Die Sneaker eines Mannes, der auf einem Autodach steht 41 min
Hier können Sie die erste Episode von "Extrem rechts" hören Bildrechte: MDR/Max Schörm

Podcast "Extrem rechts" Zum Nachlesen: Folge 1, Vertrauensverlust

23. Mai 2023, 00:01 Uhr

Bevor es losgeht, ein Hinweis. In diesem Podcast geht es um rassistische, islamophobe, teils sexualisierte Anfeindungen. Wir zitieren an einigen Stellen solche Aussagen, weil sie notwendig sind, um das Problem zu verstehen. Die Betroffenen sind damit einverstanden. Wenn Ihr Euch damit nicht wohl fühlt, hört Euch diesen Podcast bitte nicht oder nicht allein an.

Sprecherin: Jana Merkel

0:36
Katrin Schmidt (Omas gegen Rechts): "Das kann ja nicht wirklich wahr sein, ja, dass so jemand Jahre und Jahre hetzt, ohne wirklich Konsequenzen zu erleben, also ich meine, das ermuntert die ganze Szene, ja, zu sagen, wir können hier tun und lassen, was wir wollen uns passiert ja nichts. Das geht Stück für Stück verloren, das Vertrauen. Und ich finde das auch eine Katastrophe für den Rechtsstaat. Ja? Wenn, wenn keiner mehr dem Rechtsstaat vertraut oder viele Menschen dem Rechtsstaat nicht mehr vertrauen, also, wo soll das denn hinführen? Also, da, da wird ein riesengroßer Schaden angerichtet damit."

1:06
Katrin Schmidt und ich sitzen in einem Café. Sie hat sofort zugesagt, als ich sie um das Gespräch gebeten habe. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Katrin Schmidt geht ein persönliches Risiko ein, indem sie mit mir spricht. Es ist Herbst 2022 und das ist unser zweites Treffen. Unser Gesprächsthema wühlt Katrin Schmidt sichtlich auf. 

1:26
Katrin Schmidt: "Also, das finde ich beängstigend. Das ist 'ne Gefahr, ja. Das kann für uns alle 'ne Gefahr werden."

1:32
Katrin Schmidt ist Lehrerin im Ruhestand. Sie stammt aus Bayern, lebt seit 10 Jahren in Halle in Sachsen-Anhalt und ist Großmutter von drei Enkelkindern. Sie heißt eigentlich nicht Katrin Schmidt. Wir haben ihren Namen geändert, um sie zu schützen. 

1:47
Katrin Schmidt: "Katja, Katrin, so, Katrin Schmidt, genau, ja, ja, so war es, bei dem bleiben wir, genau."
Jana Merkel: "Okay, dann bleiben wir dabei. Wir beide schmunzeln da jetzt drüber, aber das hat schon einen ernsten Hintergrund, ne?"
Katrin Schmidt: "Ja, genau deswegen, weil er eben dazu aufgerufen hat, rauszukriegen, wo ich bin, ne. Und das keinem - Man weiß nicht, was dann passiert, ja. Das muss man nicht riskieren."

2:09
Katrin Schmidt ist zur Zielscheibe eines Rechtsextremisten geworden. Jeden Montag verbreitet der mitten in der Stadt, auf dem Markt Hass und Hetze. Und zwar seit Jahren. Hunderte Demos sind es inzwischen. 

2:27
Katrin Schmidt gehört zu den Menschen, die das nicht hinnehmen wollen. Deshalb hat sie in Halle die Ortsgruppe der "Omas gegen Rechts" mit gegründet. Das sind Frauen, die regelmäßig gegen rechtsextreme Umtriebe protestieren. Und bei einem solchen Protest spielt sich die Szene ab, die Katrin Schmidts Glauben an den Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat.

2:47
Es passiert an einem Abend im Dezember 2019. Katrin Schmidt und eine Hand voll Frauen von den Omas gegen Rechts treffen sich in Halle. Sie wollen gegen eine Kundgebung dieses einen Rechtsextremisten protestieren. Sie stellen sich ruhig und mit hochgehaltenen Schildern am Rand seiner Demo auf. Er bemerkt sie sofort und reagiert:

3:06
Sven Liebich: "Wer sind denn hier? Die Omas gegen Rechts, ey, ey!"
Quelle: Twitter, @AZeckenbiss, 4.12.2019

3:10
Teilnehmer seiner Demo umringen die Omas, reden auf sie ein, schimpfen. So hört Katrin Schmidt zunächst gar nicht, was der Mann mit dem Mikro ihnen dann von einem Autodach aus zuruft. Das hört sie erst später in einem Video im Internet.

