Jugendschutz Handyverbot an Schulen: Gegen Spickzettel, Pornografie und Extremismus
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10. April 2024, 16:44 Uhr
Smartphones, die unter den Schultischen hervorgezogen werden und während des Unterrichts die Bildschirmzeit erhöhen, werden zum Problem. Auch, weil sich via Tiktok und Co. extremistische Inhalte verbreiten.
- Im Ausland werden grundsätzliche Handy-Verbote an Schulen teilweise durchgesetzt, zum Beispiel in Italien und Frankreich.
- Es geht bei der Verbotsdiskussion nicht nur um Spicken und Ablenkung, sondern auch um Videos mit extremistischem Inhalt.
- Extremismusforscher Özgür Özvatan sagt, demokratische Akteure dürften den Platz nicht den Extremisten im Netz überlassen. Dazu gehöre Medienkompetenz.
Tim Reukauf ist Lehrer an einem Gymnasium in Hildburghausen und engagiert sich im Thüringer Lehrerverband. Ihm zufolge gehören Smartphones, die unter den Schultischen hervorgezogen werden und die selbst während des Unterrichts die tägliche Bildschirmzeit erhöhen, "leider zur Schulrealität".
Er sagt: "Vor allem in Prüfungssituationen lösen Smartphones und Smartwatches die früheren Spickzettel ab." Und: Schülerinnen und Schüler seien zunehmend vereinzelt an ihren Handys zu beobachten, vor allem während der großen Pause.
Die Clique außerhalb der Schule sei oft interessanter als die Mitschülerinnen und Mitschüler vor Ort. Könnte ein Handy-Verbot helfen, zu den Kindern und Jugendlichen besser durchzudringen und "echte" soziale Kompetenz zu steigern?
Diskussion um Handy-Verbot
Handy-Verbote werden unter Lehrerinnen und Lehrern, Verbänden, Eltern und Medienkompetenzkräften immer wieder diskutiert. Im Ausland werden solche Verbote teilweise erlassen und durchgesetzt, zum Beispiel in Italien und Frankreich.
Im französischen 2.000-Einwohner-Dorf Seine-Port sind Handys im öffentlichen Raum sogar ganz "verboten". Nicht juristisch, aber moralisch. Der Gemeinde zufolge darf zwar niemand bestraft werden, der sich der bürgermeisterlichen Anordnung widersetze. Die "Erziehungsmaßnahme" solle aber bewirken, dass Erwachsene als Vorbilder für Kinder häufiger aufs ewige Scrollen verzichten.
In Deutschland sind Handy-Verbote an Schulen seltene Ausnahmen und werden schon gar nicht bundesweit eingesetzt. Denn alles was mit Schule und Bildung zu tun hat, ist Ländersache. Natürlich haben Lehrkräfte mit übergreifenden Phänomenen und Problemen zu tun, die länderunspezifisch sind. Das "Daddeln" am Handy ist ein solches.
Medienkompetenz für modernes Leben
Die Folgen bekommen Kinder- und Jugendmediziner täglich bei ihrer Arbeit zu sehen: Expertinnen und Experten zählen dazu Haltungsprobleme, Übergewicht, Typ 2-Diabetes, ein erhöhtes Maß von ADHS und Aggressivität sowie reduzierte Lern-, Konzentrations- und Schreibfähigkeiten.
Von Verboten hält Alexander Karpilowski vom "Netzwerk Medienkompetenz" in Sachsen-Anhalt dennoch wenig. Der Medienpädagoge sagt, man müsse vielmehr Regelungen für einen gesunden Umgang mit Smartphones finden.
Es gebe aber durchaus Schulen, die in ihrer Hausordnung ein Handy-Verbot durchsetzen würden. Bei Klassenarbeiten sei das sinnvoll. Was den Freizeitbereich angehe, sollten Eltern und Schulen dagegen mehr auf Sensibilisierung und Gesprächsoffenheit setzen, sagt Karpilowski.
Extremismus via TikTok und Co.
In der Diskussion um Handy-Verbote in Schulen geht es nicht nur um Ablenkung, Nachrichten schreiben und eine Art verordnetes "Digital Detoxing" für Schülerinnen und Schüler. Es geht dabei auch um die Verbreitung von extremistischen Memes und Videos, die teilweise in Mutproben, wie der "Hitlergruß-Challenge" münden.
In Pausen und im Unterricht werden dann radikale, homophobe, beleidigende Memes (eine Kombination aus Wort und Bild) angeschaut und verschickt. Über diese Bilder, Witze und Videos unterhalten sich dann die Kinder und Jugendlichen – oder lachen über Hitler- und Hakenkreuz-Fotografien.
Viele wüssten nicht, was die Videos und Memes inhaltlich transportieren, sagt der Extremismusforscher Dr. Özgür Özvatan von der Humboldt Universität in Berlin MDR AKTUELL. Es sei ein Zeitvertreib, der mit dem "Zappen am Fernseher" vergleichbar sei.
Gefahren und Potenziale anerkennen
Özgür Özvatan hält ein Handy-Verbot an Schulen für nicht sinnvoll, obwohl er sich besonders mit den Gefahren, die die ständige Nutzung von Social Media und Smartphones mit sich bringen, beschäftigt: "Dass sich Schülerinnen und Schüler beispielsweise gesellschaftspolitisches Wissen über Soziale Netzwerke aneignen und in bestimmten Themen teilweise informierter sind als ihre Lehrkräfte, das ist ein demokratisches Potenzial. Aber auch die Gefahren sind real."
Bei einem wissenschaftlichen Selbstexperiment seines Kollegen Nader Hotait von der Humboldt Universität bekam ein neu aufgesetzter Tiktok-User, der lediglich und als einziges Interesse "Kampfsport" angegeben habe, in kürzester Zeit, also innerhalb weniger Minuten, Wehrmachtsvideos, frauenfeindliche Inhalte und sogar islamistische und nationalistische Inhalt in die Timeline gespült.
Die Zensur von Videos bei Tiktok sei willkürlich, erklärt der Extremismusforscher. Kinder und Jugendliche bekämen dadurch auch verstörende, nicht jugendgerechte Inhalte zugespielt. Darunter auch extremistische und jugendpornografische Videos.
Demokratie muss im Netz stattfinden
Nicht jede Person, die mit radikalen und extremistischen Inhalten in Kontakt kommt, werde automatisch selbst radikalisiert, betont Özvatan im Gespräch. Die Gefahren und Potenziale müssten erkannt und über nachhaltige Lösungen gesprochen werden.
Er sagt, demokratische Akteure dürften den Platz nicht den Extremisten im Netz überlassen. Dazu gehöre Medienkompetenz. Auch bei Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und Politikerinnen und Politikern. Hier stimmt auch Tim Reukauf vom Thüringer Lehrerverband zu: "Medienkompetenz muss in Schulen dringend ausgebaut werden."
An der Nachfrage und dem Interesse an medienpädagogischen Workshops liege es übrigens nicht, sagt Alexander Karpilowski vom "Netzwerk Medienkompetenz". Sondern an der personellen Ausstattung: "Anfragen gibt es bei der Medienanstalt Sachsen-Anhalt und im Netzwerk haufenweise, aber die Angebote sind personalbedingt begrenzt."
Quelle: dpa, MDR AKTUELL (vdw)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 10. April 2024 | 16:11 Uhr