissen – und wundert sich unter anderem, dass Stuckrad-Barre "nun wie einst Günter Wallraff zum Ankläger und Aufklärer wird".

Binnenpluralismus ist immer gut. Wer die schwierige Gemengelage um das Buch beobachtet, ob er (oder sie) es nun lesen möchte oder nicht, sollte am besten selber wach bleiben und nicht der Versuchung erliegen, sich auf Faustregeln wie die, dass die Gegner der Bösen automatisch zu den Guten gehören, einzulassen. Die lassen sich selten anwenden, und in diesem Fall schon gar nicht.

"Remixologie" heißt dann noch in der Papier "FAZ" die Randspalten-Glosse vorn auf dem "FAZ"-Feuilleton heute. Da nimmt Patrick Bahners den im Buch prominent kursiv platzierten Satz "Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen" auseinander, indem er erläutert, dass es sich beim "eigenständigen neue Werk" zwar um eine "juristische Figur" handelt – aber um eine urheberrechtliche. Falls eine der Gegenseiten, der Springer-Konzern bzw. dessen Vorstandsvorsitzender oder aber der mit dem Konzern mindestens so zerstrittene Ex-Mitarbeiter Reichelt, den Buchautor Stuckrad-Barre oder Kiwi verklagen wollen sollten (worauf letztere Seite es einerseits gewiss anlegt...), dann wegen Plagiats-Vorwürfen wohl am wenigsten.

Weitere Springer-Fragen

Neue Leaks am Horizont, oder ältere, die neu gelesen werden? Zumindest reklamiert medieninsider.com, sich nun auch "einen Eindruck von Chatnachrichten zwischen dem Chefredakteur und seiner Angestellten" aus dem Jahr 2018 verschafft zu haben, die Holtzbrincks "Zeit" zwar ebenfalls vorliegen hatte, aber weniger beachtete. Nun sieht Marvin Schade Reichelt von einigen der Vorwürfe entlastet.

Unterdessen warf "Welt"-Chefredakteur Poschardt in einen ihm passend scheinenden Debattenstrang auf Twitter weitere SMSse von Mathias Döpfner, sozusagen um seinen Chef vom Vorwurf, mit der FDP zu sympathisieren, zu entlasten:

"Der Witz ist, dass die SMS, die ich von MD bekommen habe in den letzten Monaten vor allem genau das waren: Begeisterung für @Die_Gruenen, für @ABaerbock wegen #Ukraine, Kritik an meiner Grünenkritik. Wir hatten herrliche Kontroversen. Wie immer."

Würden interessierte Medien auch solche SMSse durchgestochen bekommen, wenn sie freundlich fragen? Zumindest entsteht der Eindruck, dass private Nachrichten zwischen vielen inzwischen gegnerischen Parteien üppig vorhanden sind und wenn, dann natürlich interessengeleitet geleakt sowie natürlich auch interessengeleitet interpretiert werden.

Während der "Tagesspiegel" dann noch die IVW-Auflagenstatistik fürs erste Quartal so liest, dass "Attraktivität und Anziehungskraft des Journalismus von 'Bild' und 'Welt' unter der schon länger andauernden Unruhe zu leiden" schienen (auch die Aufregungen aus dem April in die bis März ermittelten Zahlen noch nicht einflossen), referiert die "Berliner Zeitung" den "Financial Times"-Onlineartikel "Mathias Döpfner becomes the story". Demzufolge seien die an Springer führend beteiligten US-amerikanischen Finanzinvestoren von KKR einstweilen vor allem "mit dem Mediengeschäft von Axel Springer in den USA zufrieden". Was womöglich damit korreliert, dass Spitzenmanager des deutschen KKR-Ablegers nun als Spender im Rechenschaftsbericht der Partei auftauchten, die Döpfner ursprünglich gern gestärkt sehen wollte, wie der "Spiegel" noch meldet. Also der FDP.

Was geht beim RBB?

"Lächerlich" seien Vorwürfe von "Bild" und businessinsider.de, also von Springer-Medien, gegen den brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke, zitiert die "FAZ" einen Brandenburger Parteifreund Woidkes. Das macht gespannt. Den detaillierten BI-Artikel zu lesen, lohnt – auch, weil da eines der (nicht sehr zahlreichen) Beispiele dafür, dass der RBB eine Landesregierung eines seiner Bundesländer tatsächlich mal kritisierte, geschildert wird. Dass alle Bundesländer sich dafür einsetzen, jeweils viele Rundfunkanstalten-Arbeitsplätze bei sich anzusiedeln, ist einerseits aus Länder-Sicht nachvollziehbar, andererseits aus föderalistischerer Gesamt-Sicht oft ärgerlich, und dritterseits halt im dringend optimierungsbedürftigen Rundfunk-Organisationsprinzip angelegt.

