Das Altpapier am 20. Oktober 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 20. Oktober 2023 Mehr Propaganda als sich entlarven lässt

20. Oktober 2023, 10:12 Uhr

Auf Waffen montierte Kameras, Vor-Ort-Berichte von "Bürgerjournalisten": Die Propagandamaschinerie der Hamas ist in vollem Gange – und zielt auf uns alle. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Den Toten bei der Berliner Demo gab es nicht

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel haben wir im Altpapier aus diversen Blickwinkeln beleuchtet, wie Medien darüber berichten. Was aber ist mit den Menschen, die diesen mühsam recherchierten Journalismus gar nicht konsumieren? Mein Deutschlandfunk-Kollege Panajotis Gavrilis war am Mittwochabend bei einer so genannten pro-palästinensischen Demo in Berlin und berichtet über Teilnehmende, die er getroffen hat (Audio):

"Sie geben an, sie würden sich im Internet informieren und nun stünden sie hier auf der Straße – auch, weil sie den Fake News glauben."

Mit "Internet" kann alles und somit auch das Nachrichtenportal der "Tagesschau" gemeint sein. Wahrscheinlicher ist aber, dass viele Menschen, die eine persönliche Verbindung in den Nahen Osten haben, vor allem Inhalte konsumieren, die direkt aus der betroffenen Region stammen – was ja auch naheliegend ist.

Aber die Falschmeldungen betreffen nicht nur das Kriegsgeschehen. Ein 13-Jähriger sei bei der Demo von der Polizei angegriffen worden und verstorben, lautete eine Nachricht, die in Berlin im Umlauf war. Laut heutiger Print-Ausgabe des "Tagesspiegel" wurde das Gerücht unter anderem von einem Instagram-Kanal mit 86.000 Fans verbreitet.

"Die Polizei sah sich gezwungen, darauf zu reagieren und erklärte: 'Das ist ein Fake.' Tatsächlich ist der Junge laut Feuerwehr 16 Jahre alt und war zu keiner Zeit in Lebensgefahr."

Nachdem er Steine auf Polizeikräfte geworfen hatte, habe er bei der Festnahme Widerstand geleistet und sei später "leicht benommen" gewesen, ist im "Tagesspiegel" zu lesen, wohl nach Auskunft der Polizei.

Nun lässt sich keine direkte Verbindung ziehen zwischen dem Ausmaß der Berliner Ausschreitungen und der Verbreitung von Falschmeldungen, die gezielt Stimmung machen sollen – in diesem Fall gegen die Polizei und womöglich auch die Bundesrepublik als Ganzes. Wer sich entscheidet, auf der Straße zu randalieren, tut das aus vielen Gründen, aber wohl in den seltensten Fällen wegen ein paar Social-Media-Posts.

Aber natürlich tragen falsche Inhalte langfristig zu einer Radikalisierung auch derer bei, die vorher nicht radikal waren. Und in einem zweiten Schritt wird jede Lösungsfindung, jeder Konsens unmöglich, wenn nicht einmal eine gemeinsame Faktenbasis besteht – das gilt für die Debatten in Deutschland genauso wie für den Nahost-Konflikt als Ganzes. Schon letzte Woche hat die EU-Kommission diverse Plattformen verwarnt, auch weil sie Falschinformationen verbreiten (Tagesschau). Gegen X ermittelt sie inzwischen (Spiegel online). Nun hat sie den Druck noch einmal erhöht und erwartet von Meta und TikTok Antworten auf einen Fragenkatalog bis zum 25. Oktober (Handelsblatt).

Falsche Reporterin, Lynchmord aus Guatemala

Das getroffene Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt war hier gestern schon ausführlich Thema (Altpapier) und ist nur ein Beispiel für die Informationsschlacht, die tobt. Michael Hanfeld zeichnet in der heutigen FAZ die "Etappen im Propagandakrieg" noch einmal nach:

"Das vermeintliche Zeugnis der angeblichen Al-Jazeera-Journalistin Farida Khan, sie habe mit eigenen Augen gesehen, dass eine Hamas-Rakete am Krankenhaus explodiert sei, hat sich derweil als Fälschung entpuppt. Man beschäftige keine Reporterin dieses Namens, teilte der Sender mit. Der X-Account von 'Farida Khan' ist inzwischen verschwunden. Aufnahmen, die zeigen, wie ein Mob eine junge Frau bei lebendigem Leib verbrennt, stammen, wie die Faktenchecker der Agentur Reuters herausgefunden haben, nicht aus Israel vom 7. Oktober, sondern zeigen einen Lynchmord, der in Guatemala im Jahr 2015 verübt wurde."

