Das Altpapier am 27. Juni 2018 Der Kniefall von Wien

Wird den Journalisten des ORF künftig die Meinungsfreiheit beschnitten? Warum ist der Politik-Journalismus "kaputt" (sowohl in den USA als auch in Deutschland)? Kann Miriam Meckel nicht googlen? Ein Altpapier von René Martens.

Der ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz hat einen Twitter-Account, insofern hat er den Intendanten der hiesigen öffentlich-rechtlichen Sender schon mal etwas voraus.

Dass Wrabetz twittert, schließt allerdings nicht aus, dass bei ihm ein "absolutes Unverständnis von Social Media" vorherrscht. Das konstatiert Anita Zielina, einst Vize-Chefredakteurin beim Stern und sog. Chief Product Officer bei der NZZ. Anlass ihrer Wortmeldung ist ein Mail-Entwurf zu den künftigen Social-Media-Guidelines für den ORF, aus dem der Standard und die Wiener Zeitung zitieren. In diesem Entwurf schreibt Wrabetz, "zur Sicherstellung (der) Grundsätze (…) und damit der Glaubwürdigkeit des ORF und seiner Mitarbeiter/innen" sei

"daher auch im privaten Umfeld zu verzichten auf öffentliche Äußerungen und Kommentare in sozialen Medien, die als Zustimmung, Ablehnung oder Wertung von Äußerungen, Sympathie, Antipathie, Kritik und 'Polemik' gegenüber politischen Institutionen, deren Vertreter/innen oder Mitgliedern zu interpretieren sind."

Demnach künftig außerdem verboten:

"Öffentliche Äußerungen und Kommentare in sozialen Medien, die eine voreingenommene, einseitige oder parteiische Haltung zum Ausdruck bringen, die Unterstützung derartiger Aussagen und Initiativen Dritter sowie die Teilnahme an derartigen Gruppen, sofern damit die Objektivität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des ORF konterkariert würde."

Wobei wiederum wurscht ist, ob die Meinungsbekundungen "durch direkte Äußerungen erfolgen" oder "durch Zeichen der Unterstützung/Ablehnung wie Likes, Dislikes, Recommends, Retweets oder Shares."

Kurz gesagt: Fotos aus dem Urlaub und von ihrem Mittagessen dürfen ORF-Redakteure auch künftig posten. Die Frage, ob sie auch ein Foto retweeten dürfen, das ein Politiker von seinem Mittagessen gepostet hat, ist dagegen schon schwieriger zu beantworten.

Jan Böhmermann ist aufgefallen, dass Wrabetz selbst schon einen gewissen Krishnan Guru-Murthy und den Was-weiß-ich-Guru Gabor Steingart auf eine Weise retweetet hat, die nach den künftigen Regeln nicht zulässig wäre. Wrabetz selbst zitiert bei Twitter derweil aus den Guidelines der New York Times, um den Eindruck zu erwecken, er tue schon das Richtige, wohingegen die bereits erwähnte Anita Zielina betont, dass die Times-Regeln weitaus weniger strikt seien, als der jetzt kursierende Wrabetz-Entwurf.

Wie ist nun dieser Entwurf zu erklären, dessen "Authentizität" Wrabetz laut Wiener Zeitung bestätigt hat und der neben vielem anderen auch arbeitsrechtlich nicht haltbar ist (siehe dazu einen Thread im Twitter-Account des ORF-Hörfunkredakteurs Lukas Tagwerker)? Harald Fidler weist im Standard darauf hin, dass maßgebliche Politiker der beiden derzeitigen Regierungsparteien, die im Stiftungsrat (dem ORF-Aufsichtsgremium) vertreten sind, "seit Jahren" solche Richtlinien fordern. Den Zentralbetriebsratschef des ORF, Gerhard Moser, zitiert Fidler dazu folgendermaßen:

"Was hier vorliegt (…), scheint ein Kniefall des amtierenden Generaldirektors vor den schwarz-blauen Wünschen und Diktaten gegenüber ORF-Journalisten zu sein."

