NS-Verbrechen Wird die Anerkennung der vergessenen Nazi-Opfer vergessen?

06. April 2023, 05:00 Uhr

Wer nicht in das rassistische Idealbild der Nationalsozialisten passte, wurde verfolgt, weggesperrt oder ermordet. Selbst arme Menschen, die kleine Diebstähle begingen, mussten unter den Nazis in Konzentrationslager. Vor drei Jahren wurde im Bundestag beschlossen, diese als Opfer des NS-Regimes anzuerkennen. Doch seitdem ist fast nichts passiert.

Zwischen grauen Pflastersteinen liegt der kleine, mattgoldene Stein vor einem Wohnhaus in Hamburg. Darauf steht: Erna Lieske, Ermordet 23. April 1943 in Auschwitz. Jahrelang war dort noch "Gewohnheitsverbrecherin" zu lesen - eine menschenverachtende Charakterisierung der Nazis im Dritten Reich. "Da waren wir sehr verärgert", berichtet die Enkelin Liane Lieske. Ihr Bruder habe gesagt: "Zum zweiten Mal gedemütigt." Erst viel später wurde die Inschrift des Stolpersteins geändert.

Erna Lieske stammte aus bitterarmen Verhältnissen und hielt sich mit kleineren Diebstählen über Wasser. Die Enkelin Liane Lieske hat über Jahre aus Archiven zusammengetragen, was über ihre Großmutter zu finden war. Erna Lieske wurde 1900 geboren und wuchs ohne Mutter und Vater auf. "Dann hat sie irgendwo Kleidung mitgehen lassen oder ein Tischtuch, um das zu Geld zu machen", sagt Liane Lieske. Es seien nie wertvolle Sachen gewesen. Doch vor Gericht sei sie als "gefährliche Gewohnheitsverbrecherin" eingestuft worden. Obwohl es im Urteil auch geheißen habe, dass sie aus Not gehandelt habe, stand dort: "In ihr ist ein unbezähmbarer Hang zum Verbrechen."

Alle Menschen, die nicht ins rassistische und politische Idealbild der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gehörten, wurden verfolgt. Dazu gehörten auch Kleinkriminelle wie Erna Lieske. Sie wurde 1937 ins Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel gesperrt.

Drei Jahre später schrieb sie aus der Sicherungsverwahrung in Berlin ein Gnadengesuch an die Oberstaatsanwaltschaft in Hamburg. "Dass sie doch wieder Arbeit haben kann bei der Druckerei, und dass sie ein nützlicher Mensch im Dritten Reich sein kann", erzählt ihre Enkelin. Das Gnadengesuch wurde abgelehnt und Erna Lieske nach jahrelanger Haft schließlich im Vernichtungslager Auschwitz umgebracht.

Zehntausende KZ-Häftlinge als "asozial" und "Berufsverbrecher" klassifiziert

Sie war eine von Zehntausenden KZ-Häftlingen, die als "asozial" und "Berufsverbrecher" klassifiziert wurden. Diese trugen den schwarzen und den grünen Winkel. Es waren zumeist Obdachlose, Wanderarbeiter, Prostituierte oder Bettler - im Nazi-Jargon: "Ballastexistenzen".

"Die irre Idee lautete: Es gibt Menschen, die werden kriminell, weil sie kriminelle Gene in sich tragen", erklärt der emeritierte Professor für Sozialforschung, Frank Nonnenmacher. Deshalb habe man im nationalsozialistischen Deutschland dafür gesorgt, dass die sogenannten Asozialen weggesperrt würden. "Damit sie sich nicht vermehren, damit die reine, saubere nationalsozialistische Gesellschaft befreit wird."

Sozialwissenschaftler Nonnenmacher kennt ein solches Schicksal aus der eigenen Familie. Sein Onkel Ernst musste als vermeintlicher "Berufsverbrecher" im KZ Schwerstarbeit verrichten. Eine Anerkennung für dieses Leiden, die anderen NS-Opfern gewährt wurde, blieb ihm versagt. Nonnenmacher setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass es anderen, bislang stigmatisierten Verfolgten nicht auch so geht.

