Es fehlt Geld vom Land Behinderteneinrichtungen in Sachsen-Anhalt schlagen Alarm

18. März 2023, 05:00 Uhr

Wo bleibt das Geld für die Behinderteneinrichtungen in Sachsen-Anhalt? Das fragen sich viele Betreiber seit Monaten. Denn die Verhandlungen mit dem Land stagnieren seit Ende vergangenen Jahres. Die Kosten sind gestiegen und noch wissen zahlreiche Einrichtungen nicht, ob und wie die Finanzlücke geschlossen wird. Schon jetzt müssen Angebote für die Bewohner gekürzt werden.

Das Becken mit den hellblauen Fliesen ist leer. Im 15-Quadratmeter-Therapiebad der Behindertenhilfe in Quedlinburg werden normalerweise Kinder – mit und ohne Einschränkungen – ans Wasser gewöhnt. Auch die Bewohner der Einrichtung haben das Becken genutzt. Doch seit Januar ist das Wasser raus. Die Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg kann es derzeit nicht betreiben – aus Kostengründen. Denn die steigen überall. Und noch immer ist unklar, in welchem Umfang die Finanzierung dieser Kostensteigerungen im laufenden Jahr durch das Land Sachsen-Anhalt erfolgt. Immerhin ist bereits März.

Über die Verhandlungen mit dem Land sagt der Geschäftsführer der Lebenshilfe, Andreas Löbel: "Es sieht schlecht aus. Zurzeit stagniert alles!" 300 Menschen mit Beeinträchtigung leben in den Einrichtungen der Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg und arbeiten in Werkstätten. Die Finanzierung erfolgt durch das Land Sachsen-Anhalt, dem Kostenträger der sogenannten Eingliederungshilfe. Die Situation sei dramatisch, so Löbel. "Also uns fehlen für das Jahr 2023 über eine Million Euro an unserem Haushalt, was sich aus Tarifen, Kerninflation und natürlich aus der Energiesituation herausgestellt hat."

Also uns fehlen für das Jahr 2023 über eine Million Euro an unserem Haushalt.

Andreas Löbel Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg

Alles ist teurer geworden: Lebensmittel und Heizung

Energie, Lebensmittel, Rohstoffe – alles ist erheblich teurer geworden. Viele Einrichtungen der Behindertenhilfe in Sachsen-Anhalt sind in einer ähnlichen Situation. Die Angebote des Landes zum Ausgleich dieser Kostensteigerungen vom Dezember waren in den Augen des Spitzenverbandes "Der Paritätische" viel zu gering. "Wir haben ausgerechnet, dass wir 8,1 Prozent benötigen", erklärt die Landesgeschäftsführerin Antje Ludwig. Das entspreche auch den Berechnungen von Wirtschaftsinstituten. "Das Land hat weniger als die Hälfte, nämlich 3,9 Prozent, angeboten." Damit, befürchtet man beim Verband, würden nicht alle Einrichtungen über die Runden kommen.

Kritik kommt nicht nur von Wohlfahrtsverbänden, sondern auch von kommunalen Einrichtungen. Die Paul-Riebeck-Stiftung ist eine der großen in Sachsen-Anhalt. Rund 230 Menschen mit Beeinträchtigungen werden von der Stiftung betreut. Auch hier sieht man die bisherigen Verhandlungen mit dem Land als gescheitert an. Außerdem wird das Argument des Landes zurückgewiesen, es habe ja im vergangenen Sommer eine zusätzliche Erhöhung um 6,6 Prozent gegeben.

"Die Kostensteigerungen, die im vergangenen Jahr zugestanden wurden, sind in der Zwischenzeit verbraucht", sagt Kai-Lars Geppert von der Paul-Riebeck-Stiftung. Die Kostensteigerungen der Stiftung lägen bei zehn Prozent und mehr. "Bei uns in der Paul-Riebeck-Stiftung sind das in der Zwischenzeit Mindereinnahmen von etwa 75.000 Euro pro Monat."

