Kampfsport Wie der Kampf um die niedrigere Gewichtsklasse zum Problem wird

10. April 2023, 05:00 Uhr

In den Kampfsportarten werden die Athleten in Gewichtsklassen eingeteilt. Das soll gleiche Voraussetzungen ermöglichen. Doch lädt das System auch zum Missbrauch ein. Ziel des sogenannten Gewichtmachens ist es, in einer Gewichtsklasse unter dem eigenen Normalgewicht anzutreten. Die Grenzen zwischen diszipliniertem Essverhalten und einer krankhaften Essstörung sind fließend. Gesundheitliche Probleme und Verletzungen können die Folge sein.

"Elf Kilo Gewichtsverlust in 24 Stunden" oder "MMA Kämpfer verliert sieben Kilos in zehn Stunden" - Youtube-Videos mit solchen Titeln sind besonders im Kampfsport populär. Dort ist dann die Rede von "Nicht nachmachen!". Das bewusste Abnehmen vor einem Wettbewerb im Kampfsport wird als Gewichtmachen, Weight-Cut oder Abkochen bezeichnet.

In fünf bis sieben Tagen vor dem Wettkampf zwischen sechs bis acht Kilos abzunehmen, sei eine übliche Praxis, bestätigt der Erlanger Sportwissenschaftler Dejan Reljic. Nach seinen Angaben verlieren 40 Prozent der Sportler zwischen fünf bis zehn Prozent ihres Körpergewichts.

Ein fiktives Beispiel: Eine Athletin wiegt eine Woche vor ihrem Kampf 78 Kilogramm. Sie tritt zukünftig aber in der Gewichtsklasse an, die höchstens 70 Kilogramm erlaubt. In wenigen Tagen muss sie also acht Kilo verlieren. Viel Schweiß, wenig Kalorien und noch weniger Flüssigkeit für den Körper werden zu einer Tortur. Um das Zielgewicht zu erreichen, werden auch drastische Mittel eingesetzt.

Spezielle Schwitzanzüge sollen beim Abnehmen helfen

Die Profi-Sportlerin Julie Hölterhoff ist Mitglied der deutschen Judo-Nationalmannschaft. Auch sie bestätigt: "In den Kampfsportarten gehört es einfach dazu."

Für uns Leistungssportler ist das auch eine Art Körperbewusstsein. Wir kennen unsere Körper wirklich sehr gut und wissen, was wir ihm zumuten können."

Julie Hölterhoff Nationalmannschaftskader Judo

"Für uns Leistungssportler ist das auch eine Art Körperbewusstsein. Wir kennen unsere Körper wirklich sehr gut und wissen, was wir ihm zumuten können", so Hölterhoff. Im Gespräch mit MDR THÜRINGEN spricht sie über Methoden, wie möglichst viel Flüssigkeit verloren werden kann.

Dehydration ist die schnellste Variante, Gewicht zu verlieren. So nutzen laut Hölterhoff Profi-Sportler spezielle Schwitzanzüge und trainieren damit. Die Anzüge machen es dem Körper schwer zu atmen. Sie sind luftundurchlässig. Dies führt dazu, dass sich mehr Wärme bildet und der Körper mehr schwitzt.

Auch Salzbäder und ein Minimum an Getränken seien gängige Methoden. Der Wissenschaftler Reljic erzählt, dass eine Kalorienzuvor von etwa 18 Kilokalorien pro Kilogramm Körpergewicht in dieser Zeit eingehalten werde. Das sind bei einer Sportlerin mit 78 Kilo Körpergewicht 1.404 Kilokalorien - laut Relijic viel zu wenig bei vollem Trainingspensum.

Für die Profisportlerin Hölterhoff hat das Gewichtmachen aber auch noch eine andere Dimension: Es bereite den Körper mental und physisch auf einen Wettkampf vor. "Doch ein bewusster Umgang ist wichtig", so Hölterhoff. Als Leistungssportler könne man nicht auf Kohlenhydrate verzichten. Sonst bleibe die Leistung irgendwann auf der Strecke. Die Athletin spricht von einem schmalen Grat zwischen Gewichtsverlust und ausreichend Energie für den anstehenden Wettkampf.

Es geht inzwischen nicht mehr um den Wettkampf, sondern darum das Gewicht zu schaffen.

