Halle-Attentat: Reportage zum zweiten Prozesstag Ein Video, das verstört

05. August 2020, 15:01 Uhr

Am zweiten Verhandlungstag zum Anschlag auf die Synagoge in Halle müssen die Betroffenen den 9. Oktober 2019 noch einmal durchleben. Es wird das Video der Tat gezeigt, das Stephan B. gestreamt hatte. Die Reaktion des Angeklagten: befremdlich.

MDR-Redakteur Roland Jäger
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Polizisten stehen am zweiten Prozesstag vor dem Landgericht Magdeburg
Der nächste Verhandlungstag am Landgericht in Magdeburg ist für den 28. Juli angesetzt. Bildrechte: dpa

Alle im Gerichtssaal sind emotional angegriffen. Das Gericht, die Anwälte, die Dolmetscherinnen, die Beobachter – sogar die maskierten, schwer bewaffneten Justizbeamten, die hinter dem Angeklagten sitzen. Es vergehen 36 Minuten, in denen das Video gezeigt wird, das der Angeklagte am Tag seiner Tat in Halle live ins Internet gestreamt hat. Auf den Bildschirmen im Gericht schießt er noch einmal auf die Tür der Synagoge, tötet noch einmal Jana L., ignoriert das Flehen von Kevin S. um sein Leben, tötet ihn ein zweites Mal.

Gerade für die Betroffenen im Saal ist das kaum auszuhalten. Die Traumatisierten unter ihnen werden von den Bildern direkt zurückgestoßen in die Situation, die sie am 09. Oktober 2019 erlebt haben: Einige weinen, andere sind kurz davor. Ein älteres Ehepaar, das in der Synagoge war, ist zum Prozess gekommen, beide wurden noch als weitere Nebenkläger zugelassen. Beide halten einander die Hand. Sie kann nicht hinsehen, er schaut direkt auf den Monitor. Einige Nebenklägerinnen und Nebenkläger verlassen den Gerichtssaal, weil sie es offenbar nicht aushalten können.

Kein zweites Mal den Tod des Sohnes sehen

Der Anwalt Erkan Görgülü vertritt den Vater des getöteten Kevin S. Der Vater von Kevin S. hat am zweiten Verhandlungstag nicht teilnehmen können. Vom Tod seines Sohnes habe er durch das Video erfahren, das ihm am Tag des Anschlages geschickt wurde. Es sei seinem Mandanten nicht möglich gewesen, dieses Video heute ein zweites Mal zu sehen, sagt Görgülü. Den ersten Verhandlungstag am 21. Juli 2020 hatte der Vater von Kevin S. noch besucht.

Regungslos bleibt nur einer

Die Betroffene Christina Feist sitzt dem Angeklagten direkt gegenüber. Am Tag des Anschlags war sie in der Synagoge. Als das Video läuft, ist sie sichtbar getroffen, muss weinen. In einer Sitzungspause erklärt sie, sie könne dennoch nachvollziehen, warum das Video im Prozess gezeigt werden müsse: Als Beweismittel und als Grundlage für die psychologische Einschätzung des Angeklagten. 

Es ist auch wichtig für meine persönliche Traumaverarbeitung, weil es mir hilft, diesen Anschlag und die Realität anzuerkennen. Ich hatte das vorher noch nicht gesehen, ich möchte es auch nie wieder sehen.

Christina Feist, Nebenklägerin

Im ganzen Saal gibt es, während das Video gezeigt wird, nur einen, der nicht betroffen ist: Der Angeklagte. Kurzzeitig grinst er. Ansonsten schaut er mal regungslos, mal interessiert das eigene Video an. Rechtsanwalt Erkan Görgülü sagt, er sei von der amüsierten Mimik des Angeklagten schockiert: "Er hat noch nicht einmal versucht, sein Lächeln und seine Freude zu verstecken."

Genau beobachtet werden die Reaktionen des Angeklagten nicht nur von den Rechtsanwälten der Nebenkläger sowie von den fünf Richtern des Gerichts – sondern auch von zwei psychologischen Sachverständigen, die während des ersten und zweiten Prozesstages im Zeugenstand sitzen – aber bisher noch nicht befragt wurden. 

