Das Altpapier am 14. Juni 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 14. Juni 2022 Mehr Demokratisierung wagen

14. Juni 2022, 10:10 Uhr

... ausgerechnet à la Youtube? Ein ziemlich visionärer Vortrag zur digitalen Öffentlich-Rechtlichen-Zukunft. Nicht so visionär: wer in der nicht mehr neuen Bundesregierung netzpolitisch die, äh, Federn führt. Außerdem: eine Deadline womöglich im Wortsinn; eine Monatszeitung bittet um Aufmerksamkeit. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Wer in der Bundes-Digitalpolitik nun alles mitredet

In Berlin war wieder re:publica (Altpapier) nebst angeschlossener Konferenzen, zu denen außer der längst auch traditionsreichen Tincon für junge Leute ("teenageinternetwork conference") noch eine neue um "das geschriebene Wort" zählt. Und hach, es muss wieder schön gewesen sein. "Eine Ausstrahlung von Glück wie schon sehr lange nicht mehr", schreibt Thomas Knüwer in einem indiskretionehrensache.de-Beitrag, an dessen Rande, wie es sich im geschriebenen Onlinejournalismus verhielt und -hält, sichtlich handgetippte Fehlerchen ("Luisa Neubaer") den Authentizitäts-Anschein bloß erhöhen.

Viel Politik gab es auf der re:publica. Neben dem breit beleuchteten Bundeskanzler-Auftritt (zu dem den vielleicht hämischst-härtesten Kommentar die "Wirtschaftswoche" aus der Verlagsgruppe Handelsblatt hatte) haben, immerhin, diverse Mitglieder der Bundesregierung mitgeteilt, dass sie EU-Kommissions-Plänen (Altpapier) für eine "Chatkontrolle" nicht zustimmen werden.

Die noch amtsjunge neue Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen tat's auf der Tincon (netzpolitik.org). Verkehrs-/Digitalminister Wissing bekam sogar auf der re:publica Applaus, obschon er ja der FDP angehört ("FAZ"). Und näher auszuführen, dass Innenministerin Faeser (SPD) ihre Ablehnung in einer "Markus Lanz"-Show äußerte, in der sie mit Chaos Computer Club-Sprecher Linus Neumann gastierte ... , würde wohl zu weit führen.

Jedenfalls: Nachdem auch noch mal eco, der sympathischere unter den beiden großen deutschen Internet-Wirtschafts-Verbänden, das sich anbahnende "Klein-Klein sowie Kompetenzgerangel" in der Bundesregierung anmahnte, wurde nun endlich auch der netzpolitische Ressortzuschnitt, auf den sich die Ampel-Parteien "nach äußerst zähen Verhandlungen" geeinigt haben, publik. Und zwar in einem "Tagesspiegel"- Background-Newsletter, wie netzpolitik.org meldet. Ungefähr sämtliche, zum Regierungsstart ja weiter aufgebläh... vergrößerte Ministerien und damit alle beteiligten Parteien reden weiterhin mit, das Bundeskanzleramt überdies. Dass ernsthaft der Begriff "Hauptfederführung" bemüht wird, der so zu verstehen ist, dass es mindestens eine Nebenfederführung geben wird, deutet darauf, dass das Klein-Klein wieder neu institutionalisiert zu werden scheint.

Öffentlich-Rechtlichen-Internet: ARD-Kritik, ZDF-Schwung

Das Otto-Brenner-Stiftungs-Arbeitsheft "Journalismus in sozialen Netzwerken – ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?" war in so ziemlich allen Altpapieren der vorigen Woche Thema, zuletzt in diesem. Jetzt ist es es noch mal.

Zum einen, weil Verfasser Henning Eichler ebenfalls auf der re:publica war (und da "ein wenig niedergeschlagen" klang, wie mmm.verdi.de, wie die OBS gewerkschaftlich, meinte). Aber auch, weil es sich beim "Heft" um ein über 100 DIN A 4-Seiten pralles Werk handelt, das komplett durchzulesen lohnt (und hier als PDF runterladbar wie auch auf Papier bestellbar ist). Zum Beispiel bringt Eichler die vertrackte Dialektik der sog. soz. Medien und der Diskussion über sie auf den Punkt:

Selbstverständlich...