Dass in Zeiten, in denen in Österreich eine Partei mitregiert, die dem Journalismus, wie wir ihn kennen, den Garaus zu machen gedenkt, der mächtigste Mann des öffentlich-rechtlichen Rundfunks den Journalisten des Hauses die Meinungsfreiheit beschneiden will - das ist in der Tat auffällig. Dieser Opportunismus werde sich für Wrabetz nicht auszahlen, twittert der langjährige österreichische Parlaments-Abgeordnete Albert Steinhauser:

"Die Geschichte ist meist hart zu solchen Personen."

Wer den Entwurf geleakt hat, scheint derzeit noch nicht klar zu sein. Nicht völlig auszuschließen ist ja, dass Wrabetz ein ganz plietscher Bursche ist und den Entwurf selbst lanciert hat - um die Öffentlichkeit für den Druck von rechts zu sensibilisieren und Protest-Reaktionen hervorzurufen, die die Umsetzung des Entwurfs unmöglich machen.

Wie auch immer: Würde alles so umgesetzt, wie es in dem kursierenden Entwurf steht, würde das

"de facto das 'Aus' für Accounts wie den bei weitem reichweitenstärksten von Armin Wolf bedeuten. Ein Weitermachen wie bisher ist jedenfalls nicht möglich, da Wolf durchaus mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält."

Darauf macht Bernhard Baumgartner in der Wiener Zeitung aufmerksam. Armin Wolf verdankt ja zumindest einen Teil seines Renommees seinen Aktivitäten in den sozialen Medien (wovon ja wiederum auch der ORF profitiert).

"Wir ehren Armin Wolf für seine klare Haltung, seine Kompetenz, aber auch seinen permanenten Dialog mit seinen Zuschauerinnen und Zuschauern in den sozialen Medien. Deshalb steht er in vorbildlicher Weise für Transparenz und Glaubwürdigkeit im Journalismus. Und leistet damit einen wertvollen Beitrag gegen den Vertrauensverlust von Medien."

Das zum Beispiel verkündete das Netzwerk Recherche im vergangenen Jahr, als es Wolf den "Leuchtturm"-Preis verlieh. Und was twittert Wolf gerade so? Unter anderem einen Screenshot des Artikels 10 der Europäischen Menschenrechtskommission ("Freiheit der Meinungsäußerung").


Hinterfragt eure Regeln!

Das Stichwort Transparenz bringt uns zum Journalismusforscher Jay Rosen, der in einem anderen, aber durchaus auf den Themenkomplex twitternde Journalisten anwendbaren Kontext sagt:

"Es ist einfacher für die Menschen, Journalisten zu vertrauen, wenn sie sagen können, 'Das ist mein Standpunkt' oder 'Schauen Sie selbst, hier sind meine Daten, meine Zahlen, meine Interviews'. Transparenz kann auch heißen: 'Hier sind unsere Prioritäten als Nachrichtenmagazin, als öffentliches-rechtliches Radio. Das sind die Themen und sich entwickelnde Nachrichten, die wir für wichtig halten und über die wir berichten werden.' Das ist eine Art von Transparenz."

Das hat Rosen in einem am Montag hier bereits kurz aufgegriffenen Interview gesagt, das Sandro Schroeder in der vergangenen Woche für "@mediasres" mit ihm geführt hat. Nunmehr steht das Interview komplett als Transkript online. "Politik-Journalismus ist kaputt", lautet die Headline. Dazu führt Rosen aus:

"Journalisten fangen gerade an zu verstehen, dass, wenn sie Donald Trump einfach nur zu zitieren, wenn sie einfach nur wiederholen, was er in Reden oder Tweets sagt, dass sie ihm damit gewissermaßen assistieren oder helfen. Und dass das vielleicht keine so gute Idee ist. Die Debatte darüber fängt aber gerade einmal an. Und Journalisten lernen gerade, dass, wenn sie ihre gewohnten Regeln für Nachrichtenwert anwenden, dass Donald Trump die Nachrichtenagenda jede Woche komplett dominiert."

Was folgt daraus?

"It's time for the press to suspend normal relations with the Trump presidency."

Das fordert Rosen in einem aktuellen Beitrag für seinen Blog Pressthink.