Ebenfalls erwähnenswert:

"Nachdem die israelische Regierung Bilder getöteter Israelis veröffentlicht hatte (…), wies ein kostenlos erhältliches 'KI-Detektor'-Programm namens 'Tools AI or Not' diese als vermeintlich von Künstlicher Intelligenz erstellt aus. Das war Wasser auf die Mühlen der Massaker-Leugner, aber, wie die Rechercheplattform '404 Media', die ehemalige 'Vice'-Journalisten betreiben, darlegte, ein Fake."

Mit ihrer Propaganda würde die Hamas wie Putin auf einen Zustand der Verwirrung abzielen, in dem Wahrheit und Lüge nicht mehr zu unterscheiden seien, schreibt Hanfeld. Es reiche aus, wenn am Ende Aussage gegen Aussage stehe.

Ein Account macht noch keinen Journalisten

Mit dem, was nun in sozialen Medien kursiert, beschäftigen sich auch Philipp Bovermann und Léonardo Kahn in einem lesenswerten Text in der SZ. Die mediale Inszenierung sei von Anfang an Teil der Angriffspläne der Hamas gewesen, zitieren sie Monika Hübscher, die an der Universität Haifa zu Antisemitismus in sozialen Medien forscht.

"Die Waffen der Terroristen waren mit Kameras ausgestattet, die Videos wurden innerhalb weniger Stunden geschnitten und auf Telegram-Kanälen hochgeladen."

Während die Terror-Videos des IS früher noch in versteckten Ecken des Internets erschienen oder schnell gelöscht worden seien (siehe auch dieses Altpapier), seien Gewaltvideos nun omnipräsent im Netz, schreiben Bovermann und Kahn. Der Einfluss journalistischer Inhalte würde hingegen schwinden. Das habe auch mit Entscheidungen bei den großen Plattformen zu tun: dass Meta zum Beispiel Posts von Nachrichtenmedien weniger prominent platziert und Elon Musk bei X eine wirre Verifikationsstrategie verfolgt.

Stattdessen gibt es "Bürgerjournalisten", also Menschen, die ihre eigenen Eindrücke teilen. Zu diesem Thema äußert sich der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im "Tagesspiegel", in einem Interview, in dem es eigentlich um die Zukunft von X geht. Der von Elon Musk propagierte "Citzen Journalism", bei dem jeder sich als Journalist fühle, hat aus seiner Sicht mit Journalismus nichts zu tun:

"Das ist ein Missverständnis, basierend auf der Idee, dass einen allein die Tatsache, dass man veröffentlicht, auf irgendeine magische Weise in einen Journalisten verwandelt. Aber mit Verlaub: Das ist netz-utopistischer Nonsens. Journalismus ist idealerweise wertegeleitetes Publizieren, ein Beruf mit Ausbildung und Regeln, Sorgfalt und Skepsis. Und das alles bedeutet natürlich viel mehr als nur zu posten – es heißt Quellen zu prüfen, unabhängig zu berichten, Propagandavideos einzuordnen."

Die Autoren des SZ-Textes warnen am Ende ihres Artikels noch davor, zu glauben, man selbst sei immun gegen diese Form der Propaganda. Und das ist ein wichtiger Punkt: Letztendlich tragen wir mit unseren Klicks, Likes und Views alle dazu bei, welche Stimmen in der Propagandaschlacht besonders laut zu hören sind.

Personalwechsel bei ProSiebenSat.1

Und damit ein harter Themenwechsel: Von ProSiebenSat.1 gab es gestern Neuigkeiten in Sachen Umstrukturierung (Pressemitteilung). Diverse Führungspositionen werden in den kommenden Wochen neu besetzt. Am meisten Aufmerksamkeit bekam der Abgang von Daniel Rosemann, der bislang die beiden Sender ProSieben und Sat.1 führte und sich dort vor allem auch für Informationsinhalte stark machte, wie in der Analyse von Alexander Krei bei DWDL nachzulesen ist. Die beiden Sender bekommen nun je wieder eine eigene Spitze, beide Posten werden aus den eigenen Reihen besetzt. Einen Überblick über alle Personen, die kommen und gehen, findet sich ebenfalls bei DWDL.