"können Medienorganisationen nicht darauf verzichten, auf kommerziellen Drittplattformen präsent zu sein, da sich diese zu relevanten Umgebungen und Faktoren der öffentlichen Meinungsbildung entwickelt haben – eine Entwicklung, die wiederum durch die dortige Präsenz der Medienorganisationen verstärkt wird." (S. 15)

Haben die Öffentlich-Rechtlichen diesen Verstärkungs-Effekt im Blick (und dass mit Stärkung meist auch eine Schwächung anderswo einhergeht)? Eichler sprach mit allerhand Öffentlich-Rechtlichen-Vertretern und erfuhr etwa von 2021 neu gegründeten "Partnermanager-Boards", die "die Interessen der ARD gegenüber Drittplattformen vertreten und Medienkooperationen mit ihnen ermöglichen" sollen, worüber die zahlreichen ARD-Pressestellen bislang kein Wort verloren. Wobei dieses koordinierte Vorgehen aber nur für die von der ARD selbst so genannten "Big Five" ihrer Online-Aktivitäten, also "Tages-" und "Sportschau", Media- und Audiothek sowie Kika, gelte. Für die zahlreichen weiteren Online-Aktivitäten der Anstalten konstatiert Eichler "eine weiterhin indifferente Ausrichtung der ARD" (S. 24 jeweils). Womit die ARD-Kritik der OBS-Studie noch keineswegs erschöpft ist...

Aber es bewegt sich was im öffentlich-rechtlichen Diskurs. Wiederum auf der re:publica hat der relative Hoffnungsträger, der bald ehemalige ZDF-Fernsehrat Leonhard Dobusch, einen ziemlich visionären Vortrag gehalten. "Weniger Netflix, mehr YouTube und Wikipedia: Zur Demokratisierung öffentlich-rechtlicher Medien", hieß er und ist auf netzpolitik.org ... weniger nachzulesen als via Youtube anzusehen oder auf Folien nachzuempfinden. Auch das lohnt sich, schon weil Dobusch mehrmals unwillkürlich an Eichlers Studie anknüpft.

Etwa den erwähnten Verstärkungs-Effekt: Dobusch kritisiert, "dass das ZDF sein Publikum für die Interaktion auf eine kommerzielle Plattform schickt". Nämlich dass, so sein Beispiel, von den oft guten Diskussionen über oft diskutable Böhmermann-Shows Youtube profitiert, und die ZDF-Mediathek, die eigentlich die erste Adresse für den Abruf der Shows sein sollte, gerade nicht, weil dort gar nicht kommentiert werden kann. Und das, obwohl die Bedeutung von Nutzer-Kommentaren von ÖR-Vertretern öffentlich stets "abgefeiert" wird. Das solle sich ändern, fordert er unter dem Schlagwort "Demokratisierung".

Klar lässt sich dazu vieles ergänzen, was Dobusch oft tut, etwa dass Kommentare teure Moderation erfordern (die das ZDF auf Youtube ja leistet). Da bringt das Fernsehrats-Mitglied sogar ins Spiel, wenn ich es recht verstand, dass das ZDF ja eine Krimiserie weniger produzieren könnte. (Und falls jemand mit langem Gedächtnis sich an Ideen des Medienwissenschaftlers Hermann Rotermund erinnert fühlt, wie sie etwa in diesem Altpapier vorkamen und sich auf Rotermunds Webseite in "epd medien" downloaden lassen – auch darauf verweist Dobusch).

Noch ein wichtiger Punkt knüpft an die OBS-Studie wie auch an oft zitierte ÖR-Selbstdarstellungen an, in denen immer gesagt wird, die Anstalten wollten "auf allen relevanten Drittplattformen präsent sein". Womit dann, je nach Gusto, Youtube, Instagram, Facebook und Pipapo gemeint sind. Dobusch fragt: "Wie zur Hölle kann es sein, dass in dieser Aufzählung die Wikipedia nicht vorkommt?" Und hält für Einschaltquoten-Controller bzw., wie es in den sog. Social-Redaktionen wohl heißen müsste: Klicks- und Herzchen-Controller eine eindrucksvolle Views-Statistik über via Wikipedia abgerufene ZDF-Inhalte parat (im Youtube-Video bei Min. 22:40).

Hoffentlich kann Leonhard Dobusch, wenn er ab Juli im ZDF-Verwaltungsrat eine noch einflussreichere Position übernimmt, diesen Schwung mitnehmen. Und hoffentlich lassen die ARD-Anstalten und ihre zahlreichen Gremien sich vom in dieser Hinsicht vorauseilenden ZDF inspirieren.