Befragung durch Haupt- und Nebenkläger

Auch heute setzt der Angeklagte in der Befragung durch die Generalbundesanwaltschaft, seine Verteidiger und die Anwälte der Nebenkläger immer wieder dazu an, seine antisemitische, rassistische Ideologie als Rechtfertigung seiner Taten auszuführen. 

Bei Fragen zur Funktion und dem Bau seiner Waffen antwortete Stephan B. wie bereits gestern ausführlich – aber er schweigt oder antwortete nur knapp auf Fragen, die seine Radikalisierung betreffen: Auf welche Imageboards er sich mit welchen Personen austauschte, wie dort zu einer Spende von 0,1 Bitcoin gelangte, mit denen er den Kauf von Stahl für den Bau seiner Waffen finanzierte. 

Unterbunden wird das Verbreiten seiner Ansichten in der Befragung vor allem, als der Anwalt Alexander Hoffmann und die Anwältin Kerstin Pietrzyk ihre Fragen stellen – und dem Angeklagten seine Rolle im Prozess erklären. Er habe auf die Fragen zu antworten, es handele sich nicht um eine Unterhaltung. Beide vertreten Menschen, die während der Tat in der Synagoge waren, und die nun im Gerichtssaal, an der Seite ihrer Anwälte, dem Angeklagten direkt gegenüber sitzen.

Es war klar, dass es die Gefahr gibt, dass er die Fragen natürlich dazu benutzt, sie in seine Richtung zu verdrehen, dass er sie benutzt, um seine Ideologie präsent zu machen – in der Hoffnung, dass die Medien sie aufgreift und weiter verbreitet. Und es war völlig klar, dass wir das nicht befördern wollen.

Rechtsanwältin Kerstin Pietrzyk, Nebenklagevertreterin

Die Perspektive der Betroffenen

"Inhaltlich erzählt mir der Angeklagte seit gestern schon nichts Neues mehr" sagt Christina Feist nach der Befragung des Angeklagten. Es sei eine Katastrophe zum Zuhören. "Es tut weh, es ist fürchterlich, aber eigentlich auch nicht weiter interessant", so Feist.

Von Zeit zu Zeit treffen sich im Saal die Blicke von Christina Feist und dem Angeklagten. Wenn der Angeklagte sie anblicke, sagt sie, blicke sie direkt zurück, blinzle nicht und sehe nie als erste weg. 

*Anmerkung der Redaktion: Das Zeigen des Tatvideos im Gerichtssaal geschah aus einem juristischen Zweck. Es wurde nicht für die Berichterstattung gezeigt. MDR SACHSEN-ANHALT kennt die Aufnahmen, wird Aussagen und Details des Videos aber nicht veröffentlichen – da die Verbreitung der Tat erklärtes Ziel von Stephan B. war.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Über den Autor Roland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion.

Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

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Quelle: MDR/kb

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 22. Juli 2020 | 19:00 Uhr

34 Kommentare

JanoschausLE am 24.07.2020

Na dann Rentner, welcher Grund fällt Ihnen denn ein? Der Täter wünscht sich die Bühne, der Wunsch wird ihm verwehrt,,Ihnen auch. WS haben Sie davon, wenn Sie es beim MDR nichtt sehen?

JanoschausLE am 24.07.2020

Haller,
Was wollen Sie? Stunk? Natürlich veröffenicht der MDR das Zeug nicht... Um solche Voyoristen zu bedienen. Der MDR ist kein Boulevardsender. Also, es ist vollkommen unerheblich, ob Sie das Video hier bei mdr sehen oder nicht. Der MDR muss auch Persõnlichkeitsrechte aller im Video zu sehenden Personen achten, außer die des Täters. Der hat ja gleich am ersten Vethandlungstag gewünscht, dass er nicht verpixelt und mit Klarnamen benannt werde. . Das Video ist in erster Linie Beweismittel i. Prozess. Geht Ihnen einer dabei ab, wenn Sie Menschen sterben sehen? Im Internet kursiert es ganz bestimmt.

martin am 23.07.2020

@baldur: Selbstveständlich kann man sich das Video besorgen. Von daher halte ich auch die "Verschwörungstheorie" von sz für wirklichkeitsfremd.

Trotzdem finde ich es absolut richtig, dass der MDR dem Täter keine zusätzliche Bühne bietet.

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