Über 700 Verfahren stapeln sich bei Schiedsstelle

In Sachsen-Anhalt ist die in Halle angesiedelte Sozialagentur die zuständige Behörde, die im Auftrag des Sozialministeriums mit den Leistungserbringern – also Wohlfahrtsverbänden, kommunalen Einrichtungen und privaten Trägern – über die nötigen Geldmittel für die Eingliederungshilfe verhandelt. Kommt es zu keiner Einigung, können die Beteiligten eine Schiedsstelle anrufen. In der sitzen je drei Vertreter des Landes und der Leistungserbringer. Außerdem ein unparteiischer Vorsitzender.

Die Paul-Riebeck-Stiftung ist vor diese Schiedsstelle gezogen, genauso wie die Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg. Insgesamt sind mehr als 700 Verfahren bei der Schiedsstelle anhängig. Offenbar kommt man dort mit der Bearbeitung der vielen Fälle schlicht nicht hinterher.

"Das stapelt sich regelrecht! Das ist einfach für uns eine unerträgliche Situation, weil wir nicht wissen: Wann kommt der Schiedsspruch?", sagt Ludwig vom Paritätischen. "In der Zwischenzeit müssen wir eine Vorfinanzierung bringen, müssen den Antrag an die Schiedsstelle stellen, der ist kostenpflichtig – es ist einfach eine Situation, die für uns so nicht akzeptabel ist, weil sie keine Perspektive wirklich aufzeigt!"

Sozialministerium zum Bearbeitungsstau

Doch wie kommt es dazu, dass die Verhandlungen derartig stocken und sich vor der Schiedsstelle 700 Verfahren aufstauen? Dazu erklärt das zuständige Sozialministerium in Magdeburg auf Anfrage von MDR Investigativ schriftlich, es sei durch das kumulierte Aufkommen von sehr vielen Einzelverhandlungen ein Bearbeitungsstau entstanden, denn die Verhandlungen könnten "natürlich nur sukzessive erledigt werden".

Weiter heißt es, die im Sozialgesetzbuch vorgegebene Konstruktion der Schiedsstellen lasse "eine Fallerledigung durch Schiedsstellenentscheidungen nur in überschaubarem Umfang zu. Die Verhandlungsparteien selbst sind aufgerufen, eigenverantwortlich und kompromissbereit Verhandlungsergebnisse zu erzielen." 

Je länger es dauert, desto schwieriger für die Einrichtungen

Die Analyse von der Linken-Landtagsabgeordneten Nicole Anger dazu ist eindeutig: "Das ist aus meiner Sicht das fortgesetzte Systemversagen, was durch die Sozialagentur hervorgerufen wird." Sie ist Mitglied im Sozialausschuss des Landtages und hat parlamentarische Anfragen zur Arbeitsbelastung und zu offenen Verfahren bei der Schiedsstelle ans Ministerium gestellt. Aus ihrer Sicht wisse man derzeit nicht, was hinter der Tür der Sozialagentur geschehe: "Da werden Prozesse ausgesessen, da wird nicht kommuniziert, da fehlen Eingangsbestätigung für Anträge und so weiter."

Das ist aus meiner Sicht das fortgesetzte Systemversagen, was durch die Sozialagentur hervorgerufen wird.

Nicole Anger Linken-Landtagsabgeordnete

Das große Problem: Je länger sich der Streit mit der Sozialagentur hinzieht, desto schwieriger wird es für die Einrichtungen. Denn die höheren Kosten, soweit sie nicht refinanziert werden, müssen irgendwo eingespart werden. "Das können dann mitunter Freizeitangebote sein: dass ich weniger Teilhabe-Möglichkeiten den Menschen anbieten kann – um eben sozusagen die Basics abzusichern", sagt Anger. Das Geld für Ausflüge könne eher eingespart werden als etwa bei der Heizung oder Lebensmitteln. Immerhin: Der Sozialausschuss des Landtages hat MDR Investigativ mitgeteilt, dass das Thema auf der Tagesordnung sei.

Quelle: MDR Investigativ/ mpö

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 15. März 2023 | 20:15 Uhr

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