Das Altpapier am 19. Februar 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 4 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 19. Februar 2024 Vernachlässigung und Überbeachtung

19. Februar 2024, 10:29 Uhr

Der Globale Süden spielt in den Nachrichten eine extrem untergeordnete Rolle. Joe Bidens Alter wird dafür rauf- und runterkommentiert. Wie kann man das erklären? Und: Für Julian Assange beginnt eine entscheidende Woche. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die mediale Vernachlässigung des Jemen-Kriegs

Man kommt als Journalist bisweilen in Erklärungsnöte, wenn man gefragt wird, warum das eine Thema so wichtig sein soll, dass man ständig davon hört, das andere dagegen so unwichtig, dass man kaum etwas davon mitkriegt. Es gibt zwar häufig einen benennbaren Grund dafür. Die Friedensforscherin Mari Holmboe Ruge und ihr Kollege Johan Galtung haben 1965 einen Katalog von Kriterien erstellt, die von Journalisten angelegt würden, wenn sie über den sogenannten Nachrichtenwert eines Ereignisses entscheiden; der Katalog von Faktoren wurde in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung seitdem mehrfach modifiziert, und man kann damit immer noch arbeiten.

Die Antworten, die man auf die Frage nach der medialen Vernachlässigung bestimmter Themen geben kann, sind aber manchmal trotzdem unbefriedigend. Warum gibt es zum Beispiel derart wenig Berichterstattung über den Krieg im Jemen? Man kann das mit den Nachrichtenfaktoren durchaus erklären, etwa mit der fehlenden eigenen Betroffenheit des adressierten Publikums. Und trotzdem kommt man schwer umhin, es zynisch oder ignorant zu nennen. Ladislaus Ludescher, Germanist mit einem Forschungsschwerpunkt auf Medienanalyse, hat auf den Seiten des "European Journalism Observatory"-Netzwerks über die Jemen-Berichterstattung geschrieben. Er kritisiert, dass der Jemen derzeit zwar auf der Nachrichten-Landkarte auftauche – aber eben "erst jetzt nach der Gefährdung von politischen und ökonomischen Interessen des sog. Westens".

Und in den Jahren zuvor? "Der Jemen kam, das zeigt eine vor der Veröffentlichung stehende Untersuchung des Autors dieses Beitrags, in den Nachrichten praktisch nicht vor. Das gilt für führende in- und ausländische Nachrichtensendungen wie die deutsche und Schweizer Tagesschau, die österreichische Zeit im Bild (ZIB) 1 oder die US-amerikanischen ABC World News Tonight. Das gilt aber auch für die wichtigsten politischen Talkshows und praktisch alle führenden Printmedien. Insgesamt wurden in der Untersuchung, in deren Zentrum die mediale Vernachlässigung des Globalen Hungers steht, mehr als 40 Medien ausgewertet und – mit Ausnahme des ARTE Journal und der taz – gilt für alle, dass der Jemen in der Berichterstattung der vergangenen Jahre praktisch keine Rolle spielte."

Wie wenig der Krieg im Jemen oder der Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray medial abgedeckt wurden, obwohl beide mit gravierenden humanitären Krisen verbunden sind, zeigt Ludescher exemplarisch etwa an der Sendezeitverteilung in der "Tagesschau" der ARD. Die Berichterstattung über die Kriege quantitativ mit der Berichterstattung etwa über die Pandemie zu vergleichen, wie er es tut, scheint mir dabei nicht zwingend. Das Ergebnis dieses Vergleichs ist ziemlich klar: Die Pandemie übertraf Tigray und Jemen um ein Vielvielvielfaches. Die Pandemie übertraf als Medienthema quantitativ eine Zeitlang aber auch alle anderen Themen deutlich.

Eindrücklicher ist eine Weltkarte, auf der eingezeichnet ist, über welche Regionen in etwa 6.000 Ausgaben "Tagesschau" berichtet worden sei: Der Globale Süden spielt demnach in den Nachrichten allgemein eine extrem untergeordnete Rolle. Ludeschers Fazit:

"Die Marginalisierung von Themen des Globalen Südens, die keine Interessensfelder des Globalen Nordens zu berühren scheinen, hat Routine und gehört zu den Konstanten der Berichterstattung der wichtigsten deutschsprachigen Medien. (…) Berichtet wird anscheinend erst, wenn Menschen oder Interessen des Globalen Nordens in irgendeiner Form betroffen sind. Es ist erschreckend, an einem konkreten und ganz realen Beispiel festzustellen, dass humanitäre Katastrophen und menschliches Leid ganz offensichtlich alleine nicht ausreichen, um in den Nachrichten wahrgenommen zu werden, wenn die betroffenen Gebiete im Globalen Süden liegen."

