Interview "Höckes Forderung gleicht Exklusion von Behinderten aus der Gesellschaft"

03. September 2023, 05:00 Uhr

Thüringens AfD-Vorsitzender Björn Höcke will keine Inklusion an Schulen. Christian Oechsner ist schwerbehindert und hat viel von Inklusion profitiert. Er sagt, Inklusion abschaffen würde behinderte Menschen nicht nur von Bildung, sondern auch aus der Gesellschaft ausschließen.

MDR AKTUELL: Herr Oechsner, als Sie die Äußerungen vom Thüringer AfD Chef im MDR-Sommerinterview hörten, Zitat: "Projekte wie Inklusion und Gender-Mainstreaming bringen unsere Kinder nicht weiter." Inklusion sei ein Ideologieprojekt, von dem man das Bildungssystem befreien müsse. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Christian Oechsner: Um ehrlich zu sein, haben mich Herrn Höckes Aussagen nicht überrascht. Mittlerweile sollten alle wissen wessen Geistes Kind er ist und welche minderheitenfeindlichen Positionen er und seine Partei vertreten.

Empörend fand ich seine Äußerung aber doch. Besonders seine Wortwahl ist nicht hinnehmbar. Er brandmarkt Inklusion mit dem Begriff "Ideologieprojekt" ganz klar negativ. Er möchte das Bildungssystem "befreien". Er stellt Inklusion als etwas Böses, Schädliches dar, etwas, wovor man die Gesellschaft schützen müsse.

Hier muss man ganz klar sagen: Nein. Das "Aufeinandertreffen" von behinderten und nicht behinderten Menschen trägt zur sozialen Bildung bei, worunter ich die Ausbildung von Verständnis und Toleranz als Basis für einen respektvollen Umgang miteinander sehe. Höckes Aussage: "es würde unsere Kinder nicht weiterbringen" halte ich für vollkommen falsch.

Auch Mitschüler profitieren von Inklusionskindern

Sie selbst haben eine inklusive Schule besucht. Was hat das für sie bedeutet?

Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist es für ein schwerbehindertes Kind etwas ganz Besonderes, mit nicht behinderten Kindern aufzuwachsen und zu lernen. Es hat mein Leben bereichert und mich entscheidend positiv geprägt. Ich konnte eine Perspektive mitnehmen. Ich wusste nach meiner Grundschulzeit in Bad Lobenstein, dass auch ich etwas erreichen kann, wenn ich mich bemühe. Dieser Glaube war sehr wichtig für mich.

Ich habe mich dort vollumfänglich integriert und akzeptiert gefühlt, aus diesem Grund bedeutet mir diese Zeit sehr viel. Am schönsten ist es aber, wenn ich mich mit ehemaligen Mitschülern unterhalte, die mir sagen, dass sie durch meine Anwesenheit gelernt haben, Toleranz und Empathie zu entwickeln. Das Ziel von inklusiver Beschulung wurde hier, meiner Meinung nach, erreicht.

Thüringens AfD-Chef Höcke sieht in der Inklusion an Schulen eher ein Hemmnis für die Leistungsfähigkeit von Kindern ohne Behinderung. Wörtlich heißt es im MDR-Sommerinterview: "Ideologieprojekte wie Inklusion" würden "unsere Schüler nicht weiterbringen", "unsere Kinder nicht leistungsfähiger machen". Fühlen Sie sich durch solche Äußerungen ausgegrenzt?

Ja, ich fühle mich durch Björn Höckes Äußerungen ausgegrenzt. Er unterstellt mit seinen Aussagen im Grunde allen behinderten Menschen Bildungsunfähigkeit. Er stellt sich eine klare Trennung vor und möchte behinderten Menschen einen normalen Bildungsweg und somit auch eine Zukunft in der Mitte der Gesellschaft verwehren. Das macht mich wütend.

Vielen Menschen fehlt sowohl das "Handwerkszeug" im Umgang mit behinderten Menschen als auch oftmals der Respekt vor ihnen. Diese Bildung lässt sich meiner Ansicht nach nur durch Inklusion erwerben.

Christian Oechsner

Herr Höcke bedenkt nicht, dass er mit der Ablehnung von Inklusion auch seinen "Fachkräften von morgen" – den nicht behinderten Schülern eine Bildungschance nimmt, die keinem versagt werden sollte. Soziale Kompetenz lernt man nicht aus Lehrbüchern.

Ich kann aus meinem Alltag berichten, dass diese soziale Bildung von immenser Bedeutung ist. Vielen Menschen fehlt sowohl das "Handwerkszeug" im Umgang mit behinderten Menschen als auch oftmals der Respekt vor ihnen. Diese Bildung lässt sich meiner Ansicht nach nur durch Inklusion erwerben.

Hier spricht Herr Höcke über die Bildung von behinderten Menschen, nun müssen wir leider davon ausgehen, dass er ähnliche ablehnende Haltungen auch zu anderen Themen hat, die behinderte Menschen betreffen. Wie steht er beispielsweise zur Barrierefreiheit, der sozialen Absicherung von behinderten Menschen, zu Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder der generellen Teilhabe von behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben? Sollten seine Gedanken, zu diesen Themen ähnlich derer zu Inklusion sein, so macht mir das große Sorgen.

Inklusion wird durch offene Lehrer und Mitschüler möglich

Wenn Sie an Ihre Schulzeit zurückdenken. Was würden sie sagen – hat inklusiver Unterricht funktioniert?

Ja, in meinem Fall hat inklusiver Unterricht funktioniert. Ich bin auf Lehrer getroffen, die den Mut hatten, dieses "Experiment" zu wagen, die sich durch Probleme nicht entmutigen ließen und die mir stets mit Verständnis begegneten. Ich hatte eine Schulbegleiterin, die mir immer zur Seite stand und ich hatte Mitschüler, die mich in ihrer Mitte aufgenommen haben.