Mord, Frist, Fanal

Leider längst regelmäßig muss es im Altpapier um Gewalt, häufig tödliche, gegen Journalisten gehen. Der vorige Woche im Altpapier "Verschollen in der Gesetzeslosigkeit" erwähnte britische Journalist Dom Phillipps und sein brasilianischer Begleiter Bruno Pereira sind im Amazonasgebiet tot aufgefunden worden, nachdem zuvor bereits diverse ihrer Gegenstände gefunden wurden. Das berichtet die "taz" via Reuters.

Der Begriff "Deadline" wird im Deutschen gerne in übertragenem Sinne gebraucht. Eine Deadline mit zu befürchtender wörtlicherer Bedeutung endet am Freitag. Bis dahin müsste die Innenministerin aus dem Kabinett des britischen Premierministers Boris Johnson (über den deutsche Medien oft berichten und fast so gern wie über sein Staatsoberhaupt, die Königin, aber immer aus völlig anderen Gründen) sich gegen eine Auslieferung entscheiden. Ministerin Priti Patel "hat das Leben von [Julian] Assange in der Hand", schreibt Constanze Kurz bei netzpolitik.org. Ansonsten gibt es nichts Neues im Fall Assange, aber genau das verdient Erwähnung.

Über alle...

"persönlichen Folgen hinaus wäre eine Auslieferung ein Fanal für Journalisten und Whistleblower, aber auch für Verleger, politisch Interessierte und letztlich jeden Zeitungsleser. Denn die Botschaft lautet: Wer es Assange nachmacht, unbestritten wahrhaftige Informationen veröffentlicht und Kriegsverbrechen, Folter und Völkerrechtsbrüche aufdeckt, der wird jahrelang verfolgt, verleumdet und regelrecht gejagt mit allen Mitteln, die den Vereinigten Staaten zur Verfügung stehen",

schreibt Kurz. Inzwischen wäre dieses Fanal vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu sehen. Will das wer?

Kleines Plädoyer für "Oxi"

Harter Schnitt: Die kleine, nicht sehr bekannte Monatszeitung "Oxi" erreicht ihre Abonnenten jeden Monat immer noch etwas später per Post, inzwischen als "Büchersendung" in einem unscheinbaren, geschlossenen Umschlag. Nun schrieb das Blatt, das es online als oxiblog.de gibt, einen längeren Brief an seine Leser. Darin heißt es:

"Unser kleines Budget macht manchmal Entscheidungen notwendig, die wir nicht schön finden, aber auch nicht ändern können. Deshalb zum Beispiel kann die Zeitung heute nicht mehr am Kiosk gekauft werden, ist stattdessen nur noch in einigen ausgewählten Buchhandlungen erhältlich. Umso mehr brauchen wir die Unterstützung derer, die uns regelmäßig lesen und abonniert haben. Wir bitten Sie deshalb auch darum, über uns zu sprechen, anderen von uns zu erzählen ..."

Entfaltet es noch Werbewirkung, in einem der Zeitungsläden – deren Zahl ja auch immer weiter schrumpft – auszuliegen? Jedenfalls: Okay, ein paar Sätze zu "Oxi" (für die ich einmal einen Artikel schrieb, mit der ich aber nichts zu tun habe). Es ist eine oft ausnehmend schön gestaltete Papier-Zeitung, die bei der Illustration nicht dem Prinzip folgt, die gerade neben den Fotos stehenden Artikel zu bebildern, was manchmal etwas verwirrt, aber oft schön aussieht. Vom Problem der unmittelbaren Aktualität, bei der gedruckte Zeitungen Onlinemedien ja notwendig hinterherhinken, je kleiner sie sind, desto noch mehr, hat sie sich idealtypisch gelöst, indem jede Ausgabe ein Thema umkreist und den Anspruch, im engen Sinn aktuell zu sein, gar nicht verfolgt. In der aktuellen Ausgabe geht es um Streiks. Übrigens man kann "Oxi" auch gut lesen, wenn man nicht so links steht, wie die Zeitung sich versteht – nicht nur, weil fundierte andere Meinungen ja auch interessant sind, sondern schon, weil Wirtschafts-Themen jenseits der politischen (und Unternehmens-) Agenden in ungefähr sämtlichen anderen Medien viel zu selten auftauchen angesichts der Bedeutung, die sie haben.


