Kolumne: Das Altpapier am 19. September 2023 100 Jahre und wie weiter?
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19. September 2023, 10:57 Uhr
Das große Jubiläum des Radios wirft eher Schatten voraus als dass es Jubel auslöst. Huch, hebelt "Business Insider" ein ARD-Erfolgsrezept aus? Macht KI Journalisten überflüssiger, aber Archive wertvoller? Außerdem: Adé, "Oxi". Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Anschwellende Diskussionen rund ums Radio
Ein großes Massenmediums-Jubiläum nähert sich. Am 29. Oktober 1923 ging, "Achtung, Achtung ...", das Radio in Deutschland regulär auf Sendung und hat seitdem nicht aufgehört. Wer sich noch gründlich ins Thema reinlesen möchte, könnte bei der Bundeszentrale für politische Bildung das 280 Seiten schwere Buch "100 Jahre Radio in Deutschland" für nur 7 Euro bestellen.
Passend dazu schwellen die Diskussionen um Gegenwart bzw. Zukunft des Radios an. Im "FAZ"-Feuilleton geht's heute gleich doppelt darum. Die Medienseite berichtet über eine Diskussionsveranstaltung beim Hörspielfestival in Berlin (das dieses Jahr mal nicht vom Berliner Senat gefördert wurde und nur daher einen Tag statt wie einst vier Tage dauerte). Ausgetauscht wurden die bekannten Argumente. In der ARD-Audiothek "ist kaum etwas so erfolgreich wie das Hörspiel. Die Produktionen machen zwar nur einen einstelligen Prozentsatz der Inhalte aus, sorgen aber für mehr als ein Drittel aller Abrufe", schreibt Kira Kramer. Andererseits aber stünden sich "Klickerfolg und Kunstfreiheit ... unvereinbar gegenüber", zitiert sie den Hörspielmacher Björn SC Deigner. Der Trend gehe dahin, vor allem das zu beauftragen, was gut klickt – sozusagen die Krimiflut aus dem linearen Fernsehen mit Radio-"Tatorten" ins akustische Medium zu verlängern.
Noch wesentlich grundsätzlicher haut vier Seiten davor im Feuilleton-Aufmacher Thomas von Steinaecker auf die Pauke, der als Schriftsteller sowie "Mitinitiator des Künstlerprotestes gegen die geplante Kulturprogrammreform" des Bayerischen Rundfunks vorgestellt wird. Um das Thema ging es schon recht oft im Altpapier; um die Protestpetition etwa hier.
"Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen, ob nun bei HR, WDR oder eben jüngst BR, immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird. Im Jargon des BR-Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es dann, man wolle 'noch mehr Hörerinnen und Hörer' gewinnen, sprich: Bisher waren es ihm viel zu wenige. Und angesichts der Streichungen scheint das Vertrauen eines Kulturdirektors in das öffentliche Interesse an Lesungen, Kulturkritik und Essays, die länger als die magische Häppchenzeit von drei Minuten dreißig dauern, auch verschwindend gering zu sein",
schreibt der Schriftsteller und kritisiert überdies "eine Totalverweigerung gegenüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt". Dazu bringt er Beispiele aus der Zeit, in der "Deutschland ... zum international einzigartigen Radioland" geworden sei. Als etwa der damals noch (und inzwischen ja wieder) ziemlich unbekannte Arno Schmidt und der kürzlich hochbetagt verstorbene, daher noch bekannte Martin Walser sich zur besten Sendezeit zofften. 1953 war das, also noch in der ersten Hälfte der 100-jährigen Geschichte des Mediums.
"Radio war - vor allem wegen der Musiksendungen - vor 40 oder 50 Jahren das junge Medium schlechthin", schreibt in der aktuellen "epd medien"-Ausgabe der Radiojournalist Stefan Müller und geht der Frage nach, was davon aktuell noch Bestand hat. Immerhin ein bisschen ... Und als spiegel.de sich vorige Woche sowohl bei einer Münchner Protestdemonstration gegen die BR-Radio-Pläne als auch in der Anstalt umhörte, hörte es da von einer lieber anonym gebliebenen Redakteurin den Satz "Das ist ein Aufstand alter Leute".
