Das Altpapier am 18. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 18. Oktober 2023 Das Problem heißt Lanz

18. Oktober 2023, 11:55 Uhr

Der Moderator der wichtigsten deutschen Polit-Talkshow hat "antisemitische Verschwörungsmythen" verbreitet beziehungsweise ist mit Falschbehauptungen "auf das Judentum losgegangen". Das schreibt der baden-württembergische Antisemitismus-Beauftragte. Ist eines der prominentesten ZDF-Gesichter als Moderator einer solchen Sendung nun noch tragbar? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Lanz hat noch die Chance, aus diesem Riesenfehler zu lernen"

Weiterhin kein Mangel herrscht an Beiträgen, die auf die aktuelle Folge des Podcasts "Lanz & Precht" (Altpapier, Altpapier) reagieren.

Den vielleicht schwersten Schaden, den das Duo angerichtet hat, benennt Michael Blume in einem Interview mit t-online.de. Der CDU-Politiker ist Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg und Verfasser eines am Dienstag hier bereits zitierten Podcast-Faktenchecks, veröffentlicht in seinem "Spektrum"-Blog und republiziert vom "Volksverpetzer".

Im Interview mit Martin Küper sagt Blume:

"Viele jüdische Freunde sind verzweifelt, dass ausgerechnet in dieser Situation wieder große deutsche Medien auf das Judentum losgehen. Man kann sich kaum vorstellen, wie so etwas das Sicherheitsgefühl von Menschen beeinträchtigt, die eigentlich gedacht haben, sie sind hier in Sicherheit und von Freunden umgeben. Der Terror bedroht Juden ja nicht nur in Israel, sondern weltweit. Und genau das will die Hamas erreichen, sie will unsere freiheitlichen Gesellschaften spalten und die Juden isolieren. Und da hätte ich mir von öffentlich-rechtlichen Medien mehr Professionalität erwartet. Das ist halt kein kleiner Podcast, sondern den machen zwei der reichweitenstärksten Männer in Deutschland."

Aktuelle Kommentare, die in der "Süddeutschen Zeitung" und bei der "Frankfurter Rundschau" erschienen sind, konzentrieren sich auf die Person Precht und eine Äußerung aus dem Podcast. Michael Blume widmet sich in seinem bereits erwähntem "Faktencheck zu den schlimmsten Falschbehauptungen" allerdings sechs Äußerungen - die ungefähr zu gleichen Teilen von Lanz und Precht stammen.

Simon Hurtz schreibt in der SZ, Precht habe eine "Art Proseminar übers Judentum" gegeben, "das in antisemitischen Klischees gipfelte" und an Bescheidwisser-Performances in sozialen Medien erinnere:

"Nichts scheint viele Deutsche so zuverlässig zu triggern wie das Thema Israel. Noch während Hamas-Terroristen mordend durch den Kibbuz zogen, wimmelte es plötzlich von Nahost-Experten (…)  Natürlich darf jede und jeder über Dinge reden, von denen man nichts versteht. In der aktuellen Situation aber wäre es besonders sinnvoll, diese Neigung zu überdenken."

Und zwar unter anderem, weil "die Kombination aus wenig Wissen und viel Gewissheit beim Nahostkonflikt oft dramatische Folgen" haben könne - eine Formulierung, die seit Erscheinen des Kommentars (Online-Veröffentlichungszeit: Dienstag, 14.45 Uhr) noch erheblich an Aktualität gewonnen hat.

Moritz Post meint in der FR:

"Die Aufregung um Prechts Äußerung antisemitischer Stereotype entlarvt den Markenkern der beiden Herren: Precht und Lanz liefern wöchentlich Zwiegespräche unter guten Freunden. Das Publikum hört die selbstbewusst geschwollene Männerbrust, die unter dem um einen Knopf zu weit geöffneten Hemd hervorlugt, beinahe mit. Stets markige Worte und blumige Beschreibungen. Da sitzen zwei, die sich selbst und den Herrn gegenüber gerne reden hören. Dabei gehen Journalismus und Meinung eine Symbiose ein, die zur Folge hat, dass sich die Gespräche der beiden regelmäßig wie die Bestätigung des eigenen, sehr stark ausgeprägten Sendungsbewusstseins zur Belehrung der Massen ausnehmen."

