Das Altpapier am 7. November 2018 Zurücktreten bitte!

Die Geschichte von Facebook bei den Midterms ist keine Geschichte. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und ARD-Chef Ulrich Wilhelm träumen ähnlich. Margarete Stokowski möchte nicht überall lesen. Die Öffentlich-Rechtlichen haben Hörprobleme. Friedrich Merz läuft bald über Wasser. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Bitte nehmen Sie Abstand. Noch ein bisschen… noch weiter… Stopp. Und jetzt schauen Sie auf die große Panikblase vor Ihnen.

"Experten in den USA meinen, die Trolle hätten ihre Strategie mittlerweile verändert. Statt auf komplett erfundene Geschichten zu setzen, also auf Fake News, greifen sie nun auf Themen von links- oder rechtsradikalen Akteuren und versuchen, den politischen Diskurs zu polarisieren und anzuheizen. Solche Inhalte seien schwerer als Einflussnahme von außen zu identifizieren und leichter umzusetzen, sagt die Cybersicherheitsexpertin Priscilla Moriuchi der Nachrichtenagentur Reuters“,

schreibt dort zum Beispiel der sicher nicht der unnötigen Aufregung verdächtige
"Tagesschau“-Faktenfinder Patrick Gensing über den Einfluss der gar nicht so sozialen Medien auf den Wahlkampf zu den Midterms in den USA.

Oder dort drüben, bei "@mediasres“, wo Anne-Katrin Eutin Mike Masnick vom Technik-Blog Techdirt zitiert:

"Diese Unternehmen haben ihre Regeln. Manche davon sind öffentlich, aber eben nicht alle. Und die Verfahrensweise, die am Ende zu einer Sperrung führt, ist vollkommen undurchsichtig. (…) Die wichtige Frage lautet doch: Sind einige wenige Unternehmen hier im Silicon Valley wirklich dazu geeignet, Entscheidungen zu treffen, die die ganze Welt betreffen?“

Na? Haben Sie auch den akuten Bedarf, sich sämtliche Elektronik zurücklassend an einen See in den Wäldern von Massachusetts zu verziehen und die Welt bei ihrem unaufhaltsamen Untergang, dirigiert von Mark Zuckerberg, sich selbst zu überlassen? Doch Halt! Denn zum Glück haben sie ja bereits mit dem fragwürdigen Einstieg in diesen Text Abstand und damit gute Sicht auf den Kontext gewonnen. Und der passt so gar nicht zu dem "Facebook-wird-uns-alle-vernichten“-Sound, an den wir uns spätestens seit 2016 gewöhnt haben.

"The big story about Facebook and the 2018 midterms is that … there is no big Facebook story“,

erklärt Alexis C. Madrigal im Atlantic, um dann aufzudröseln, dass die Plattform gerade einmal ein Zehntel des Werbebudgets von Fernsehen und Radio abbekommen hätte - ein Zeichen dafür, dass deren Wichtigkeit überschätzt werde, meint er. Sein weiteres Argument:

"Big, viral posts on Facebook have been far more likely to come from right-wing news sources than left-wing or moderate news sources in the days leading up to the election. But the truth is that those posts, the ones that link to chunks of text old people like us still refer to as articles and consider an important unit of information dissemination, form a tiny piece of the real Facebook universe. (…) There is almost no political content at the top of the viral game. Across Facebook, the 10 pages that dominated were Jalals, NTD Life, Will Smith, Jay Shetty, Moviefone, UNILAD, Life Stories, Pretty 52, BuzzFeed, and Freaks. In the week leading up to these consequential midterms, the mass-market Facebook experience was all about cute animals, silly jokes, and celebrities."

Hinzu kommt die über Meedia verbreitete Meldung, dass die Nutzerzahlen von Facebook in den USA stagnieren und in Europa sogar sinken. Auch bei Twitter und Snapchat gehen weltweit die Zahlen der aktiven Nutzer nach unten.

Sicher sind es auch die Debatten der vergangenen Monate, die Wirkung zeigen. War bei der Aufdeckung von Prism den Leuten noch alles egal (war ja auch der Staat, der da irgendwas mit Daten gemacht hat. Das wird schon seine Richtigkeit haben), haben Trump, Brexit und Cambridge Analytica die Debatte über fehlende Regulierung und Regeln in diesem Internet anzustoßen vermocht. Andererseits kann es aber auch sein, dass es gar nicht russische Facebook-Trolle allein waren, die US-amerikanische Stahlarbeiter einen Mann wählen ließen, dessen Haarfarbwahl noch die wenigsten Fragen aufwirft.

Womit ich sagen will: Auf Facebook-Algorithmen zu schauen ist wichtig. Darüber hinaus aber auch.