Altpapierkorb (Aufregung bei MDR & Deutscher Welle, Sievers bei Selenskyj, Telegram, Hirschhausen Media, HinSchG, analoge Fotografie)

+++ Anstalten-Aufregung, die bis in die Intendanz durchschlagen könnte I: bei unserem MDR. In dessen Rundfunkrat sowie im Landtag Sachsen-Anhalts herrsche "Aufregung wegen dreier Studien", schreibt die "FAZ" (€). Nicht, weil sie recht teuer waren, das geschieht in den Gremien ja häufig, sondern weil ihr Autor Ralf Seibicke der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks) angehörte. "Es war sicher unklug vom MDR für Gutachten zu Finanzfragen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein aktives KEF-Mitglied zu beauftragen, da der Eindruck entstehen könnte, dass sich der Sender Goodwill erkaufen wollte", meint Helmut Hartung. Und äußert die Vermutung, dass Widerstand aus Sachsen-Anhalt eine Wiederwahl der MDR-Intendantin Karola Wille, falls diese eine anstrebt, erschweren könnte.

+++ Anstalten-Aufregung, die bis in die Intendanz durchschlagen könnte II: bei der Deutschen Welle, dem im Inland gesetzesgemäß ziemlich unbekannten Auslandssender. Die "SZ"-Medienseite (€) gibt einen Überblick über die – deutlich größeren – Baustellen. Außer um anfechtbares Kunst-Engagement (siehe vice.com) geht es um die Antisemitismus-Vorwürfe: "Als die Deutsche Welle bei der Vorstellung des Abschlussberichts von [Sabine] Leutheusser-Schnarrenberger und [Ahmad] Mansour die Trennung von Redaktionsmitgliedern bekannt gab, zog ein Shitstorm über dem Sender auf, der zuweilen Orkanstärke erreichte: Einige der Gekündigten inszenierten sich in arabischen Medien als Opfer einer pro-israelischen Meinungsdiktatur – und die Deutsche Welle reagierte kaum. Auch weil der Abschlussbericht weder auf Arabisch publiziert, noch erläutert wurde, dass die Äußerungen der Mitarbeiter weit über Israelkritik hinausgingen, hat sich im Netz ein Narrativ etabliert, das vielleicht auch Auswirkungen auf die Reichweite hat", die Intendant Limbourg doch so wichtig ist.

+++ Telegram wird kostenpflichtig bzw. Werbeträger, berichtet auch die "SZ" im Wirtschaftsressort.

+++ Im österreichischen ORF können Redakteure künftig "ihren Chefs eine Missbilligung aussprechen", berichtet die "FAZ". +++ Die außerdem den kürzlich nicht mit 90, sondern in höherem Alter verstorbenen Michael Degen gegen Bild"-Zeitungs-Vorwürfe verteidigt.

+++ "Was hat das mit Ihnen gemacht?" – ist das eher eine Markus-Lanz- oder eine Paul-Ronzheimer-Frage? Jedenfalls auch die erste, die "heute journal"-Hauptmoderator Christian Sievers Präsident Selenskyj im (dennoch sehenswerten) Interview stellte ...

+++ Frank Plasberg wird noch medienmoguliger und gründet über seine Fernsehproduktionsfirma mit einem beliebten Kollegen das Gemeinschaftsunternehmen Hirschhausen Media (dwdl.de). Bleibt die Frage, ob RTL, bei dessen Gruner+Jahr von Hirschhausen ja Editor-at-large ... nein: "Kopf und Chefreporter" eines "Stern"-Ablegers ist, den umtriebigen Entertainer denn nicht haben wollte.

+++ Oh, mal kein Anglizismus. "HinSchG" steht für das geplante Hinweisgeberschutzgesetz, also Whistleblower-Gesetz, dessen Entwurf Daniel Moßbrucker bei "epd medien" kritisiert.

+++ Und wie der versteigerungs-Rekordpreis für analoge Fotoapparate sich vom bisherigen Wert 2,4 Millionen Euro überraschend versechsfachte, berichtet der "Standard" aus der mittelhessischen Mittelstadt Wetzlar (die in der Geschichte solcher Geräte eine relativ wichtige Rolle spielt): "Analoge Fotografie könnte ... eine glänzende Zukunft vor sich" haben.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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