Klingt stimmig. Direkt daran anschließend schreibt Post:

"Das erklärt auch, wieso Markus Lanz seinen Gesprächspartner nicht auf das antisemitische Klischee hinweist."

Nein, das erklärt es nicht unbedingt. Letzterer Satz erweckt den Eindruck, man müsse Lanz vor allem vorwerfen, dass er Precht nicht widersprochen hat. An dieser Stelle bietet es sich an, noch einmal ausführlich aus einer Passage aus Michael Blumes Artikel zu zitieren. Unter Punkt 5 seines Faktenchecks, eingeleitet mit den Worten "Nun warf sich auch wieder Lanz auf antisemitische Verschwörungsmythen", bezieht sich Blume folgendermaßen auf den Talkshow-Moderator:

"Dass orthodoxe Jüdinnen und Juden zu einem falschen Gott beten und unter dem Einfluss ‚anderer Mächte und Kräfte‘ stünden greift nun wirklich bis in den frühchristlichen Antijudaismus, die Gnostik und den Dualismus etwa des Marcion im 2. Jahrhundert nach Christus zurück, der zwischen dem vermeintlich wahren Gott der Christen und dem vermeintlich falschen Gott der Juden strikt unterschied (…) Dem orthodoxen Judentum wird (…) vorgeworfen, über die jüdische Religion Menschen ‚fast als Geisel zu nehmen.‘ Und dies wenige Tage, nachdem die Terrororganisation der Hamas über 1.200 Menschen ermordete und zahlreiche, Hunderte Geiseln nahm – von denen viele bisher tot oder noch gar nicht geborgen werden konnten! Das ist mehr als gedankenlos und gehört nach meiner Wahrnehmung zu den schlimmsten Passagen dieser Folge."

Holger Klein ("Holger ruft an") schrieb bereits am Montag bei Bluesky:

"Alle regen sich über Precht auf, dabei ist Lanz das größere Problem."

Damit vertritt Klein - bisher - eine Minderheitenposition. Warum eigentlich? Precht spielt im ZDF-Kosmos doch eher eine Nebenrolle. Lanz dagegen steht dreimal pro Woche auf der Hauptbühne. Er ist das Gesicht der "wichtigsten politischen Talkshow im deutschen Fernsehen" (Lars Haider, Autor des Buchs "Das Phänomen Markus Lanz. Auf jede Antwort eine Frage"). Der eigentliche Skandal ist also nicht, was Precht sagt, sondern dass der Moderator der - let’s say it again - wichtigsten politischen Talkshow im deutschen Fernsehen "antisemitische Verschwörungsmythen" (Blume) verbreitet beziehungsweise mit Falschbehauptungen "auf das Judentum losgeht" (ders.)

Die entscheidenden Fragen in der Debatte um die Podcast müssten daher lauten: Wie kann Lanz noch glaubwürdig agieren, wenn er in seiner Sendung einem Politiker Fehlverhalten oder bloß eine unangemessene Äußerung vorhält, wenn er selbst Äußerungsgrenzen auf eine Weise überschritten hat, wie es der Großteil seiner Gäste bisher vermutlich nicht getan hat? Ist Lanz als Moderator für eine politische Talkshow noch tragbar?

Michael Blume würde diese Frage so wahrscheinlich nicht stellen. Jedenfalls hat das Interview mit t-online.de auch eher moderate Passagen. Nachdem er kurz noch souverän auf ein anderes Feld des Lanzschen Denkens eingegangen ist, nämlich die Hafermilchgesellschaftskritik (Altpapier), sagt Blume über den Moderator:

"Auch ich bin ein alternder, weißer Mann mit drei Kindern, auch bei uns zu Hause wird immer mehr Hafermilch getrunken und auch mir geht manche Entwicklung gefühlt zu schnell oder in die falsche Richtung. Das gibt mir aber nicht das Recht, über junge Leute oder religiöse Minderheiten herzuziehen und andere Menschen mit meinem Halbwissen zu belästigen. Lanz hat noch die Chance, aus diesem Riesenfehler zu lernen und es besser zu machen, aber wenn er auf diesem Kurs bleiben würde, hätte ich schon die Befürchtung, dass es mit dem Vertrauen in das ZDF deutlich abwärts ginge."