Eine Zeitlang konnte man übrigens auf den Seiten von tagesschau.de selbst nachvollziehen, über welche und aus welchen Weltregionen die "ARD aktuell"-Redaktion berichtet; "Nachrichtenatlas" heißt oder hieß das Tool (Altpapier). Es ist derzeit aber nicht auf tagesschau.de verfügbar. Es wäre bedauerlich, wenn es verschwunden bliebe.

Die mediale Überbeachtung von Donald Trump

Im Vergleich mit der Berichterstattung über den Jemen oder Tigray, erscheint die riesige mediale Präsenz von Donald Trump in Deutschland umso deutlicher. Der "Spiegel" zum Beispiel titelt aktuell mit ihm. Schon wieder. "Ich würde euch nicht beschützen" lautet die Zeile zum Porträtbild. Die Unterzeile verrät freilich, dass auch ein Olaf-Scholz- oder Boris-Pistorius-Foto theoretisch möglich gewesen wäre: "Braucht Deutschland jetzt die Bombe?". Aber Trump ist aufmerksamkeitsökonomisch eine Marke für sich; vor vier Wochen titelte der "Spiegel" schon einmal mit ihm ("Diktator Trump"). Für die Zeit, wenn der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf so richtig beginnt, lässt das nichts Gutes erahnen. Wie viele Trump-Titel soll es geben in einem Wahljahr, wenn schon im Februar der zweite am Kiosk liegt? Und wenn Amerika-Themen so titelträchtig sind: Wann kommt dann mal dieser, wie heißt er gleich?, Joe Biden auf den Titel?

Die ganze bisherige Biden-Amtszeit hindurch war Trump präsenter am Kiosk als der tatsächliche Präsident. 2023 gab es einen Trump-"Spiegel"-Titel, keinen Biden-Titel. 2021 gab es zwei Trump-Titel, keinen Biden-Titel. Und im letzten Wahlkampf-Jahr 2020, als Trump noch Präsident und Biden Herausforderer war, gab es fünf Trump- gegenüber zwei Biden-Titeln, Biden dabei aber nie mit einem seitenfüllenden Porträtfoto. Ein weiterer Titel zeigte Trump und Biden.

Man sollte solche Strichlistenkritik natürlich nicht überstrapazieren. Zeitschriftentitel sind Kaufanreize, nicht der eigentliche Inhalt. Und der "Spiegel" hat seine Trumpmanie wahrlich nicht exklusiv. Es gab zum Beispiel auch in Deutschlands öffentlich-rechtlichen Talks jahrelang viel Trump, Trump, Trump, und sie dürften schon bald wieder verstärkt ins Thema einsteigen. Aber man könnte dem "Spiegel" nicht vorwerfen, er würde Trump und die Gefahren, die von ihm ausgehen, ignorieren, wenn er ihn etwas seltener mit allerprominentester Wahrnehmung beglücken würde.

Wie oft kann man Joe Bidens Alter kommentieren?

Wobei es in den USA eine Debatte über die Trump- und Biden-Berichterstattung gibt, die sich nicht in der Frage nach Magazintiteln erschöpft. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtet darüber (Abo), und Samira El-Ouassil kolumniert dazu bei "Übermedien" (Abo). Es geht um die Berichterstattung über Joe Bidens Alter.

"Nachdem der Bericht des Sonderermittlers Robert Hur lückenhafte Erinnerungen von Biden beschrieben hatte, gab es unzählige Artikel über die geistige Fitness des Präsidenten. Statt sich auf Trumps Verfehlungen und seine Pläne für eine mögliche zweite Amtszeit zu konzentrieren, hätten Journalisten sich regelrecht auf Bidens Alter eingeschossen, sagen Kritiker (…). Besonders die 'New York Times' zog damals und zieht heute viel Unmut auf sich",

so Frauke Steffens in der "FAS". Und zwar weil sie, die "New York Times", ihr Meinungsspektrum erweitert mit Gastbeitragsthesen wie der, Trump sei eigentlich ein moderater Typ, und gleichzeitig, worauf El-Ouassil hinweist, Joe Bidens Alter so oft kommentiert, dass es tendenziell für ungefähr 81 Jahre reichen würde.