In der reichhaltig illustrierten "FAZ"-Meldung findet sich übrigens auch das medienstaatsvertraglich vorgeschriebene Blumenstrauß-Foto zur Begrüßung des neuen Verwaltungsratsvorsitzenden (der allerdings falsch als "Aufsichtsratsvorsitzender" tituliert wird). Noch die vorige Vorsitzende Dorett König übernahm die Verkündung der schlechten Nachricht, dass der lang schon erwartete Untersuchungsbericht zu den RBB-Skandalen "erst im Juni vorliegen" und dadurch noch teurer werden wird, weil weitere hochwertige Anwalts-Arbeitzeit hineinfließen muss. "Die Kosten belaufen sich mittlerweile auf 1,28 Millionen Euro" ("Tagesspiegel"). Zu den prominenten aktuellen Spar-Bemühungen des RBB gehört das Wieder-Loswerden des von Ex-Intendantin Schlesinger nach Berlin geholten "Mittagsmagazins". Das gestaltet sich schwierig, schreibt die "SZ":

"Falls das 'Mima' mangels Unterstützung durch die ARD-Gemeinschaft vom RBB wegzieht und anderswo in der ARD produziert wird, bestünde jedenfalls Erklärungsbedarf: Mehr Synergien mit dem ZDF als in der momentanen Konstellation am politiknahen Standort Unter den Linden dürften sich kaum noch finden lassen"

Wobei das Anhäufen von Erklärungsbedarf, damit sich später oder früher alle genervt abwenden und die Anstalten halt weiter machen lassen, eine durchaus erfolgreiche Strategie darstellt.

Was ging beim Berliner Presseball?

Der Bundespresseball ist eine überkommene Traditionsveranstaltung der Hauptstadtpresse. Am Freitag fand er wieder statt und kann sich nun nicht über geringe Berichterstattung beklagen. Das dürfte vor allem dem Stargast, Außenministerin Annalena Baerbock, zu verdanken sein, deren "gülden schimmernde Robe im Stile einer römischen Toga" die "Berliner Zeitung" mit "Top: Goldstatus" prämiert (vielleicht auch, um noch mal darauf hinzuweisen, dass die Ampel-Bundesregierung und besonders das Außenministerium ja viel Geld "für Fotografen, Friseure und Visagisten" locker macht). Die Mehrzahl der weiblichen Gäste erschien nicht in Gold, sondern in "grün ... als Farbe der Hoffnung, des Aufbruchs und des Frühlings" so auch "die Frau von Friedrich Merz... in Lindgrün" berichtet der "Tagesspiegel" (der fürs Onlinefoto allerdings auch auf die prominentere Baerbock setzt).

Der Grund, aus dem der Ball hier erwähnt wird, liegt jedoch nicht darin, dass Can Dündar und Jasmin Tabatabei politische Reden hielten, oder darin, dass wie stets ein Journalistenpreis überreicht wurde ("Tsp.": "erstmals an einen Online-Journalisten" an augengeradeaus.net-Blogger Thomas Wiegold). Sondern darin, dass Julians Frau Stella Assange table.media, dem newsletterigen, Sebastian-Turner-herausgegebenen Hauptstadt-Medium, ein Interview gab und sich darin zum Ball auch äußerte:

"Generell habe ich Bedenken gegenüber glamourösen Veranstaltungen, bei denen Journalisten mit den Mächtigen verkehren, die sie eigentlich kontrollieren sollen. Es ist leicht, Veranstaltungen zur Pressefreiheit in anderen Ländern zu unterstützen, deren Regierungen wir kritisch gegenüberstehen; die zugrunde liegende geopolitische Dynamik ist offensichtlich. Aber es fällt mir schwer, mich des Eindrucks zu erwehren, dass vieles von dem, was geschieht, nicht mehr ist als selektive Empörung und virtue signalling, das Zurschaustellen moralischer Werte. Julian befindet sich seit vier Jahren ohne Verurteilung in England in Haft und ihm drohen 175 Jahre in den USA ..."

