Starkes Missverhältnis Deutschlandweit höchster Männerüberschuss in Sachsen-Anhalt

25. November 2024, 10:00 Uhr

Viele junge Männer, deutlich weniger junge Frauen: In vielen Regionen Sachsen-Anhalts ist das seit der Wiedervereinigung Realität. Welche Gründe zum Männerüberschuss geführt haben und warum auch heute noch viele junge Frauen ihre Heimat in Sachsen-Anhalt verlassen.

MDR San Mitarbeiter Manuel Mohr
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

In Sachsen-Anhalt ist das Geschlechterverhältnis unter jungen Erwachsenen so unausgeglichen wie in keinem anderen Bundesland. Umgerechnet kommen auf 100 Frauen im Alter zwischen 18 und 29 rund 117 Männer – ein deutlicher Männerüberschuss. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) hervor, die MDR Data ausgewertet hat. Zum Vergleich: Bei Geburt liegt das Verhältnis nach Destatis-Angaben bei etwa 105 Jungs auf 100 Mädchen.

105 zu 100 – so sah noch in den 1980er-Jahren umgerechnet das Verhältnis zwischen jungen Männern und jungen Frauen in Sachsen-Anhalt aus. Bis zur Wiedervereinigung. In den 1990er-Jahren entwickelte sich dann innerhalb weniger Jahre ein Männerüberschuss in der jungen Bevölkerungsschicht, der bis heute fortbesteht.

Ein Graph zeigt die Veränderung des Männerüberschusses in Sachsen-Anhalt zwischen den Jahren 1990 und 2023.
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Junge Frauen ziehen weg, junge Männer bleiben

Ein wesentlicher Grund dafür ist damals wie heute: Für die weiterführende Ausbildung nach dem Schulabschluss wandern mehr junge Frauen in Richtung Großstädte und alte Bundesländer ab als ihre männlichen Altersgenossen. Der Sozialgeograph Klaus Friedrich von der Uni Halle sagt im Gespräch mit dem MDR, dass sich bei den jungen Frauen nach der Wende eine regelrechte "Abwanderungskultur" herausgebildet hat. Mit dem Schulabschluss hieß es:

Wenn ich etwas werden will, dann muss ich in den Westen gehen.

Sozialgeograph Prof. Dr. Klaus Friedrich, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Ein älterere Mann
Sozialgeograph Prof. Dr. Klaus Friedrich Bildrechte: Klaus Friedrich

Dass diese Kultur heutzutage zwar nicht mehr so ausgeprägt, aber immer noch vorhanden ist, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse von Friedrich. Neben der Zuwanderung junger schutzsuchender Männer aus dem Ausland wirkt sich der "Fortbestand selektiver Wanderungen zum Zwecke von beruflicher Ausbildung und Studium" weiterhin negativ auf das Geschlechterverhältnis gerade in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands aus. Dabei verstärkt eine schlechte sozioökonomische Situation vor Ort – beispielsweise aufgrund niedriger Löhne und hoher Arbeitslosigkeit – die Abwanderung junger Frauen.

Die Folge: In Sachsen-Anhalt weisen alle Landkreise und kreisfreien Städte einen deutlichen oder sogar sehr deutlichen Männerüberschuss aus. Die einzige Ausnahme ist die Stadt Halle.

Magdeburg – ebenso wie Halle ein großer Hochschulstandort – verzeichnet in der Altersgruppe 18 bis 29 hingegen einen deutlichen Männerüberschuss. Laut Friedrich hängt das auch mit den inhaltlichen Ausrichtungen der Hochschulen zusammen. Während der Fokus vor allem an der Uni Magdeburg im technischen Bereich liegt, ist das an der Uni Halle nicht der Fall. Das spiegelt sich auch am Frauenanteil unter den Studierenden wider: Dieser liegt in Magdeburg bei etwa 42 Prozent, in Halle sind es hingegen 59 Prozent.

Männerüberschuss und seine Folgen

In der jüngsten Forschungsarbeit des Sozialgeographen Friedrich werden auch die vielschichtigen Probleme dargelegt, die der Männerüberschuss besonders in der klassischen Familiengründungsphase mit sich bringt. Denn durch die jahrzehntelange Abwanderung junger Frauen verringerte sich auch die Zahl der potenziellen Mütter immer weiter. Die Folge: Es werden immer weniger Kinder geboren, die daraus erwachsene Müttergeneration dementsprechend zahlenmäßig kleiner ausfällt als die vorherige.