In der Hitze des Gefechts

Wer hat am gestrigen Abend über den Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt zu früh ungesicherte Informationen als Tatsache verbreitet? Wer ist auf unbefriedigende Weise mit seinen Fehlern umgegangen? Abgesehen davon, dass man die Meinung haben kann, dass das sehr berechtigte, aber angesichts der Dimension der Katastrophe auch nachrangige Fragen sind: Ein Überblick darüber lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt (ein Großteil dieser Kolumne entsteht am Vorabend des Erscheinungstages, Produktionsschluss ist im Idealfall 9.30 Uhr) noch nicht liefern. Um zumindest einen Einblick in die Wortmeldungen zu diesem Themenkomplex zu geben, seien ein Tweet des Deutschlandfunks und die Reaktion eines öffentlich-rechtlichen Kollegen zitiert. Der Sender twitterte um 22.30 Uhr:

"In einer ersten Meldung haben wir auf Basis der Nachrichtenlage zu diesem Zeitpunkt von einem israelischen Angriff gesprochen. Inzwischen ist der Informationsstand anders."

Woraufhin Jan Schipmann, der für funk das Politformat "DIE DA OBEN!" produziert, konterte:

"Der Informationsstand war vorher anders, weil ihr 1:1 die Propaganda der HAMAS übernommen habt. Diese Art der Berichterstattung richtet massiven Schaden an. Ich kann nicht verstehen, warum das dem DLF immer wieder passiert."

Eine erste allgemeine Einordnung liefert Oliver Darcy in CNN-Medien-Newsletter "Reliable Sources":

"Unmittelbar nach der tödlichen Explosion im Krankenhaus haben einige der weltweit größten und renommiertesten Nachrichtenorganisationen unkritisch die Behauptungen der von der Hamas geführten palästinensischen Regierung übernommen (…) Bei der BBC schimpfte ein IDF-Sprecher über die Berichterstattung des Senders über die Explosion und sagte, dass der Sender ‚Informationen der Hamas aufgreift und diese als die Wahrheit darstellt‘. Doch selbst nach dem energischen Dementi Israels sind die Nachrichtenorganisationen immer noch nicht in der Lage, endgültig zu sagen, was passiert ist, was sie in eine schwierige Lage bringt und die Zuschauer verwirrt. Der Krieg stiftet überall Chaos, auch bei den Journalisten, die über die Katastrophen berichten sollen."

Dass "in der Hitze des Gefechts" Fehler passieren, sei kaum zu vermeiden, meint Darcy. Beziehungsweise:

"The first draft of history is not always perfect."

Aber:

"At the same time, there is little room for error. Reports on serious matters involving civilian deaths carry enormous weight, often resulting in immediate consequence."

Eine "perfekte Lösung" gebe es nicht, meint der CNN-Mann dann auch noch. Aber es lohne sich, "zu wiederholen, dass es für Nachrichtenorganisationen von größter Wichtigkeit ist, in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit zu bleiben". Sonst bestehe die Gefahr, "dass die Öffentlichkeit verwirrt und aktiv fehlinformiert wird und sich die Kriegsparteien noch tiefer in ihre jeweiligen Ecken zurückziehen und mit dem Finger aufeinander zeigen, während die Zivilbevölkerung dazwischen gerät".