Natürlich möchte ich nicht meine Eltern vergessen, die mir diese Chance überhaupt erst ermöglicht haben und immer an mich geglaubt haben.

Lassen Sie mich noch einen Gedanken hinzufügen: Auch Schülern, bei denen durch kognitive Einschränkungen eine dauerhafte inklusive Beschulung nicht möglich ist, sollte das "Aufeinandertreffen" mit nicht behinderten Schülern ermöglicht werden, beispielsweise durch die Durchführung gemeinsamer Wander- und Projekttage.

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Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden, damit die Thüringer Schulpolitik ihrem Anspruch von inklusiven Bildungsangeboten gerecht wird?

Die erste Priorität des Freistaats sollte es sein, für vollumfängliche Barrierefreiheit an den Schulen zu sorgen. Das schließt nicht nur das Vorhandensein eines Fahrstuhls ein, sondern beispielsweise auch die Zugänglichkeit der sanitären Anlagen und ausreichend breite Türen, damit ein Rollstuhl hindurchfahren kann.

Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass inklusiver Unterricht sich leichter und besser realisieren lässt, wenn in der Schule bzw. in der Klasse eine Schulbegleiterin oder ein Schulbegleiter die Arbeit des Lehrpersonals unterstützt. Deshalb muss, wenn inklusiver Unterricht gewollt ist, mehr Geld für Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter bereitgestellt werden.

Ohne Zugang zu gemeinsamer Bildung kein Zugang zur Gesellschaft

Wenn der Parteivorsitzende des als rechtsextrem eingestuften AfD-Landesverbandes, der derzeit die Thüringer Wahlumfragen anführt, eine solch radikale Kehrtwende in der Bildungs- und Gesellschaftspolitik fordert, beunruhigt sie das?

Was Herr Höcke hier fordert, ist nichts anderes als die Exklusion von behinderten Menschen aus dem Bildungssystem. Dies käme einer Exklusion aus der Gesellschaft gleich.

Christian Oechsner

Selbstverständlich macht mir, als Teil einer Minderheit, der Erfolg der Alternative für Deutschland sorgen. Was Herr Höcke hier fordert, ist nichts anderes als die Exklusion von behinderten Menschen aus dem Bildungssystem. Dies käme einer Exklusion aus der Gesellschaft gleich, denn ohne Bildung gibt es für keinen Menschen, unabhängig von einer Behinderung, keine Zukunft.

Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, dass die Alternative für Deutschland mit Ihren Ansichten, besonders in Thüringen auf so fruchtbaren Boden fällt. Parteien wie die Alternative für Deutschland und Menschen wie Björn Höcke gab es in unserm Land immer wieder, jedoch waren sie, seit dem Ende des drittes Reiches, nie wieder derart erfolgreich wie heute. Diese Tatsache bereitet mir großen Kummer.

Die Möglichkeit das Herr Höcke im nächsten Jahr Ministerpräsident des Freistaates Thüringen werden könnte, schockiert mich. Ich hoffe, dass dieser Fall nicht eintritt.

Behinderungen sind gesellschaftliche Realität und sollten früh kennengelernt werden

Wie sollte Ihrer Meinung nach eine gesellschaftliche Debatte über Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung geführt werden?

Ich glaube es ist wichtig, dass eine solche Debatte überhaupt in Gang kommt. Behinderte Menschen müssen in unserer Gesellschaft sichtbarer werden. Wenn es uns gelingt, Inklusion als Bildungschance für alle Menschen zu begreifen, als bereichernd für nicht behinderte und behinderte Menschen unabhängig von Alter und Intellekt, dann haben wir viel erreicht. Die Existenz von behinderten Menschen ist eine gesellschaftliche Realität, mit der die Mehrheit regelmäßig und so früh wie möglich konfrontiert werden müssen. Wir können bei dieser "Konfrontation" nur voneinander lernen.

Vor allem aber muss es darum gehen aufzuklären, Ängste und Vorurteile abzubauen. Weshalb ich auch einen Austausch, wie wir ihn hier gerade haben, für notwendig und essenziell halte. Ich habe es in meiner Grundschulzeit erlebt und erlebe es wöchentlich bei der Wohnungsgenossenschaft Pößneck, Inklusion kann gelingen, wenn sie gewollt ist. Auch behinderte Menschen können Fachkräfte sein. Man muss Ihnen nur eine Chance geben und darf sich nicht von Menschen leiten lassen, die Angst verbreiten wollen.

Über Christian Oechsner Christian Oechsner (28), geboren in Saalfeld/Saale. Durch Sauerstoffmangel bei der Geburt ist er schwerbehindert (starke Spastik in den Beinen, Sprachstörung). Auf einen Rollstuhl ist er täglich angewiesen.

Von 2003 bis 2007 besuchte er die freie Montessori-Schule in Bad Lobenstein (Grundschule). Von 2007 bis 2014 besuchte er das Staatlich-regionale Förderzentrum in Gera. Seine schulische Laufbahn beendete er mit einem guten Realschulabschluss. Eine Ausbildung hat er nicht.

Seit Oktober 2014 arbeitet er bei der Pößnecker Werkstätten gGmbH in Pößneck (Werkstatt für behinderte Menschen). Dort wird er nicht als Bürokraft bezahlt, sondern erhält den sogenannten "Behinderten-Lohn" und ist zusätzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Seit September 2017 ist er zweimal wöchentlich im Außeneinsatz bei der Wohnungsgenossenschaft in Pößneck. An beiden Einsatzorten ist er im Büro mit allgemeinen Verwaltungstätigkeiten befasst.

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