Sandra Klinger Schul- und Leistungszentrum Berlin

Gefahr für jugendliche Athleten

Bereits im Juniorenbereich werden die Sportler in Gewichtsklassen eingeteilt. Das kann besorgniserregende Folgen haben, warnt Sandra Klinger. Sie war U18-Bundestrainierin der Mädchen im Judo und arbeitet seit Beginn dieses Jahres im Schul- und Leistungssportzentrum Berlin als Judo-Trainerin.

"Es geht inzwischen nicht mehr um den Wettkampf, sondern darum, das Gewicht zu schaffen." Sie berichtet von Mädchen, die auch zu Trainingscamps Gewicht machen. "Da wird sich dreimal täglich gewogen. Hier fängt für mich eine Essstörung an."

Und sie berichtet von Mädchen, die immer weniger trinken, weil sie dadurch am schnellsten Gewicht verlieren. Im Regelfall beginnen die meisten Kampfsport-Athleten mit 13 Jahren, bewusst vor Wettkämpfen abzunehmen, sagt Klinger. Dabei gehe es nur um einen kurzfristigen Erfolg, der schlimme Folgen nach sich ziehen könne. Vor allem in der Pubertät haben Jugendliche auch mal das ein oder andere Kilo zu viel. Noch lange kein Grund, zwanghaft abzunehmen.

Gesundheitsrisiken des Gewichtmachens

Aber bringt Gewichtmachen wirklich einen Vorteil? Der Sportwissenschaftler Reljic belegt in seinen Studien, dass es sich lediglich um einen konservativen Irrglauben handelt. "Vermutlich erzielen die Athletinnen und Athleten gar keine Vorteile und sie treffen auch nicht auf einen physisch unterlegenen Gegner, weil die meisten anderen das genauso machen."

Somit bringt diese Vorgehensweise in den meisten Fällen keinen echten Wettbewerbsvorteil und sehr häufig sogar Nachteile, im schlimmsten Fall gesundheitliche Konsequenzen. Nach den Untersuchungen von Reljic wirkt sich die strategische Dehydration des Körpers insbesondere auf das Blutplasma aus. Dadurch steige die Gefahr einer Thrombose oder einer Nierenschädigung. Im schlimmsten Fall könne es zu einem Hitzschlag und Herzkreislaufversagen kommen.

Reljic stellte in seinen Studien als Folge des Gewichtmachens auch einen Mangel an Folsäure, Vitamin A und C fest. Außerdem würden der Hormonhaushalt und auch die Blutbildung massiv gestört. So werde das Blut durch die Dehydration dicker und junge rote Blutkörperchen würden abgebaut.

Längerfristige Folgen könnten eine geringere Knochendichte sein, was zu Osteoporose führen kann. Bei Sportlerinnen bleibe durch den gestörten Hormonhaushalt oft die Periode aus. Und das meist für Jahrzehnte. Reljic warnt: "Je früher mit dem Gewichtmachen begonnen wird, desto stärker belastet es den Körper."

Auch psychische Erkrankungen könnten die Folge sein. So litten einige an Konzentrationsstörungen, in anderen Fällen hätten die Betroffenen eine Depression oder eine Essstörung entwickelt.

Wege aus dem Teufelskreis

Die Profi-Judoka Hölterhoff bezeichnet das Thema Gewichtmachen als internes Problem. Sie fordert, das Thema bei Trainerlehrgängen stärker anzusprechen. Es sei eher ein Zwang, weil es alle machten.

Das belegen auch die Untersuchungen von Sportwissenschaftler Reljic. 70 Prozent der in seiner Studie befragten Sportler glauben, durch Gewichtmachen einen Wettkampfvorteil zu haben. Gleichzeitig gehen 70 Prozent der befragten Athleten davon aus, dass es gesundheitliche Nachteile mit sich bringt.

Während seiner Zeit am Olympiastützpunkt in Heidelberg betreute er unter anderem auch die deutschen Spitzenboxer und Ringer. Einige hätten das System des Gewichtmachens kritisiert, so Relijic, und auch ein Verbot gefordert.

Als Lösung schlägt Reljic vor, den Flüssigkeitshaushalt vor Wettkämpfen zu messen oder eine Body-Mass-Index-Grenze festzulegen. Angelehnt an die Skispringer. Bereits seit 2004 dürfen Springer mit Skianzug und Schuhen einen BMI von 20 nicht unterschreiten. Bei jedem 0,5 darunter wird die maximale Skilänge um zwei Prozent gekürzt.

MDR (nis)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 10. April 2023 | 19:00 Uhr

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