Magna Charta fürs Web, Mega-Mediathek für Europa

Was dennoch weiterhin nicht schaden kann, ist das Ansammeln von Ideen, wie unser Internet schöner werden kann. Ganz gut damit aus kennt sich sein Erfinder Tim Berners-Lee, der mit seiner Kampagne #ForTheWeb durch die Lande tourt und aktuell beim Web Summit in Lissabon Station machte, wo Angela Gruber für Spiegel Online dabei war.

"#ForTheWeb soll nun ein globaler Gesellschaftsvertrag für den digitalen Raum werden. Regierungen, Firmen und einzelne Nutzer sollen sich auf grundlegende Ziele und Prinzipien verständigen. Bis Mai 2019 soll das Regelwerk stehen, eine Art Magna Charta des WWW, wie Berners-Lee sie in der Vergangenheit schon gefordert hatte“,

schreibt sie… und schreibt… und schreibt… und ganz am Schluss des Textes erwähnt sie sogar, was in dieser Charta drinstehen könnte (ehrlich, Kinder, redigiert eigentlich heutzutage noch jemand?). Nämlich, dass Regierungen den Zugang zum Netz garantieren sollen und dieses nicht als Überwachungsinstrument missbrauchen dürfen. Gleiches soll für Firmen gelten, während Nutzer nicht nur Konsumieren, sondern auch aktiv Inhalte für das Netz produzieren und sich dabei freundlich verhalten sollen.

Klingt vernünftig. Und nur ein kleines bisschen verstörend, weil 2018 sich so nach 1787 anhören kann.

Aus Deutschland kommt derweil ein Vorschlag von Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister und Twitter-Pionier unter den deutschen Politikern, was sich als Zeichen deuten lässt, dass das Netz für ihn kein Neula… ach, dieser laue Witz bleibt hier einfach mal zur Feier des Tages ungenutzt liegen.

In jedem Fall hat Altmaier bei einem weiteren anglophilen Gipfel, dem Publisher Summit, dessen catchy Hashtag #VDZPS18 bereits gestern hier die angemessene Würdigung erfuhr, folgende Idee unter das Volk bzw. die Verleger gebracht (Quelle: Roland Pimpl, Horizont):

"Sein Traum: Eine von allen europäischen Medienhäusern gemeinsam betriebene Plattform, über die Leser weltweit auf Zeitungs- und Zeitschrifteninhalte zugreifen können. Ohne Abo-Paywalls – 'da bin ich als Nutzer raus, wenn ich nur einmal im Jahr diesen oder jenen Titel lesen will’, sagt Altmaier. Stattdessen visioniert er ein werbefinanziertes Modell, das die Erlöse anteilig nach Klicks auf die Titel und Verlage verteilt. Und eben nicht an Google und Facebook, so der Minister.“

Gewisse Ähnlichkeiten zu der von ARD-Chef Ulrich Wilhelm beworbenen, europaweiten Mega-Mediathek (z.B. dieses Altpapier) sind sicher nicht zufällig. Die Kartellbehörden freuen sich bestimmt schon, ihr nun bei besagten US-amerikanischen Plattformen angeeignetes Wissen daran weiter zu erproben.

Warum Altmaier diese Idee vorantreibt, hat er zudem im Video-Interview von turi2.tv und Horizont erzählt, ironischerweise abrufbar bei Youtube:

"Ich glaube, dass die Plattformökonomie zur Digitalisierung mit dazu gehört, dass es aber ganz entscheidend ist, wer eine solche Plattform betreibt, und dass wir den Anspruch haben sollten als Europäer, auch als Deutsche, in diesem neuen, wichtigen Wirtschaftszweig nicht nur vertreten zu sein, sondern auch eine bedeutende Rolle zu spielen, und ich wünsche mir eben, dass durch eine solche deutsche oder europäische Plattform mit weltweitem Anspruch eben auch die Medienbranche in Deutschland die Möglichkeit bekommt, Inhalte mehr zu bestimmen, Inhalte mehr zu gestalten, als wenn wir diese Herausforderungen den großen, bereits vorhandenen Plattformen wie Google, Amazon und anderen überlassen.“

Thomas Mann wäre stolz, und Altmaiers Rhetorik-Coach sicher auch. Denn wer einfach immer weiterredet, muss keine blöden Nachfragen ertragen. Wie zum Beispiel: Bitte was?! Muss sich die europäische Wirtschaft von einem Minister sagen lassen, welches Produkt anzubieten lohnenswert wäre, und ist das nicht schon Planwirtschaft? Mangelt es der Medienbranche in Deutschland wirklich an Möglichkeiten, Inhalte zu bestimmen und zu gestalten?! Und warum zur Hölle kommt mir der im Hintergrund rumlungernde Mann so bekannt vor?!?