Achtung, der folgende Ton enthält verletzende und obszöne Formulierungen.

3:28
Sven Liebich: "So fordern wir Sie, liebe Omas, auf, in das nächstgelegene Flüchtlingsheim zu gehen und Eure drei möglicherweise auch schon vertrockneten Löcher hinzugeben, auf dass es weniger Vergewaltigungen in Deutschland gibt. Omas gegen Rechts, bitte geht in die nächste Flüchtlingsunterkunft."
Quelle: Twitter, @AZeckenbiss, 4.12.2019

3:46
Katrin Schmidt und ich schauen uns das Video noch mal zusammen an.

3:50
Katrin Schmidt: "Ah ja, also okay - Nee also, es ist schon schlimm, also … Also ich war fassungslos. Ich glaube, ich bin in meinem Leben noch nie so beleidigt worden und auch so in meiner Ehre verletzt. Also dass jemand wagt, so über unsere Sexualität als ältere Frauen zu sprechen, finde ich einfach unglaublich."

4:12
Ihr denkt vielleicht: Eine solche Beleidigung müsste doch strafbar sein - Das dachte sie auch. Und zeigte den Mann an. Katrin Schmidt weiß: Der Mann ist ein bekannter Rechtsextremist und macht so was ständig. Und seit Jahren. Und sie ist nicht die einzige Betroffene. Der Name dieses Mannes ist: Sven Liebich. 

4:36
Ihr hört "Extrem rechts - Der Hass-Händler und der Staat". Ein Podcast des Mitteldeutschen Rundfunks mit Unterstützung des Rundfunk Berlin-Brandenburg. 

Extrem rechts – Der Hass-Händler und der Staat

Die Sneaker eines Mannes, der auf einem Autodach steht
Bildrechte: MDR/Max Schörm
Ein Justizbeamter steht vor einer Sicherheitsschleuse.
Bildrechte: MDR/Max Schörm
Alle anzeigen (8)

Folge 1: Vertrauensverlust

4:50
Über die Jahre ist dieser Name in unseren Recherchen immer wieder aufgetaucht: Sven Liebich. Ein Mann, von dem sich Menschen seit Jahren fragen, wieso er noch frei herumläuft. Er beschäftigt Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei, Stadtverwaltung, Verfassungsschutz. Eine ganze Stadt will seinem Treiben ein Ende setzen - und schafft es nicht.

5:13
Sven Liebich hat es sogar geschafft, aus dem Hass ein Geschäftsmodell zu machen. Und offenbar kommt er immer wieder davon, mit dem, was er tut.

5:22
Deshalb beschäftigen wir uns mit ihm. Wir recherchieren seit vielen Jahren zu Rechtsextremismus, vor allem aber nicht nur in Ostdeutschland. Wir, das sind meine Kollegen Thomas Vorreyer, Tim Schulz und ich, Jana Merkel. Wir kennen die Akteure, die Demos und Parolen. Wir haben über extrem rechte Parteien berichtet, über rechtsextreme Gewalt, über Antisemitismus und Alltagsrassismus. 

5:47
Für diesen Podcast treffen wir viele Menschen, die versucht haben, sich gegen Sven Liebich zu wehren. Menschen, die ihn angezeigt haben. Menschen, die dem Staat nicht mehr vertrauen können. Wir wühlen uns durch Akten, soziale Netzwerke und Geschäftsunterlagen - Und suchen Antworten auf diese eine Frage: Kann es sein, dass der Rechtsstaat im Fall Sven Liebich an seine Grenzen stößt?

6:16
Zurück ins Café, wo Katrin Schmidt von den Omas gegen Rechts und ich zusammensitzen und über Liebichs Äußerung gegenüber den Omas sprechen.

6:24
Katrin Schmidt: "Es war sehr beleidigend für uns Frauen, auch für uns ältere Frauen eine unglaubliche Beleidigung. Also, es war auch was, was ich mir vorher nie hätte vorstellen können, dass sowas vorkommt. Und da war ich einfach so entsetzt, dass ich gedacht hab: Nee, sowas kann man nicht stehen lassen. Da muss man wirklich Anzeige erstatten."

