Ein Kind sitzt alleine in einem Klassenraum.
Das Bildungsniveau sinkt aus den verschiedensten Gründen, ein dauerhafter Mangel an Lehrkräften trägt allerdings erheblich dazu bei. Bildrechte: IMAGO / photothek

Baustellen im Schulsystem Was tun gegen das sinkende Bildungsniveau?

20. August 2023, 05:00 Uhr

Neues Schuljahr, altes Problem: Es mangelt an Lehrkräften. Tausende Lehrerinnen und Lehrer fehlen an Deutschlands Schulen, das Bildungsniveau sinkt Studien zufolge bei Grundschülern bereits. Der Wissenschaftler Olaf Köller spricht im Interview über nötige Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler und darüber, wie Quer- und Seiteneinstiege die Personaldecke sichern könnten.

Deutschland hat ein Problem: Es gibt zu wenige Lehrkräfte. Und das hat fatale Folgen: Viele Grundschüler können nicht ausreichend gut lesen, schreiben und rechnen. Das zeigen Studien wie der IQB Bildungstrend des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) aus dem Jahr 2022. Der Bildungswissenschaftler und Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz Olaf Köller war maßgeblich an der Untersuchung beteiligt. Im Interview spricht er über die Gründe für das sinkende Bildungsniveau, über nötige Fördermaßnahmen für benachteiligte Schülerinnen und Schüler und darüber, wie schnell für mehr Lehrpersonal gesorgt werden könnte.

MDR AKTUELL: Herr Köller, Studien wie der IQB Bildungstrend, den unter anderem Sie mit ins Leben gerufen haben, zeigen, dass das Bildungsniveau schon bei Grundschülerinnen und Grundschülern sinkt. Woran liegt das?

Olaf Köller: Das hat vielfältige Gründe. Die Schulschließungen während der Pandemie haben insbesondere auch die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler, die es ohnehin schon schwer hatten, zeitweise vom Lernen ausgeschlossen. Das hat, so viel wissen wir mittlerweile, zu erheblichen Lernrückständen geführt, die auch bis heute nicht wieder aufgeholt wurden. Gleichzeitig müssen wir auch konstatieren, dass sich die Schülerschaft hinsichtlich ihrer Zusammensetzung verändert hat. Wir haben mehr bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler im System, und auch mehr Schülerinnen und Schüler an den Schulen, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, die auch mehr Förderung brauchen. Das ist eines der großen Probleme: Wir haben eine veränderte Schülerschaft, aber das Schulsystem hat darauf nicht mit verstärkten Fördermaßnahmen reagiert.

Jeder vierte Grundschüler kann laut IQB Bildungstrend nicht gut genug lesen. Wann müssten Fördermaßnahmen ansetzen, um solche Studienergebnisse zu verhindern?

Das Ganze muss im Grunde schon in der Kita ansetzen, wenn die Kinder noch in der Vorschule sind. Dann müssten wir insbesondere im Bereich der Sprachförderung tätig werden. Kinder brauchen einen reichen, großen Wortschatz. Sie brauchen ein hinreichend großes Hörverstehen. In der Grundschule ist es dann ganz wichtig, dass man mit den Kindern flüssig lesen übt. Und in der Sekundarstufe eins geht es dann natürlich auch sehr stark darum, dass wir den Jugendlichen so etwas wie Lesestrategien beibringen, zum Beispiel: Wie stelle ich sicher, dass ich den Text, den ich gelesen habe, auch verstanden habe? Auch in Mathematik ist es oft so, dass Kinder schon in der Grundschule nicht die elementaren Grundrechenarten lernen. Sie bauen auch kein Zahlenverständnis auf.

Das klingt, als bröckelt das schulische Fundament. Sind die Grundschulkinder, die heute schlecht lesen und rechnen können, die fehlenden Fachkräfte von morgen?

Vor allem die sogenannten Risikogruppen. Das sind Kinder, die am Ende der Grundschule beziehungsweise nach der neunten oder zehnten Klasse nicht lesen, schreiben, rechnen können. Das sind Kinder, die entweder keinen Schulabschluss, oder bestenfalls den Hauptschulabschluss erreichen. Diese Jugendlichen haben es am Ausbildungsmarkt sehr schwer. Ein großer Teil dieser jungen Leute schafft es nicht in den Ausbildungsmarkt. Und das in einer Situation, in der viele Betriebe händeringend nach jungen Leuten suchen. Das heißt, wir haben die paradoxe Situation, dass wir reichlich Lehrstellen haben, diese Ausbildungsplätze aber vielfach unbesetzt bleiben. Und ungefähr genauso viele junge Leute kommen nicht in Ausbildung, weil sie unterqualifiziert sind und nicht eingestellt werden.

Und was kann man dagegen tun?

Systematische Förderung in den Kernfächern und mehr Unterstützung bei der Berufsorientierung. Und das auch nicht erst beginnend in der neunten oder zehnten Klasse, sondern frühzeitig in der Sekundarstufe eins.

Zur Person: Olaf Köller Olaf Köller ist der Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Er ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik und er ist Professor für empirische Bildungsforschung an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Für eine systematische Förderung bräuchte es ausreichend Lehrkräfte. Die jedoch fehlen an allen Ecken und Enden. Braucht das Bildungssystem eine Reform?

Wir haben auch als Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hierzu schon Empfehlung abgegeben. Man wird sich sicherlich keinen Gefallen tun, grundsätzlich das Schulsystem in seinen Strukturen zu verändern. Wir müssen uns beispielsweise überlegen, wie wir Quer- und Seiteneinstiege weiterhin möglich machen. Dass Lehrerinnen und Lehrer, die ursprünglich nicht Lehramt studiert haben, ins System kommen, wir sie dort aber gut weiterqualifizieren. Das muss auch attraktiver werden. Zum Beispiel: Wie können wir Informatikerinnen dafür gewinnen, dass sie möglicherweise aus dem Betrieb rausgehen, hinein in den Schulbetrieb, als eine Ein-Fach-Lehrkraft, die nur dieses eine Fach unterrichten muss. Wir müssen uns überhaupt überlegen, ob wir an den Universitäten auch das Ein-Fach-Lehramt viel leichter studierbar machen, gerade in naturwissenschaftlichen Fächern, für die es an Lehrpersonal mangelt.

MDR (nvm)

Dieses Thema im Programm: MDR recap bei YouTube | 18. August 2023 | 17:00 Uhr

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