Es wird inzwischen also immerhin kräftig diskutiert übers Radio. Was genau der öffentlich-rechtliche Rundfunk, aus dem ja, jung oder alt, niemand austreten kann, darin leisten sollte und muss – und was nicht, weil es das bei den immer mehr Wettbewerbern ebenfalls, oft besser gibt – verdient tatsächlich im Angesicht der historischen Dimension diskutiert zu werden.
"ARD-Geheimnis" gelüftet
Im "FAZ"-Feuilleton mokiert sich von Steinaecker auch noch über den "zauberwortartigen Begriff ... 'niedrigschwellig'".
Niedrigschwellig Menschen für Politik interessieren? Da sind Polit-Talkshows ein beliebtes Mittel, in denen gut wiedererkennbare Gesichter in immer leicht variierten Runden beieinander sitzen und innerhalb vorhersehbarer Meinungsspektren nie ganz genau dasselbe besprechen. Zum Erfolgsrezept öffentlich-rechtlicher Talkshows gehört ganz besonders, dass die prominenten Moderatoren über viele Jahre hinweg verlässlich an ähnlichen Terminen auf Sendung gehen – und dass sie ihre Sendungen mit eigenen Firmen selber produzieren, weshalb die Kosten zwar von Gremien abgenickt werden müssen, aber geheim bleiben können.
Konnten, muss das wohl heißen. Dieses Erfolgsrezept hat nun offenbar zumindest auf ARD-Seite businessinsider.de ausgehebelt und titelt: "So viele Millionen kosten 'Anne Will', 'Maischberger' und 'Hart aber fair'". Das Springer-Medium, das sich in Medien-Dingen ja einen Namen durch RBB-Enthüllungen zu einem Zeitpunkt machte, als in der ARD noch fast alle Patricia Schlesinger für eine Lichtgestalt hielten, hat sich nun Einblick in "eines der bestgehüteten Geheimnisse der ARD" verschafft. Die harten Zahlen holte turi2.de hinter der Bezahlschranke hervor.
Das ist brisanter Diskussionsstoff für die Herbstsaison der Öffentlich-Rechtlichen-Diskussion und dürfte noch unter vielen Aspekten spannend werden. Nicht nur unter dem, ob nun, da sie wissen, dass man für vielleicht bloß sieben Millionen Euro im Jahr einen Plasberg einkaufen könnte – die Zahlen beziehen sich auf die jüngere Vergangenheit – RTL-Boss Thomas Rabe oder ZDF-Intendant Himmler (der über sicherere Einnahmen verfügt) unserer ARD womöglich ihre Polit-Zugpferde abspenstig machen.
Mehr Diskussionen über KI & Medien
Oder tauschen statt den Röttgens, Strack-Zimmermanns, Nouripours und manchmal einer Wagenknecht mit echt anderer Meinung in Kürze noch markantere Avatare (deren Aussehen Zuschauer womöglich auch nach eigenem Geschmack justieren können) in den Talkshows Argumente aus? Was Künstliche Intelligenz für den Medienbetrieb bedeutet, wird ebenfalls emsig diskutiert. Zumal seit Mathias Döpfners wunderlicher, aber sympathischer Hin- und Hergerissenheit am Wochenende (AP gestern).
"Döpfner scheint das komplexe Thema künstliche Intelligenz und 'Large Language Models' nicht ganz verstanden zu haben" und hätte besser mal die DJV-Digitalkonferenz, die gerade stattfand, besuchen sollen, schimpft Paul Eschenhagen von der Journalistengewerkschaft. Und kaum, dass Journalistik-Professor Klaus Meier bei anderer Gelegenheit Medien riet, jeglichen Einsatz von KI "für die Nutzer transparent und verständlich" zu kennzeichnen, stellt die "SZ" als "feuchten Traum jedes geldgierigen Verlegers" Klara Indernach vor – eine vermeintliche Mitarbeiterin des Kölner Boulevardmediums "Express", bei der es sich trotz eines (je nach Gusto, natürlich) ansprechend gestalteten Porträtbilds um KI handelt. Wie freilich auch in der Vita drinsteht ...