6:42
Und das tut Katrin Schmidt. Sie zeigt Sven Liebich wegen Beleidigung an. Die Antwort der Staatsanwaltschaft Halle kommt vier Monate später, Zitat:

6:52
"Der Tatbestand der Beleidigung setzt voraus, dass ein erheblicher Angriff auf die Menschenwürde vorliegen muss, um den Tatbestand zu erfüllen. Einfache Unverschämtheiten und Distanzlosigkeit reichen dafür nicht aus. Zudem ist auch zu berücksichtigen, dass insbesondere in der politischen Auseinandersetzung auch härtere Formulierungen hingenommen werden müssen. (...) Seine Äußerungen sind ohne Zweifel unverschämt, distanzlos und unangemessen. Einen massiven Angriff auf die Menschenwürde der Demonstrantinnen stellen sie jedoch nicht dar. (...)"
Quelle: Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Halle, 22.4.2020

7:23
Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren also eingestellt. 

7:27
Jana Merkel: "Man müsse im politischen… in politischen Auseinandersetzungen auch härtere Formulierung hinnehmen."
Katrin Schmidt: "Genau, das war es, ja, ja. Also das … da war, schon so das erste mal, dass ich zurück gezuckt bin, weil ich gedacht hab, so was habe ich noch nie gehört als Begründung. Und das kenne ich auch nicht. Also ich habe ja schon erzählt, dass ich schon immer bei Demos war und so was in der Form trotzdem noch nie erlebt hatte. Da war das erste Mal, dass ich gedacht hab: Ja, Entschuldigung, also was muss denn jemand machen, damit das eine Anzeige rechtfertigt? Wenn die Staatsanwaltschaft so was nicht anerkennt?"

7:59
Die Konsequenz: Liebich macht weiter, legt nach. Katrin Schmidt erzählt mir von einer Situation ein paar Monate später. Wieder eine Demo, wieder protestiert sie mit den Omas gegen Rechts dagegen.

8:11
Jana Merkel: "Möchten Sie das vorlesen, was er da gesagt hat? Oder möchten Sie es lieber nicht?"
Katrin Schmidt: "Na, das kann ich schon machen. Also er hat wieder geschrieben: 'Öffnet' – gesagt, ne, – 'öffnet Türen, Toren und Beine für die Flüchtlinge aus Afghanistan, auch ein Flüchtling will kommen.' Dann hat er uns alle, also, die wir da als Demonstranten gegen ihn waren: 'Ihr seid Diktatoren, ihr seid Faschisten, ja, ihr seid Faschisten.'"

8:38
Nach diesem Vorfall zeigt Katrin Schmidt Liebich ein zweites Mal an. Und sie bleibt auch bei der ersten Anzeige hartnäckig. Sie legt Beschwerde gegen die Einstellung ein. Und tatsächlich: Die Ermittlungen werden wieder aufgenommen – das passiert im Juli 2020.

8:53
Bis zu unserem Treffen im Café sind seitdem zweieinhalb Jahre vergangen. Getan hat sich noch nichts. 

8:59
Katrin Schmidt: "Also, ich werde nicht ernst genommen. Das, was ich zur Anzeige bringe, scheint keine Relevanz zu haben. Ja, obwohl das so eindeutig einfach 'ne Ungeheuerlichkeit ist, was da passiert ist, habe ich das Gefühl: Für die Justiz hier hat das alles keine Relevanz. Das ist so Pipifax, mal gucken, wann das irgendwann verhandelt wird. Und das ist auch das, warum ich sag, ich verliere immer mehr das Vertrauen. Weil ich, weil ich so das Gefühl hab: Nehmen die das ernst, was jemand da tut?"

9:32
Dass Katrin Schmidt heute überhaupt mit mir über Sven Liebich redet, ist übrigens nicht selbstverständlich. Ich habe sie schon einmal interviewt – für einen Fernsehbeitrag des MDR. Auch damals schon anonym. Und auch damals ging es um Sven Liebichs verbale Attacken. Nach der Ausstrahlung hat der Rechtsextremist Katrin Schmidt ganz persönlich ins Visier genommen.