Das Ganze ist Teil einer großen Umstrukturierung der Sendergruppe, die Vorstandschef Bert Habets seit seinem Antritt vor einem knappen Jahr vorantreibt. Dabei will er nun auch selbst anpacken, indem er die Geschäftsführung der Seven.One Entertainment Group übernimmt. Zur neuen Strategie beim Fernseh-Sorgenkind Sat.1 sagt er im Interview mit DWDL, Ziel sei es, mehr "verlässliche Sehgewohnheiten" zu etablieren:

"Ob es ums Kochen oder Quizzen geht: wir müssen unsere Zielgruppe die Chance geben, sich daran zu gewöhnen."

Einen Kurswechsel gibt es auch beim Streaming-Portal Joyn, dessen Führung ebenfalls ausgetauscht wird. Im DWDL-Interview gibt Bert Habets zu Protokoll, dass er mit deren Perfomance nicht zufrieden war, weil sich die ausgerufene Streaming-Strategie bisher weder bei den Inhalten noch bei der Technik wiederfinde. Er will mehr Geld in eigene Produktionen stecken und hofft auf neue "Leuchtturm-Projekte". Von den bisher erreichten jungen Zielgruppen will er hin zu einem breiteren Publikum (ein Problem, das andere Medienhäuser wohl gerne hätten). Gelingen soll das unter anderem mit einem "24-Stunden-Livestreams" von "Promi Big Brother".

Dass es mit dem Streaming-Neustart nicht ganz leicht wird, erklärt Anna Ernst in der SZ:

"Neben der übermächtigen Konkurrenz von internationalen Anbietern wie Netflix, Disney und Amazon beim Streaminggeschäft macht sich eine Werbeflaute in den Geschäftsbüchern bemerkbar. Und dann wäre da noch die innerdeutsche Konkurrenz, vor allem die RTL Group, die sich nach der Fusion mit Gruner + Jahr am liebsten zum 'nationalen Crossmedia-Champion' aufschwingen will und derzeit massiv in ihr Streamingportal RTL+ investiert."

Netflix verzeichnet derzeit massive Abo-Zuwächse, nachdem es das Teilen von Accounts erschwert hat – nachzulesen in der FAZ.


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+++ Nach den antisemitischen Äußerungen bei "Lanz & Precht" (Altpapier, Altpapier), hat das Podcast-Duo eine Sonderfolge zur Aufarbeitung veröffentlicht, die Susan Vahabzadeh in der SZ kritisch unter die Lupe nimmt: "Lanz und Precht unterhalten sich, zwischen ihren Entschuldigungen, über die Angst vor Gräben in der Gesellschaft, wenn Aussagen sofort kritisiert würden. Das ist angebracht, wenn es um Meinungen geht – falsch bleibt aber falsch, und die Gefahr, die von Molotowcocktails ausgeht, wiegt schwerer als eine noch so empfindliche Kritik.

+++ Auch in Großbritannien ist derzeit eine Debatte um Antisemitismus im Gange: Der "Guardian" hat sich wegen entsprechender Vorwürfe von seinem langjährigen Karikaturisten Steve Bell getrennt (turi2). Die Zeichnung, um die es geht, ist beim "Spectator" zu sehen.

+++ Drei Musikverlage verklagen das KI-Startup Anthropic, das Songtexte zum Training seiner KI genutzt haben soll, wie Benjamin Fischer in der FAZ berichtet.

+++ Übergewicht, Fehlsichtigkeit, Schlafprobleme, eine verzögerte Sprachentwicklung, Mathematik- und Leseschwäche und motorische Entwicklungsstörungen: Das sind nur einige der möglichen Folgen, die ein Kinder- und Jugendmediziner nennt, wenn es um die übermäßige Smartphone-Nutzung von Kindern geht – nachzulesen in einem Text von Markus Keimel für den "Tagesspiegel".  

Das Altpapier am Montag schreibt Johanna Bernklau. Schönes Wochenende!

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