Pointiert zu den Fragen, die auch Döpfner umkreiste, berichtet die "Neue Zürcher Zeitung". Das Problem klassischer Medien, im Internet überhaupt Geld zu verdienen,
"wird sich mit künstlicher Intelligenz deutlich potenzieren. Sogenannte generative KI, die aus journalistischen Inhalten ihre eigenen, neuen Inhalte erschafft, ist die grösste Bedrohung für die Geschäftsmodelle in der Medienbranche seit dem Start des Web. Wenn die Verlage schon Probleme damit haben, an den Besuchern ihrer Websites genügend Geld zu verdienen – was soll dann werden, wenn die Leser dereinst gar nicht mehr auf die Websites kommen? Dies deshalb, weil die KI-Eingabemaske bei Google oder einem anderen Suchportal ihnen schon alle Informationen liefert."
Wobei US-amerikanische Medienkonzerne, unter denen die "NZZ" neben "New York Times" und Murdochs News Corp. auch wieder Springer nennt, das ja in den USA stark vertreten ist, andererseits daran arbeiten, "die Nutzung ihrer Inhalte durch KI für sich zu monetarisieren", und erkannt hätten, dass ihre Archive "plötzlich einen wirtschaftlichen Wert" besitzen: "Das AP-Archiv ist ideales Trainingsmaterial" – womit die "NZZ" nicht das Altpapier-Archiv meint (das freilich auch ziemlich ideales Material bietet ... ), sondern das der Nachrichtenagentur Associated Press.
Adé, "Oxi"
Bedrucktes Papier ist ein noch viel älteres Massenmedium als das Radio. Auch daher lässt sich noch klarer sagen, dass es seinen Höhepunkt überschritten hat. Viele Papier-Medien sind in Gefahr. Auch wenn "Katapult" sich gerade wohl rettete (Altpapier, heute auch "FAZ"-Thema). Gar wohl nie in Gefahr geriet das Magazin "Das Wetter", dessen Macher zum Zehnjährigen "mit über 30 Ausgaben" die "taz" interviewte. Verlegerin Katharina Holzmann fordert dabei lässig "Förderungen für unabhängige Verlage".
Ein monatliches Druckmedium erschien nun leider zum letzten Mal. Angesichts des großen Bohei, das Medien weiterhin um sich machen (gerne freilich in den sogenannten sozialen Medien, die Aufmerksamkeit mindestens so sehr ablenken wie schaffen), erstaunt, wie leise die Geschichte der Zeitung "Oxi" ausklingt (Altpapierkorb). Ich hatte das Blatt voriges Jahr hier so charakterisiert:
"Es ist eine oft ausnehmend schön gestaltete Papier-Zeitung, die bei der Illustration nicht dem Prinzip folgt, die gerade neben den Fotos stehenden Artikel zu bebildern, was manchmal etwas verwirrt, aber oft schön aussieht. Vom Problem der unmittelbaren Aktualität, bei der gedruckte Zeitungen Onlinemedien ja notwendig hinterherhinken, je kleiner sie sind, desto noch mehr, hat sie sich idealtypisch gelöst, indem jede Ausgabe ein Thema umkreist und den Anspruch, im engen Sinn aktuell zu sein, gar nicht verfolgt. "
Geholfen hat das nicht, nachdem das "Neue Deutschland", das sich inzwischen ja "nd" nennt, im Zuge der allgemeinen Krise der Linkspartei die Verträge kündigte. "Gekämpft und doch verloren" lautet die Titelzeile der letzten Ausgabe, die sich ebenfalls zu lesen lohnt, auch weil es um die Geschichte dieses verlorenen Kampfes geht. In der sinnvollen Interview-Reihe "Lassen Sie uns über Ökonomie reden" (in der immer Nicht-Manager über ökonomische Dinge befragt wurden, die tatsächlich ja nicht nur Manager, sondern alle Menschen betreffen) sagt Kathrin Gerlof, eine der zentralen "Oxi"-Macherinnen, nicht nur:
"Und ehrlich gesagt, wenn man anderen Leute die Summe nannte, mit der wir monatlich diese Zeitung gemacht haben, fielen die wahlweise in Ohnmacht oder sagten: Ihr spinnt, das geht doch gar nicht. Es ging ..."