Tja. Andererseits: wenn’s doch stimmt! El-Ouassil schreibt: "Fakt ist, dass Joe Biden mit 81 Jahren der älteste Präsident der amerikanischen Geschichte ist." Und natürlich ist es richtig, über das Alter des ältesten US-Präsidenten der Geschichte zu schreiben, wenn der meint, gleich nochmal antreten zu müssen? Aber, so El-Ouassil:

"Fakt ist auch, dass vor Biden der älteste Präsident in der amerikanischen Geschichte Trump war. Das nicht zu erwähnen, hieße nicht über den republikanischen Elefanten im Raum sprechen zu wollen. Wenn man jedoch bedenkt, dass Trump weniger als vier Jahre von Biden trennen, ist es bemerkenswert, wie Bidens Alter und damit sein geistiger Zustand zum beherrschenden Thema des amerikanischen Wahlkampfes werden konnte. Die Strategie kennen wir bereits aus dem Wahlkampf von Hillary Clinton: Während Trump eine Grenzüberschreitung nach der anderen beging, eine Lüge nach der anderen kolportierte, verbissen sich Berichterstattung und der politischen Gegner in Clintons E-Mails. Bis schließlich die Nutzung eines privaten Mobiltelefons das einzige Thema war, auf das die Kandidatin festgenagelt werden konnte."

Die Nachrichtenfaktoren von Galtung/Ruge und all jenen, die deren Arbeit verfeinert haben, reichen hier nicht aus, um zu begründen, warum ein Thema – wie Joe Bidens Alter – so relevant sein soll, dass es immer wieder und wieder aufgegriffen wird. Ein Faktor dürfte auch sein, dass politische Gegner die Präsenz des Themas befeuern. Bei El-Ouassil fällt in dem Zusammenhang auch der Name des ehemaligen Trump-Strategen und -Medienberaters Steve Bannon. Sie schreibt:

"Man flutet den Diskurs mit einem breiten Strahl von Inhalten – so intensiv, dass man sich dem Nachrichtendruck nicht entziehen kann und irgendwann denken muss, Hillary Clinton habe ihre E-Mails höchstpersönlich nach Nordkorea gefaxt. Man soll in dem Strom förmlich ertrinken. Auch wenn es sich bei den Angaben zu Bidens Alter nicht um eine tausendfach verbreitete und wiederholte Fehlinformation handelt, hat die Dominanz des Themas eine ähnliche Dynamik wie damals bei 'but her Emails'."

Eine wichtige Woche für Julian Assange

Noch ein Text über Clintons E-Mails, Joe Biden und Donald Trump stand am Samstag auf der Medienseite der "Süddeutschen Zeitung" (Abo). Dort schrieb Georg Mascolo, die Zeit von Wikileaks-Gründer Julian Assange in britischer Haft könnte bald enden, denn vor dem High Court, dem Obersten Gericht, steht am 20. und 21. Februar eine Anhörung an. Der entscheidet, ob Assange, der wegen Spionage und Verschwörung in den USA angeklagt ist, ausgeliefert wird. "Stimmen die beiden Richter der bereits von der britischen Regierung verfügten Auslieferung zu, bliebe nur noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, um die Sache zu stoppen", so Mascolo.

Er fasst im Text die Wikileaks-Geschichte zusammen und arbeitet unter anderem heraus, wie Assange zwischen die Stühle der Politik geriet. Und sich auch selbst dazwischen setzte.

"Was Trump damals schwärmen und Assange auch bei vielen Anhängern der Demokraten zur Hassfigur werden ließ, waren die E-Mails, die Wikileaks damals veröffentlichte und die Hillary Clinton 2016 im Wahlkampf schadeten. Bis heute besteht der Verdacht, dass das Material vom russischen Geheimdienst stammte und Assange dies wusste. Was er aber bestreitet. Sicher ist: Nach 2010 hat Assange einen Weg eingeschlagen, den viele für sehr problematisch halten. Selbst solche, die es gut mit ihm meinen. Als Trump im Amt war, schrieb das US-Justizministerium dann eine Anklage jener Art, vor der man in Obamas Washington noch zurückschreckte. Die Maßlosigkeit kannte keine Grenzen mehr".