"For the Washington Post it might be declining to participate in so-called background briefings (…) For CNN, never going live to a Trump event — on the grounds that you will inevitably broadcast falsehoods if you do — would be a good start",

erläutert er. Ein Hinterfragen der "gewohnten Regeln" hat kürzlich auch die Journalistik-Professorin Friederike Herrmann von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt gefordert, mit der ich für die taz gesprochen habe (siehe Altpapier).

"Das Problem seien die Regeln des Nachrichtenjournalismus: Journalisten berichteten 'zu sehr aus der Perspektive der Politik, aus der Institutionenperspektive, und es zeigt sich jetzt, wie fatal das ist.'"

Diesbezüglich sind die Positionen Herrmanns und Rosens praktisch deckungsgleich ("Der US-Wissenschaftler Jay Rosen findet, dass Journalisten zu viel über Politiker berichten und zu wenig über Politik", heißt es im Vorspann des DLF-Interviews).

Darüber, dass hier zu Lande die AfD auch deshalb groß geworden ist, weil man diese "Regeln des Nachrichtenjournalismus" (Herrmann) zu sehr beherzigt und man zu viel darüber berichtet hat (und weiterhin berichtet), was deren Politiker sagen - das sollte demnächst auch mal aufgearbeitet werden.


"Wiederdurchblutung des vom Austrocknen bedrohten Hirns"

Harter Cut (zumindest auf den ersten Blick): Der Aufmacherartikel der FAZ-Medienseite ist der Hörspielfassung der Gedichtsammlung "Die Cantos" gewidmet, also dem "Lebenswerk des Dichters, Rechthabers, Spinners, Faschisten, Förderers großer Kolleginnen und Kollegen, Zukunftsbeschwörers und Vergangenheitsverklärers Ezra Pound", wie Dietmar Dath schreibt. Anlass ist die heutige Ausstrahlung des Hörspiels bei hr2.

Erst einmal kann man die FAZ natürlich dafür loben, dass ein derart (auf den ersten Blick) abseitiges Thema heute auf der Seite im Mittelpunkt steht. Dath liefert in dem für 45 Cent bei Blendle zu habenden Text aber immer wieder aktuelle Bezüge und Lesarten:

"Dass der Fortschritt technischer (und ästhetischer!) Mittelverfügung mit dem Fortschritt hin zu menschenwürdigen Zwecken nicht nur nicht zusammenfällt, sondern sich immer wieder geradezu in Gegenrichtung zu diesem bewegt, lässt sich an Pounds Schicksal mühelos zeigen: Das potentielle Aufklärungswerkzeug Radio, das jetzt sein künstlerisches Erbe ausstrahlt, hat er selbst zu Propagandareden für die Achsenmächte benutzt, was ihm beinahe die Hinrichtung in den Vereinigten Staaten wegen Hochverrats eingebracht hätte (stattdessen erklärte man ihn für gaga und hielt ihn lange in einer Anstalt von allen Öffentlichkeiten fern)."

Daths Fazit:

"Das Gedicht (…) begleitet die Wiederdurchblutung des in der ästhetischen wie intellektuellen Ebbe und Windstille des Jahres 2018 bei gleichzeitig höchster Hetzehitze vom Austrocknen bedrohten Hirns."


"Wir kriegen euch!"

Inwiefern die "höchste Hetzehitze" zumindest für manche Journalisten immer wieder unmittelbar bedrohlich wird - darüber berichtet die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke (Blick nach rechts) anlässlich von Vorfällen rund um das "Kyffhäusertreffen" der AfD. Betroffen waren ein Kollege und sie. Boris Rosenkranz (Übermedien) greift ihren Beitrag auf:

"Die Journalisten wurden unter anderem als 'Bazille' und 'dreckige Fotze' beschimpft. Ein Mann griff die beiden auch körperlich an. Dabei wurde eine Kamera beschädigt. Ein weiterer AfD-Anhänger rief: 'Ihr Dreckschweine, wir kriegen euch!', anschließend machte er eine schneidende Handbewegung am Hals." 