Sondern auch:
"Es gibt wirklich viele und auch wirklich gute Wirtschaftszeitungen. Aber Tatsache ist: Diese anderen Sichtweisen finden dort so gut wie gar nicht statt. Im Prizip gibt es eine herrschende Sicht der Dinge ... Man muss dialektisch an die Dinge herangehen. Dialektisch heißt auch, dass ich nicht nur eine einzige Sichtweise als die einzig wahre nehme, dass ich alles betrachten, mir anschauen muss, ob das, was mir immer erzählt wird, den Realitätscheck übersteht."
Das sollten, völlig unabhängig von Marxismus-Fragen, auch und gerade öffentlich-rechtliche Medien beherzigen. Dialektik bedeutet nicht noch mehr Regionalkrimis. Und so ein Realitätscheck ist nicht dasselbe wie der "Faktencheck", der zum Portfolio aller millionenschweren Talkshow-Produktionsfirmen gehört. Adé, "Oxi".
Altpapierkorb (Millionenstrafe für Tiktok, Sky vs. "Sportschau", ARD und ZDF konkurrieren linear (!) um junges Publikum)
+++ "Irische Datenschutzbehörde kann auch anders", staunt netzpolitik.org, dass "die sonst eher für ihre plattformfreundliche Haltung bekannte irische Datenschutzbehörde" Tiktok wegen mangelnden Kinder-und Jugendschutzes zu einer 345 Millionen Euro-Geldstrafe verurteilte. +++
+++ Der Sportvorstand der Plattform Sky, Charly Classen, möchte die ARD-"Sportschau" von 18.00 Uhr weiter in den Abend verschieben, wenn nämlich das sog. "Topspiel", das immer um 18.30 Uhr angepfiffen wird, zu Ende gespielt ist, sagt er im dwdl.de-Interview. Wobei das deutsche Sky, das seine US-amerikanischen Eigentümer verkaufen wollten, auch arg unter Druck steht. +++
+++ "Einen besseren Film ... hat uns die ARD dieses Jahr noch nicht gezeigt", schreibt Heike Hupertz in der "FAZ" zu Alexander Adolphs "Flunkyball", der linear am morgigen Mittwoch um 20.15 Uhr läuft. +++ Ausgerechnet da bringt das ZDF auch mal eine Sendung für Ü-60-Publikum: "Lass dich überwachen!" mit Jan Böhmermann! +++ "Jan Böhmermann mag es, wenn der Name – Jan Böhmermann – richtig geschrieben in den Medien steht: Jan Böhmermann. Das macht die Position von Jan Böhmermann verständlich, dass ein Jan-Böhmermann-Skandal ordentlich Welle machen soll; auch wenn er nicht unter jede fast fertige Recherche seinen Namen setzten möchte: Jan Böhmermann", sagte Friedrichs Küppersbusch in der "taz" übrigens. +++ "Müssen Böhmermann und das ZDF dem ehemaligen BSI-Chef Schmerzensgeld zahlen?", lautet das Thema der aktuellen uebermedien.de-Podcast-Folge (in der Interviewer Holger Klein seine Stimme sich überschlagen lässt, dass Böhmermann seine helle Freude dran hätte, Gesprächspartner Felix W. Zimmermann von der "Legal Tribune Online" alles aber dennoch kundig einordnet). +++ Und wer sich für Kritik am immerhin unberechenbaren Kampagnen-Comedian des ZDF interessiert, könnte dann auch noch "Halt mal Distanz zum Staat, Digga!", die "Telepolis"-Replik auf Böhmermann-Äußerungen, lesen. +++
Das nächste Altpapier kommt am Donnerstag von René Martens (da das Altpapier ja beim MDR-Landesfunkhaus Thüringen erscheint und dort am Mittwoch mit dem Weltkindertag ein gesetzlicher Feiertag ist).