EU-Verordnung Mangel an Medizinprodukten wegen teurer Zertifizierung – besonders Kinder leiden
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17. Januar 2024, 08:49 Uhr
Minderwertige Brustimplantate haben vor mehr als zehn Jahren einen Skandal ausgelöst – und eine Diskussion darüber, ob bei der Zertifizierung von Medizinprodukten nachgebessert werden sollte. Das hat die EU getan und 2017 eine neue Verordnung eingeführt. Etliche Produkte sind deshalb nun aber Mangelware, etwa Implantate für Kinder.
- Wegen eines Skandals um mangelhafte Brustimplantate hat die EU vor einigen Jahren eine neue Verordnung zur Zertifizierung von Medizinprodukten erlassen.
- Deshalb müssen Hersteller nun in einem aufwendigen Zulassungsverfahren jedes ihrer Produkte zertifizieren lassen.
- Das führt dazu, dass etliche Produkte nur noch schwer zu beschaffen sind und die Innovationskraft leidet.
Frank Orschler ist sauer. Er leitet ein Unternehmen, das Medizinprodukte herstellt: Implantate vornehmlich aus Titan. Rund 10.000 verschiedene Produkte hat seine Firma Königssee Implantate im Angebot. Jedes einzelne davon muss jetzt zertifiziert werden. Der Grund dafür ist eine EU-Verordnung.
Skandal um minderwertige Brustimplantate
Ein tiefgreifender Wandel für die Hersteller – ausgelöst durch den Skandal um mangelhafte Brustimplantate vor mehr als zehn Jahren. Der Aufschrei war groß. In ihrer Bemühung, es besser zu machen, ist die EU aus Sicht des Thüringer Unternehmers Orschler aber übers Ziel hinausgeschossen – weit hinaus. "Das ist in etwa so", erklärt Orschler, "als würde man, nur weil irgendjemand besoffen Auto gefahren ist, nun jeden, der sich ins Auto setzt, kontrollieren, sprich jeden anhalten und pusten lassen."
Zertifizierung von medizinischen Produkten: Hohe Kosten und viel Aufwand für Hersteller
Etwa ein Drittel seiner Produkte habe er zertifizieren lassen, seitdem es die EU-Verordnung gibt. Für die Kosten müssen die Hersteller selbst aufkommen. Mit zwei bis drei Millionen Euro rechnet Frank Orschler dafür. Noch gelten Übergangsfristen – andernfalls hätte es von heute auf morgen einen drastischen Mangel zum Beispiel an Skalpellen, Implantaten oder Spritzen gegeben.
Doch auch so fehlt es nach und nach an Medizinprodukten. Besonders an solchen, die vergleichsweise selten nachgefragt werden. "Es ist natürlich so, und das machen alle bei den Implantaten, die am wenigsten gebraucht werden, also beispielsweise Implantate für die Kinderorthopädie, dass man sich da überlegt: 'Brauchen wir das noch – oder rechnet sich das noch?' Orschler fällt das nicht leicht: "Und ich kämpfe ganz persönlich mit mir, ob ich das meinem Unternehmen zumute oder eben den Kindern zumute. Dann mute ich das lieber meinem Unternehmen zu."
Branchenverband für Medizintechnik: Verordnung verfehlt ihre Ziele
Auch Eike Dazert spürt den Unmut bei den Unternehmen. Sie leitet den Branchenverband für Medizintechnik und Biotechnologie medways mit Sitz in Jena. "Was wir sehen ist, dass die Innovationskraft der Medizintechnikunternehmen sehr leidet. Einfach, weil sie viel jetzt in die Dokumentation und Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Produkte stecken müssen. Die Innovationszeiten und -zyklen verlängern sich", erklärt Dazert. Die Ziele der EU-Verordnung, nämlich die Patientensicherheit und Versorgungsqualität zu verbessern, werden dadurch aus ihrer Sicht größtenteils verfehlt.
Das würde auch Salmai Turial sofort unterstreichen. Er ist Chefarzt der Kinderchirurgie an der Uniklinik Magdeburg und vermisst von einem Tag auf den anderen Hilfsmittel für seine jüngsten Patientinnen und Patienten.
"Ein Beispiel sind extra feine Einführhilfen, die bei minimalinvasiven Eingriffen gebraucht werden, sogenannte Trokare. Die sind zwei Millimeter groß und die sind komplett herausgenommen worden und werden nicht mehr produziert, weil davon keine große Stückzahl verkauft wird." Die Leidtragenden seien die Kinder.
Was also tun? Salmai Turial versucht jetzt gemeinsam mit einem Doktoranden, selbst Einführhilfen herzustellen – mit dem 3D-Drucker.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 18. Januar 2024 | 06:00 Uhr