Ein Video ist zu sehen, wo eine Frau Nazi mit stylisher Brille pöbelt und ein Herr Nazi mit dem Regenschirm zur Tat schreitet. Beide Angegriffenen sind Mitglieder der dju, die dazu folgende Pressemitteilung publiziert hat:

"Die Rechtsextremismus-Experten beklagten anschließend, dass die Polizei kaum etwas zu ihrem Schutz getan habe. Vielmehr sei sogar noch der Vorwurf formuliert worden, ihre journalistische Recherche sei das eigentliche Problem."

Die Bundesgeschäftsführerin der dju in ver.di, Cornelia Haß Haß, werfe, so heißt es weiter, der AfD vor,

"systematisch die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten zu behindern und dabei auch vor Gesetzesbrüchen nicht zurück zu schrecken".

Die AfD hat ja nun andererseits niemals den Eindruck erweckt, sie wolle die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten nicht behindern. An dieser Stelle lässt sich auch noch einmal ein Bogen schlagen zu den drohenden ORF-Twitter-Richtlinien: Könnte ein Journalist eigentlich wertungsfrei darüber twittern, dass ihm mit dem Tod gedroht wurde?


Altpapierkorb (Die doppelte Ada, letzte Intro-Ausgabe, Real-Life-Jedi-Ritter)

+++ "Es ist kurz vor Mitternacht, die Frau am anderen Ende der Leitung erzählt seit fast drei Stunden. Immer wieder bricht sie ab, atmet minutenlang in die Nacht hinein. Die Details, die sie herausbekommt, sind genug, um die Verzweiflung durchklingen zu lassen." So beginnt ein Text in der SZ (€), in dem Charlotte Theile darüber berichtet, wie Redaktionen in den vergangenen Monaten zu den Themen sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt recherchiert haben. Anlass des Artikels ist eine unter dem Titel "Zwischen Rufmord und Aufklärung" stehende Veranstaltung zu diesem Thema bei der kommenden Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche.

+++ Ende Mai war im Altpapier die Gründung des linken Online-Magazins Ada erwähnt, nun startet Miriam Meckel bei der Wirtschaftswoche ein naturgemäß nicht so linkes Print-und-Online-Magazin, das ebenfalls Ada heißt. Ole Rauch, Herausgeber des ersten Ada-Magazins, schreibt dazu in einer Pressemitteilung: "Ganz schön dreist von der Wirtschaftswoche, aber wir nehmen die Herausforderung gerne an. Von einem zukünftigen Tech-Magazin hätte ich aber erwartet, dass sie vorher ihren Namen googlen können."

+++ "Journalisten dürften Verdachtsberichterstattung liefern, aber sie sollten sich vor Augen halten, dass sie damit Existenzen vernichten können" - unter anderem mit diesen Worten kritisiert nun auch der Hamburger Qualitätsjournalismus-Professor Volker Lilienthal (epd/Chrismon) die BAMF-Berichterstattung vieler Medien (siehe unter anderem dieses und dieses Altpapier).

+++ "Bei den größeren Storys fällt mir wieder positiv auf, was mich bei anderen Magazinen so zum Kotzen stört: Das Geschlechterverhältnis. Das sieht bei Intro nämlich nicht aus wie im Fußballstadion oder auf den Festivalbühnen. Nein, die aktuelle Intro-Redaktion beweist, dass man nicht von (oder gar gegen) Quoten labern muss, sondern dass man natürlich ein Heft machen kann, indem nicht nur alles voller Typen ist. Das stellt für mich vielleicht die größte Leistung der letzten Jahre Intro dar." Das schreibt der ehemalige Intro-Redakteur Linus Volkmann bei kaput-mag.com über das Intro-Abschieds-Heft.

+++ Auf eine mündliche Verhandlung "im Rechtsstreit um die Presseähnlichkeit des Internet-Angebots der Stadt Dortmund" - geklagt hat das Medienhaus Lensing - blickt die Medienkorrespondenz voraus. Haben sich die Presseähnlichkeits-Diagnostiker aus Döpfnerhausen eigentlich auch die Internet-Angebote anderer Städte angeschaut? Jungs und Mädels, da geht bestimmt noch einiges!

+++ Was TV-Kameraleute vollbringen müssen, die bei Sportveranstaltungen im Einsatz kommen, bzw. warum sie "real life Jedi knights" sind - darauf geht anlässlich der Fußball-WM Red Shark News ein.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.