Und: "Unter Präsident Joe Biden ist der Kurs der Trump-Administration nie korrigiert worden."

Was über die Person Assange hinausweist, ist, dass ein Schuldspruch für den journalistischen Berufsstand ein "gefährliches Präjudiz" wäre, so Mascolo, der als "Spiegel"-Chefredakteur einst Dokumente von Wikileaks veröffentlichte, was er auch selbst erwähnt.

"Wenn also Assange (…) für das Publizieren angeklagt werden sollte, warum dann nicht auch die Verantwortlichen der beteiligten Medien? Und, als wäre das nicht Dammbruch genug, was sollte die US-Regierung dann hindern, auch künftig allen Reporterinnen und Reportern den Prozess zu machen, die über Geheimnisse des Staates, des Militärs oder seiner Nachrichtendienste berichten?"


Altpapierkorb (Domscheit-Berg-Interview, Arist von Harpe über die "MoPo", "Vice"-Ende u.a.)

+++ Julian Assanges ehemaliger Wikileaks-Partner Daniel Domscheit-Berg spricht im ausführlichen Interview mit Bascha Mika für die "Frankfurter Rundschau" über Wikileaks und Assange. Er sagt darin über ihn:

"Er säße heute wahrscheinlich nicht unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen fest, in ständiger Gefahr von den Briten an die US-Geheimdienste ausgeliefert zu werden. Um dann, wie der russische Regimekritiker Nawalny, an der Haft zu Grunde zu gehen. Unser Anspruch an den Rechtsstaat muss ein ganz anderer sein. Der Fall Assange ist nicht nur tragisch für ihn und Wikileaks, sondern auch ein Angriff auf die Pressefreiheit – und damit auf alle anderen, die wie wir einen Presseausweis in der Tasche tragen."

+++ "Kremlkritiker Nawalny in Haft gestorben", titelte am Samstag die "FAZ". "Erschüttert von Nawalnys Schicksal" stand auf dem Titel der "SZ". "Nawalny bringt solide Quoten", versicherte schließlich dwdl.de in einer etwas unglücklichen Überschrift und meinte mit "Nawalny" eine ARD-Doku über Nawalny. Die in der "SZ" (Abo) besprochen wurde.

+++ Harald Hordych hat für die "SZ" (Abo) Arist von Harpe, den Verleger der "Hamburger Morgenpost", gefragt, warum die Zeitung vom 12. April an nicht mehr täglich, sondern nur noch einmal in der Woche am Freitag erscheinen soll. Es werden also – eine harte Entscheidung – alle Werktagsausgaben gestrichen. Von Harpe: "Wenn wir digital only gehen würden, könnten wir uns nicht mehr den Journalismus leisten, den wir jetzt haben. Dann würden wir journalistisch kleiner werden. Print liefert bei uns immer noch relevanten Deckungsbeitrag [sic!]. (…) Deswegen ist derzeit wirtschaftlich gesehen, die einzige Rettung für Lokaljournalismus mit Substanz, zu sagen: Wir müssen eine Zeitung haben, die deutlich teurer verkauft werden kann. Die können wir nur einmal die Woche produzieren. So fallen an fünf Tagen die Druckkosten weg. Und das sind im Wesentlichen fixe Kosten."

+++ Das bevorstehende Ende von "Vice" (Altpapierkorb vom Donnerstag) beschäftigt unter anderem die "FAS" (nur in Printzeitung und E-Papier) und, via dpa, den "Tagesspiegel".

+++ Um den, so Christian Bartels kürzlich an dieser Stelle, "gewiss interessanten, aber im üblichen Nostalgie-Sarkasmus-Sound nicht mehr junger Männer gehaltenen Retro-Beitrag" von Manfred Klimek auf Welt.de ging es am Samstag in der "FAZ". Denn die "Welt" bzw. Axel Springer haben vor Gericht fürs Erste verloren gegen den ehemaligen "Stern"-Reporter, der sich verleumdet sah. Auch meedia.de hat einen Beitrag dazu.

+++ Über ein mögliches Ende der Sozialen Medien, wie wir sie bisher kannten, denkt in der "Zeit" Lars Weisbrod nach und bezieht sich auch auf einen "Economist"-Text zum Thema.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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