Dabei gebe es ermutigende Entwicklungen, nämlich außer in Australien, Julian Assanges Geburtsland, auch innerhalb der darob zerstrittenen US-amerikanischen Regierung Bestrebungen, auf eine Auslieferung (und verlängerte damit Folter) Assanges verzichten zu wollen. "Eine eindeutige Positionierung der deutschen Regierung auf der richtigen Seite der Geschichte käme zur rechten Zeit", sagt Stella Assange, und zieht dann auch noch interessante Parallelen zwischen den Fällen Assange und Evan Gershkovich (Altpapier).

Dass Außenministerin Baerbock, gewiss hochwertig gestylt, ihre ambitioniert angekündigte Außenpolitik ebenfalls selektiv betreibt und zumindest öffentlich wahrnehmbar kaum andere Prioritäten setzt als US-amerikanischen Regierungspolitik möglichst maßstabsgetreu nachzuvollziehen, verdient hier vielleicht noch rasch Erwähnung. Auch wenn wir keine politische Kolumne sind...


Altpapierkorb ("Klimakiller Internet"? Twitters Markierungen, schlechte Talkshow, ausgeblendete Katastrophen)

+++ "Klimakiller Internet" stand auf der Titelseite der gestern... nein, am Samstag erschienenen "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". "Warum der Einstieg in den Text und damit die Grundprämisse ärgerlich und journalistische Fragen aufwirft", leitete der deutsche Google-Mitarbeiter Lutz Mache einen Twitter-Thread ein, in dem er nicht zuletzt auf Googles Klimaschutz-Bemühungen hinwies. Worauf "FAS"-Redakteur Justus Bender in einem Antwort-Thread Fehler einräumte, aber "Die Grundprämisse des Textes, die lautet: Das Internet verursacht sehr viel CO2", verteidigte: "Es gibt eine bei Endnutzern unheimlich weit verbreitete Datenverschwendung durch die Flatrate-Kultur, die man eindämmen könnte." Was noch mal wieder zeigte, wofür Twitter sich gut eignet. +++

+++ Die erratischen, nicht ansatzweise vergleichbare Fernsehsender gleichsetzenden "Staatlich"- bzw. "öffentlich finanziert"-Markierungen auf Twitter sind gerade verschwunden. "Vorstellbar ist angesichts der Vorgeschichte aber auch, dass die Kennzeichnung versehentlich entfernt wurde und zurückkommt" (heise.de). +++

+++ Der SWR, die Anstalt des aktuellen ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke, hat nach ambitiösen Ankündigungen, frischere Talkshows für jüngeres Publikum zu entwickeln, lange an entsprechenden Formaten gefeilt und... dann "einen Rückschritt ins Konventionelle: einen sehr normalen Talk am Tisch, der auch noch haufenweise handwerkliche Fehler macht", vollzogen. Schreibt Peer Schader bei dwdl.de zu "Deutschland3000 – Die Woche mit Eva Schulz". Aus dem laut Schader "hervorragenden" Podcast, also einem Nur-Audio-Format, wurde inzwischen auch eine Mediatheken-orientierte Fernseh-Sendung mit Koryphäen à la Micky Beisenherz als Gästen. +++

+++ "Im Jahr 2022 ereigneten sich eine Reihe von Krisen und Katastrophen, die in den deutschen Nachrichten nicht oder kaum berücksichtigt wurden. Weder die eskalierende Gewalt und humanitäre Krise in Haiti, einem Land, das der UN zufolge am Rande des Abgrunds steht, noch die politische Krise und der landesweite Notstand in Peru oder der Militärputsch in Burkina Faso fanden große Beachtung. Ebenso peripher wahrgenommen wurden die 'Jahrhundertflut' in Pakistan...", schreibt Ladislaus Ludescher (zuletzt in diesem Altpapier als "notorischer 'Tagesschau'-Hauptausgaben-Auswerter" erwähnt) bei "Telepolis". "Wenn Katastrophen, die sich im Globalen Süden täglich ereignen, für alltäglich genommen werden und daher ihren Status als 'berichtenswerte' Nachrichten verlieren, bedeutet dies ein hohes Gefahrenpotenzial für die Ausgewogenheit der medialen Berichterstattung." +++

Das nächste Altpapier erscheint am Dienstag von Christian Bartels.

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