Unter Anleitung eines Übungsleiters trainieren  2017 Seniorinnen mit einem Tennisbällen.
Bestimmte Übungen können die Gangsicherheit von Senioren erhalten – wie hier in einem Seniorenkurs in Brandenburg. Bildrechte: picture alliance / Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/ZB | Patrick Pleul

Trittunsicherheit im Alter 10 Millionen Stürze im Jahr: Altersmediziner fordern Hilfe für alte Menschen

12. August 2023, 05:00 Uhr

Trittunsicherheit und Stürze sind im Alter keine Seltenheit. Die Gesundheitsrisiken sind sehr hoch, nebenbei kosten solche Unfälle Krankenkassen jährlich Milliarden. Altersmediziner sagen, dass sich viele Stürze vermeiden ließen, wenn Probleme früher erkannt und mit den Senioren Übungen durchgeführt würden. Sie empfehlen simple Maßnahmen.

Etwa 10 Millionen ältere Menschen stürzen jedes Jahr in Deutschland. Davon enden rund 500.000 stationär im Krankenhaus. Eine Zahl, die zu groß ist, findet Clemens Becker. Er ist Sturzexperte der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Gemeinsam mit einem internationalen Team hat er die erste globale Leitlinie zur Sturzprävention veröffentlicht. Darin werden Ärztinnen und Ärzten verschiedene Behandlungsmethoden empfohlen, mit denen sie Stürze bei ihren Patientinnen und Patienten in Zukunft besser verhindern können.

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MDR AKTUELL Mo 07.08.2023 14:17Uhr 04:17 min

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Bisher passiere in diesem Bereich jedoch noch nicht genug, mahnt Clemens Becker. Man habe zum Beispiel festgestellt, dass Menschen, die nach einem Sturz in der Notaufnahme behandelt wurden, danach fast nie durch ihren Hausarzt oder andere Akteure in Sachen Sturzprävention betreut würden. Zumindest solange beim Sturz nichts Schlimmeres wie etwa ein Oberschenkelbruch passiert sei, würden nur etwa zehn Prozent der Gestürzten später explizit betreut. Ein Problem, sagt Becker, denn: "Wenn jemand unabsichtlich hingefallen ist, ist die Wiederholungswahrscheinlichkeit 70 Prozent, dass in den nächsten zwölf Monaten wieder ein Sturz oder möglicherweise tatsächlich auch eine schwere Verletzung auftritt."

Nur wenige Stürze werden dem Hausarzt gemeldet

Dass Hausärztinnen und Hausärzte hier so wenig reagieren, liege unter anderem daran, dass sie nur ungefähr von jedem fünften Sturz wüssten. "Es wird nicht aktiv nachgefragt, aber es wird eben auch nicht berichtet. Unter anderem, aus der Sorge heraus, dass man als alt oder gebrechlich oder klapprig abgestempelt wird. Also ist die Aufforderung an die Ärzte, einmal im Jahr drei Dinge abzufragen: Erstens, ob jemand gefallen ist, zweitens, ob der subjektive Eindruck der Patienten ist, dass sie schlechter gehen als noch vor einem Jahr und das dritte wäre die Frage, ob die Leute Angst haben, hinzufallen", erklärt Becker.

Sinnvoll sind diese Befragungen bei Menschen, die 70 Jahre und älter sind. Dabei ist es wichtig, dass sensibel mit dem Thema Sturz umgegangen wird. Das zeigen auch Erfahrungen, die Camilla Heinz teilweise in ihrer Hausarztpraxis in Leipzig macht: "Ich beobachte schon, dass Patienten das von sich aus sehr spät oder manchmal auch gar nicht erzählen. Manche sind da sehr eitel und können das nicht so gut akzeptieren, dass sie jetzt doch ein bisschen älter und gebrechlicher werden."

Auch Medikamenteneinnahme soll geprüft werden

Die Hausärztin findet es deshalb gut, dass die Leitlinien noch mal darauf aufmerksam machen, dass es wichtig ist, auch aktiv auf die Patientinnen und Patienten zuzugehen. Auch Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, hält die Befragungen für sinnvoll. Doch oft fehle in den Hausarztpraxen dafür einfach die Zeit: "Wenn wir davon ausgehen, dass das zu wenig stattfindet, dann hat das häufig damit zu tun, dass die Zeit natürlich sehr beschränkt ist und dass wir sehr viele andere Dinge in der Praxis zu tun haben."

In den Leitlinien zur Sturzprävention finden Hausärztinnen und Hausärzte aber noch weitere Empfehlungen. Zum Beispiel sollen sie die Medikamente ihrer Patientinnen und Patienten einmal im Jahr überprüfen. Manche Medikamente erhöhen die Gefahr, zu stürzen und es kommt immer wieder vor, dass Medikamente länger oder höher dosiert eingenommen werden als eigentlich nötig.

Ergotherapeutischer Hausbesuch kann verordnet werden

Clemens Becker zählt noch weitere Punkte auf: "Eine gute augenärztliche oder zumindest vom Optiker durchgeführte Untersuchung. Das dritte ist, dass spätestens dann, wenn jemand einen Sturzunfall hatte, man das häusliche Umfeld mal angucken sollte. Die besten Experten und Expertinnen dafür sind die Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten. Ein ergotherapeutischer Hausbesuch, kann vom Hausarzt auf Rezept verordnet werden. Das vierte ist das Thema Training. Wichtig ist vor allem, dass man die Balance trainieren muss."

Zusätzlich empfiehlt er, dass eine Ganganalyse mit dem sogenannten "Timped up an go test" gemacht wird: "Dafür steht man auf, geht drei Meter, umrundet dann zum Beispiel eine Sprudelflasche und geht wieder zurück und setzt sich wieder auf einen Stuhl." All diese präventiven Maßnahmen würden jedoch insgesamt zu wenig in den Hausarztpraxen umgesetzt. "Das, was tatsächlich passiert, ist häufig erbärmlich, weil eben die Chancen, weder die Analyse der Medikamente, noch die Wohnanpassungen, noch die Visuskontrolle beim Augenarzt, noch das Trainingsprogramm ermittelt wird."

Bodendieck: Heilmittelrichtlinie reicht nicht aus

Hausärztin Camilla Heinz erzählt, dass sie bereits einiges von dem, was in der Leitlinie steht, in ihrer Praxis anwende. Die Gang- und die Medikamentenanalyse zum Beispiel, gehören zur täglichen Arbeit mit älteren Menschen dazu. Wenn nötig, verschreibt sie auch Krankengymnastik oder Gehtraining. Hausärztinnen und Hausärzte können längerfristige Krankengymnastik zur Sturzprävention verschreiben. Dafür gibt es in der Diagnoseliste der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sogar eine eigene Kodierung.

Laut Erik Bodendieck reichen die Heilmittelrichtlinien hier jedoch nicht aus: "Ergotherapie, Balancetraining, da beschneidet uns die Heilmittelrichtline. Wir kennen das Problem, dass vieles, das in Leitlinien steht, nicht in der normalen GKV-Leistung abgebildet ist. Dadurch kommen dann Defizite in der Behandlung am Ende zum Tragen, die aber nicht den Ärzten anzulasten sind, sondern die tatsächlich den ökonomischen Gegebenheiten und Maßgaben des gemeinsamen Bundesausschusses und des Gesetzgebers anzulasten sind. Ich halte eine immense Verstärkung der Maßnahmen in diesem Bereich für dringend notwendig."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 07. August 2023 | 06:00 Uhr

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