10:06
Katrin Schmidt: "Und damals hat mich ja die Opferhilfe dann angerufen und hat gesagt: 'Vorsicht, Vorsicht! Aufgrund dieses MDR, dieser MDR-Sendung sucht er Dich offiziell wegen Falschaussage.'"

10:06
Liebich verbreitet Suchaufrufe in sozialen Netzwerken. Er behauptet, er wolle Katrin Schmidt anzeigen. Und ruft dazu auf, ihren richtigen Namen und ihre Adresse herauszufinden und ihm zu schicken. Bisher hat er sie nicht ausfindig gemacht. Aber das bedrohliche Gefühl bleibt.

10:27
Wer Sven Liebich kritisiert, läuft also Gefahr, zur Zielscheibe gemacht zu werden. Diese Erfahrung machen alle Betroffenen, mit denen wir sprechen. Und das sind viele.

10:37
Umso schwerer wiegt für Katrin Schmidt, wie die Behörden mit Sven Liebich umgehen: 

10:41
Katrin Schmidt: "Die Erfahrungen der letzten – was ist das her, zwei Jahre oder so? – haben mich immer mehr zweifeln lassen, wie gut unser Rechtsstaat tatsächlich funktioniert. Ja. Das ist traurig, aber wahr. Ich glaube, mein Vertrauen in Veranstaltungsbehörde, Polizei und Justiz ist so nachhaltig erschüttert, wie ich‘s noch nie in meinem Leben erlebt hab. Es erschreckt mich auch ein bisschen. Ich denke, was läuft bei uns eigentlich? Also, und auch was läuft da schief? Es ist schon – Ja, es macht mir auch ein bisschen Angst, weil ich denke: Wenn du dich auf niemandem mehr verlassen kannst, weil du das Gefühl hast, die machen Sachen, die nicht sauber sind oder die auch nicht nachvollziehbar sind, dann kriegt es schon, ja, so 'ne prinzipielle Unsicherheit an unserem ganzen System."

11:33
Zeit für ein bisschen frische Luft. Wir verlassen zusammen das Café, denn Katrin Schmidt hat noch etwas vor. Heute ist der 9. November, der Jahrestag der Reichspogromnacht. Deshalb hat Katrin Schmidt Sprühflasche und Schwamm dabei und putzt Stolpersteine. Sie legt Blumen daneben, stellt Gläser mit Kerzen dazu. 

11:57
Jana Merkel: "Wenn jetzt der Herr Liebich hier um die Ecke käme?"
Katrin Schmidt: "Dann geh ich mal davon aus, dass er mich vielleicht nicht kennt. Ich würde vielleicht den Button zuhalten." (lacht)

12:05
Sie meint den Button an ihrer Tasche, mit dem Logo der Omas gegen Rechts.

12:09
Katrin Schmidt: "Also ich denke, nach dem Prozess wird er mich wohl erkennen. Aber…"
Jana Merkel: "Wenn jetzt Ihre Beleidigung da verhandelt wird."
Katrin Schmidt: "Ja, weil da muss ich dann ja auch selber auftreten auch mit Namen. Also, ist so. Aber trotzdem hoff' ich, dass das jetzt endlich mal verhandelt wird."

12:21
Moment – ein Prozess, eine Verhandlung? Ja, tatsächlich – die zweite Anzeige von Katrin Schmidt hat zu einer Anklage gegen Sven Liebich geführt. Da geht es um die Beleidigung als "Faschisten" und so weiter, von der wir vorhin gesprochen haben. Ob es wirklich zu einem Prozess kommt, wissen Katrin Schmidt und ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

12:41
Aber eins ist klar: Wird der Fall vor Gericht verhandelt, wird sie vermutlich als Zeugin aussagen müssen. Und dann wird Sven Liebich ihre Identität erfahren. Katrin Schmidt weiß, dass der Rechtsstaat Zeugen braucht, um Täter zu überführen. Und gleichzeitig geraten diese Zeugen durch ihre Aussage womöglich zusätzlich in Gefahr. Ob das auch Katrin Schmidt droht, ist jetzt noch unklar.

13:11
Die Demos von Sven Liebich sind das Eine: diese permanente Beschallung der Stadt mit seinen Parolen. Jeden Montag steht er in Halle auf dem Markt. Es gab Zeiten, da hat er sogar täglich demonstriert. Und wie das Rechtsextremisten heute so machen, verbreitet Liebich das alles auch im Internet, über seine Kanäle in sozialen Netzwerken. Auf Telegram folgen ihm zum Beispiel rund 9.000 Leute. Aber das ist nicht alles. 