Vor einer Woche sind wir hier auf die Zahl der Journalisten eingegangen, die bisher in dem von der Hamas begonnenen Krieg getötet wurden. Mittlerweile sind es laut Committee to Protect Journalists "mindestens 17" (Stand: Dienstag). Einem von ihnen widmet Jon Allsop den Einstieg in einen Artikel für das "Columbia Journalism Review":

"Issam Abdallah, ein Videojournalist der Nachrichtenagentur Reuters, drehte im Süden des Libanon, direkt an der Grenze zu Israel, inmitten eines Schusswechsels zwischen den israelischen Streitkräften und der Hisbollah-Miliz eine Live-Aufnahme. Mindestens sechs weitere Journalisten - von Reuters, Al Jazeera und Agence France-Presse - befanden sich in dem Gebiet. Abdallahs Kamera war auf einen benachbarten Hügel gerichtet, als plötzlich eine gewaltige Explosion das Bild erschütterte; aus dem Off hörte man jemanden schreien: ‚Ich kann meine Beine nicht mehr spüren.‘ Abdallah, der auf einer Mauer in der Nähe saß, wurde getötet, die anderen sechs Journalisten wurden verwundet. Einer von Abdallahs Kollegen und andere Zeugen sagten, dass Raketen aus Richtung Israel abgefeuert worden waren (...) Bei Abdallahs Beerdigung legten Kollegen Nachrichtenkameras auf sein Grab."


Altpapierkorb (Fusionsideechen in der Debatte zur ÖRR-Zukunft, Presseähnlichkeitsfragen, die Vernachlässigung des Globalen Südens, ak-Kampagne, "The Inquisitor Magazine")

+++ "Könnte es (…) sein, dass Fusionsfantasien zu den uninspiriertesten Ideen der öffentlich-rechtlichen Reformdebatte zählen?", fragt Leonard Dobusch in seiner Kolumne bei netzpolitik.org. Spoiler: Ja.

+++ Neues zur Presseähnlichkeit: 16 südwestdeutsche Verlagshäuser werden wegen der mutmaßlich presseähnlichen SWR-App "Newszone" (Altpapier) "nun Hauptsacheklage beim Landgericht Stuttgart einreichen" (epd/FAZ). Und im aktuellen epd/Grimme-Podcast diskutieren unter dem Titel "Kein Ende im Kampf um Presseähnlichkeit" der "Morgenpost"-Verleger Arist von Harpe und Ellen Nebel (epd Medien)

+++ Die "Vernachlässigung des Globalen Südens in deutschsprachigen Medien" thematisiert einmal mehr Ladislaus Ludescher von der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Nachdem er diese "Vernachlässigung" bereits bei der "Tagesschau" der ARD festgestellt hat (siehe unter anderem dieses Altpapier), widmet er sich nun der "Tagesschau" des Schweizer Fernsehens. Sie "gehört zu der Gruppe der Medien im deutschsprachigen Raum, die nur etwa 10 Prozent ihrer Sendezeit für Nachrichten aus dem Globalen Süden verwenden, obwohl dort mehr als 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt". Beim European Journalism Observatory findet sich eine Zusammenfassung seiner neuen Studie.

+++ Die finanziellen Probleme linker Medien, nächste Episode: Der Monatszeitschrift Analyse & Kritik (ak) geht’s zwar nicht so richtig dreckig, sie findet ihren Status Quo aber unbefriedigend - was mit Blick auf die folgenden Zahlen auch nachvollziehbar ist. 1.000 neue Abos sollen her, denn dann "können wir eine*n neue*n Redakteur*in einstellen", heißt es. Werden es sogar 1,750 neue Abos, wäre es möglich, "unsere eigenen Löhne um 1 Euro/Stunde zu erhöhen (wir arbeiten für Mindestlohn), ab 2.000 neuen Abos wäre sogar eine Bildredaktion drin".

+++ Der auf das Thema organisierte Sportkriminalität spezialisierte Journalist Jens Weinreich hat ein neues Projekt gestartet: "The Inquisitor Magazine". In seinem Newsletter schreibt Weinreich, eine "unique collaboration of numerous award-winning journalists and whistleblowers from all continents" werde sich vor allem dem IOC-Milieu widmen.

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

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