Denn deren Nachkommen hätten immer noch große Probleme. "Weil für Opa oder Oma - wer auch immer die Opfer sind, die in der Gesellschaft bis heute diskriminiert und ignoriert werden - das gesellschaftliche Vorurteil gilt: Die waren ja zu Recht im KZ", sagt Nonnenmacher. Anders ausgedrückt: Die von den Nazis damals auf perfide Weise aufgegriffenen Vorurteile und Abneigungen gegenüber bestimmten Randgruppen wirken in der Bevölkerung so offenbar bis heute nach.

Es gilt bis heute das gesellschaftliche Vorurteil: Die waren ja zu Recht im KZ.

Frank Nonnenmacher emeritierter Professor

Vor drei Jahren Beschluss, doch Anerkennung fehlt bis heute

Nach vielen Jahren schien Nonnenmacher schließlich am Ziel zu sein. Im Februar 2020 beschloss der Bundestag, auch die als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" bezeichneten Menschen als Opfer des NS-Regimes anzuerkennen. Ihre Schicksale sollten stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Auch Entschädigungszahlungen an Überlebende sollte es geben. Doch: Passiert ist seitdem wenig. Eine Wanderausstellung ist in Planung.

Vor fünf Jahren hat MDR Investigativ schon einmal über die fehlende Anerkennung für diese Menschen berichtet.  Damals wurde auch Ilse Heinrich interviewt. Sie war als 20-Jährige im KZ Ravensbrück eingesperrt. Ihr Vergehen: Sie war von zu Hause ausgerissen, weil sie sich mit ihrer Stiefmutter nicht verstanden hatte. Im Dritten Reich galt sie daraufhin als "arbeitsscheu".

Ilse Heinrich will noch immer eine offizielle Anerkennung als Opfer des NS-Regimes: "Alle haben gelitten und alle haben um ihr Leben gekämpft. In dem Moment sind doch alle gleich, finde ich", erklärte sie 2018. Doch bis heute ist keine Entschädigung für die Zeit im KZ und eine individuelle Anerkennung bei Ilse Heinrich und anderen Opfern erfolgt.

"Den wenigen Überlebenden, die ich noch kenne, bedeutet die ausbleibende Anerkennung sowohl finanzieller, aber vor allem gesellschaftlicher Art, eine tiefe Demütigung", sagt Nonnenmacher. Sein Eindruck: Die meisten Verantwortlichen im Bundestag seien damit zufrieden, dass es einen Beschluss gebe und eine Wanderausstellung geben solle - die gerade vorbereitet wird. "Und dass das doch damit erst mal genug ist."

Angehörige von Opfern wollen politischen Druck erhöhen

Vor fünf Jahren unterstützte auch Claudia Roth einen Appell von Nonnenmacher. Inzwischen ist die Grünen-Politikerin Bundesbeauftragte für Kultur und könnte sich jetzt für die Umsetzung des Bundestagsbeschlusses einsetzen. MDR Investigativ wollte von ihr wissen, warum das nicht viel stärker geschieht? Für ein Interview findet sie allerdings keine Zeit.

"Ich habe nicht das Gefühl, dass das jetzt die erste Priorität wäre", sagt ihr Parteikollege aus dem Kulturausschuss, Erhard Grundl. Das lasse ihn eigentlich nicht ruhen. "Aber es ist ein sehr dickes Brett. Das hatte ich vielleicht am Anfang auch ein bisschen unterschätzt. Aber schlussendlich steht für mich auf jeden Fall die zentrale Aussage, dass niemand zu Recht im KZ war und schon gar nicht Leute, die keine Lobby hatten."

Nonnenmacher will zusammen mit anderen Angehörigen nun den politischen Druck wieder erhöhen. Ende Januar haben die Nachfahren und er deshalb den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus" gegründet. Darüber sollen sich weitere Mitstreiter finden und so dem Anliegen endlich Gehör verschaffen.

Hinweis aus der Redaktion: Angehörige vergessener NS-Opfer können sich bei der Initiative zur Verbandsgründung melden unter: fnoma@gmx.de

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 05. April 2023 | 20:15 Uhr

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