Ich habe gegoogelt, damit Sie es nicht müssen: Trotz fataler Ähnlichkeit handelt es sich bei dem Herrn mit Schal nicht um Gru, sondern um Olaf Glaeseker, früher mal Sprecher von Christian Wulff, bis dieser ihn wegen Korruptionsvorwürfen feuerte. Das Verfahren wurde 2014 gegen eine Geldauflage eingestellt. Seit Sommer vergangenen Jahres ist Glaeseker nun laut Pressemitteilung "Director Public Affairs bei Hubert Burda Media. In dieser neu geschaffenen Position ist Glaeseker verantwortlich für die Beziehungen des Unternehmens zu politischen Entscheidern vor allem in Brüssel und Berlin sowie für die Verbands- und Lobbyarbeit.“

So etwas kann man ja mal bei der Beurteilung zukünftiger Plattformideen für deutsche Verlage von deutschen Politikern im Hinterkopf behalten. Und ja, manchmal lohnt es sich auch, ganz nahe ran zu zoomen.

Altpapierkorb (Jugend und Medienschutz, Podcasts und Hörspiele, Friedrich Merz und die Bild-Zeitung)

+++ Margarete Stokowskimöchte nicht in einer Münchner Buchhandlung lesen, die Bücher rechter Autoren vertreibt. Warum das so ist, erklärt sie auf der Website ihres Verlags Rowohlt. Gute Sache, argumentiert Buchhändler Linus Giese in der taz. Ganz blöde Idee, findet Stefan Kister in der Stuttgarter Zeitung.

+++ Jugendmedienschutz ist wichtig, aber die Hälfte der Lehrer fühlt sich bei diesem Thema überfordert, ist das Ergebnis einer nicht repräsentativen Umfrage im Auftrag der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM), aus deren Pressestatement mir folgender Satz am besten gefällt: "Lehrkräfte unisono: Hauptverantwortung liegt bei den Eltern sowie einer Verantwortungsgemeinschaft aus Behörden, Content-Anbietern und Politik“. Für "@mediasres“ berichtet Claudia van Laak.

+++ Als gebe es der Ungereimtheiten im Fall des ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi noch nicht genug, machen nun auch noch Fotos die Runde, die seinen Leichnam zeigen sollen. Mit diesen und weiteren Falschmeldungen in der Sache befasst sich Patrick Gensing bei den Faktenfindern der "Tagesschau“.

+++ Jetzt ist die Band "Feine Sahne Fischfilet“ doch in Dessau aufgetreten (Altpapier). Den angeschlossenem Bericht in den Tagesthemen gab es schon gestern Abend. Das ZDF wird seinen Mitschnitt (den es entgegen einer anderslautenden Behauptung an dieser Stelle gab - Entschuldigung dafür!) am 1. Dezember bei 3sat zeigen.

+++ "Intendanten und Hörfunkdirektoren sprechen von ihnen gerne als von (sic?!) Leuchtturmprojekten und sonnen sich in deren Lichtkegeln. Ein Leuchtturm aber muss, soll er dauerhaft den Weg weisen, auf einem soliden Fundament stehen.“ So lautet heute auf der SZ-Medienseite Stefan Fischer zur Lage des Hörspiels bei der ARD (Spoiler: trotz "Nassem Fisch“ eher schlecht).

+++ Meanwhile, back at the FAZ-Medienseite (€): "Podcasting ist nicht Radio, in einzelne Sendungen zerlegt und zeitversetzt ausgestrahlt, selbst wenn Radios das gerne als Podcast verkaufen. Neue Erzählweisen und Inhalte tauchen auf.“ Und der öffentlich-rechtliche Hörfunk tut sich mit dieser Herausforderung im Podcast-Boom-Zeitalter noch schwer, meinen Hans Knobloch und Bernt von zur Mühlen.

+++ Die Bild-Zeitung unter Julian Reichelt hat nicht nur etwas gegen die Einwanderungsgesellschaft, sondern auch für Friedrich Merz, steht im Tagesspiegel. Vorher hatte das schon @niggi bemerkt ("Spätestens nächste Woche werden sie in @Bild Aufnahmen von Merz veröffentlichen, wo er über Wasser läuft“).

+++ Außerdem heute im Tagesspiegel: großer Fernsehtag! Nikolaus Festenberg rezensiert das "Ehe für alle, aber nicht gleiches Kinds-Recht für alle“-Drama "Unser Kind“ (ARD, 20.15 Uhr), während Katja Hübner Jenny Schily porträtiert, RAF-Terroristin im Zweiteiler "Der Mordanschlag“ (ZDF, 20.15 Uhr).

Neues Altpapier gibt’s wieder am Donnerstag.