Zudem bilden sich laut Friedrich im jungen Erwachsenenalter meist feste Partnerschaften. Ein zahlenmäßiges Defizit junger Frauen führt unweigerlich dazu, dass die Partnerfindung für junge Männer schwieriger wird. Das zeigen auch die Rückmeldungen der Menschen aus der MDRfragt-Community, die zu ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Männerüberschuss in ihrer Region befragt wurden:

Ich habe keine Frau fürs Leben finden können. Meine Mitschülerinnen sind alle nach dem Abi weggezogen. Drei sind bis heute wieder da.

MDRfragt-Mitglied aus dem Landkreis Stendal

Es erschwert die Partnerinnen-Suche, wenn man nicht gerade mit seiner Jugendliebe dauerhaft zusammengeblieben ist.

MDRfragt-Mitglied aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld

Die meisten Bewohner ziehen wegen der Arbeit nach der Schule weg und kommen mit einem Partner zurück.

MDRfragt-Mitglied aus dem Altmarkkreis Salzwedel

Aus einer "Bierlaune": Frauenfußballmannschaft gegen die Langeweile

Und auch für das gesellschaftliche Zusammenleben hat der Mangel an Frauen Folgen. Denn laut Friedrich braucht es gerade auf dem Land soziale Orte, an denen sich Menschen begegnen können.

Ein Beispiel dafür ist die 47-Jährige Bianca Gensicke aus Wörlitz. Sie gründet 2016 die Frauenfußballmannschaft des SV Grün-Weiß Wörlitz – aus einer "Bierlaune" heraus, wie sie sagt. Denn als Mutter von zwei Kindern weiß sie, dass Freizeitangebote in der Region rar gesät sind. Neben dem Verein, in dem sie selbst die Kindermannschaft mit betreut, gebe es kaum etwas. "Es hat sich in den Jahren ganz wenig getan. Es ist nach wie vor schwierig. Wenn man den Kindern was bieten will, muss man eben weit fahren", sagt sie.

Manuel Mohr vom Team MDR Data, erklärt wie er bei der Recherche zum Männerüberschuss vorgegangen ist. 4 min
Bildrechte: MDR/Maximilian Fürstenberg
4 min

04:09 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/dessau/wittenberg/video-behind-mdr-data-zu-viele-junge-maenner-recherche-100.html

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MDR (Manuel Mohr, Maximilian Fürstenberg) | Erstmals veröffentlicht am 24.11.2024

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 24. November 2024 | 19:00 Uhr

122 Kommentare

Jana vor 1 Wochen

Na klar, und die DDR Schutthalden haben die Ostdeustchen ganz alleine weggeräumt nach der Wende und die brandneue Infrasturktur hat man auch selbst finanziert und nicht der Westen.

Auch ein Grund warum viele nicht mehr in den Osten zurück kommen, weil viele Menschen sich inzwischen ihre und die Geschichte der DDR zurecht lügen wie sie es gerade gerne haben.

Jana vor 1 Wochen

Tja, vielleicht leben einheimische Frauen lieber in einer Umgebung in der nicht an jeder Ecke rassistische Meinungen geäußert werden und wo man Rechtsextremismus nicht als Heilslehre begreift.

Es hat schon seinen Charme, wenn man in einer demokratischen freien Gesellschaft lebt und nicht in einer puritanischen Gesellschaft in der nicht mehr über Fakten sondern über Glaubensfragen gestritten wird.

Viele die gegangen sind werden auch nicht wieder kommen, denn wofür sollten sie ein etabliertes Leben im Westen aufgeben? Dafür, dass man sich dann in miefige rassitsisch geprägte Denkstrukturen einfügen muss, bei der die eigene Tochter plötzlich für andere zum Feindbild mutiert, weil sie einen Mann liebt, der vielleicht anders aussieht als der typische Ossi?

Ines W. vor 1 Wochen

Vielleicht sollten sie sich keine Gedanken um die ganze Welt machen, nur damit sie Äpfel mit Birnen vergleichen können, sondern sich auf Sachsen-Anhalt konzentrieren und sich fragen, warum dieses Bundesland innerhalb der Bundesrepublik Deutschland die größten demografischen Probleme hat und warum das was in anderen Bundesländern funktioniert in Sachsen-Anhalt und in weiten Teilen Ostdeutschlands eben nicht funktioniert.

Klar kann man so tun, als ob Rassismus und Rechtsextremismus mit all den damit verbundenen Folgen kein Problem bei der Gewinnung von Zuwanderern wäre, aber was nutzt es sich selbst zu belügen?

Ich habe Bekannte die finden die Landschaft bei uns zwar schön um Urlaub zu machen, aber sie kommen weil sie inzwischen zu viel Negatives mit Sachsen-Anhalt verbinden und sich das im Urlaub lieber sparen.

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