13:36
Bei Sven Liebich ist der Hass auch ein Geschäft. Er verdient Geld damit. Über einen Versandhandel im Internet.

13:43
Das Perfide: Auf den ersten Blick sieht der Internetshop eigentlich unauffällig aus. Da gibt es alles zu kaufen, was man bedrucken kann: T-Shirts, Buttons, Tassen, Babylätzchen. Und die Auswahl an Motiven – die reicht von Sternzeichen über Sportarten bis hin zu Sprüchen über Berufsgruppen. Auch das Konterfei von Che Guevara, Nelson Mandela oder Karl Marx verkauft Liebich. Ein großer Gemischtwarenladen quasi. Aber dann gibt es da noch die anderen Motive.

14:20
Eines schauen wir uns jetzt genauer an: Es zeigt einen Davidstern – aber gelb eingefärbt, mit schwarzer Umrandung und darauf steht ein Wort. Ihr kennt Sterne dieser Art sicher von historischen Fotos aus dem Dritten Reich. Damals stand auf den Sternen das Wort "Jude". Die Nazis zwangen jüdische Menschen, diese sogenannten Judensterne an ihrer Kleidung zu tragen. Sie sind eins der zentralen Symbole für die Verfolgung und systematische Ermordung von rund 6 Millionen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus.

14:54
Über 70 Jahre später, im demokratischen Deutschland verkauft der Rechtsextremist Sven Liebich solche gelben Sterne in einem Internetshop – druckt sie auf T-Shirts und Aufkleber. Der Unterschied: Auf den Sternen steht nicht das Wort Jude, sondern das Wort "Dieselfahrer". Der Werbetext dazu beginnt mit dem Satz, Zitat: 

"Der Dieselfahrer ist der neue Jude"

15:20
Wie wirkt das auf jüdische Menschen? 

15:27
Igor Matviyets schließt sein Büro auf. Auch er war sofort einverstanden, als ich ihn um ein Interview gebeten habe. Der 31-Jährige vereint vieles, das Leute wie Sven Liebich offenbar triggert: Er arbeitet für eine Migrantenorganisation, ist in der SPD engagiert und tritt offen gegen Antisemitismus und Rassismus ein. Im Frühjahr 2019 entdeckt Igor Matviyets in Liebichs Internetshop die Dieselfahrer-Sterne. 

15:53
Igor Matviyets: "Der Davidstern also ist im Jüdischen ein religiöses Symbol und wurde damals eben von den Nazis, wie so oft halt in ihrer Strategie, zweckentfremdet, entstellt und als Kennzeichen verwendet für die jüdischen Menschen in Deutschland. Und dann ist da halt diese Person, die sich der Geschichte bewusst ist und der Verbrechen, die da passiert sind. Und dennoch die Symbole in eine so verharmlosende, banale Situation übersetzt, dass das Leid der Vergangenheit damit halt auch unsichtbar gemacht wird. Und für mich als Mitglied der Jüdischen Gemeinde hier in Halle war das auf jeden Fall eine Bezugnahme auf den Holocaust und insbesondere eigentlich auch in meinen Augen eine Verharmlosung, weil dort ja die möglichen Repressalien für Besitzer von Dieselfahrzeugen eben mit dem Schicksal von Jüdinnen und Juden im Holocaust in ja Verbindung gesetzt wurden."

16:55
Igor Matviyets erstattet Anzeige gegen Sven Liebich. Wegen Verharmlosung des Holocaust – im Strafgesetzbuch ist das der Paragraph 130: Volksverhetzung. 

17:06
Igor Matviyets: "An der Stelle hatte ich ohnehin nicht so viel Hoffnung. Nicht nur, weil ich den Umgang mit Sven Liebich seitens der Staatsanwaltschaft als viel zu lasch einschätze oder eingeschätzt habe, auch damals schon, sondern weil ich auch weiß, wie unsensibel eben auch mit der Perspektive von Jüdinnen und Juden umgegangen wird – und unsensibel mit der Geschichte umgegangen wird. Also das Vertrauen in den Rechtsstaat war ohnehin schon vor der Anzeige nicht sehr, sehr groß."
Jana Merkel: "Und nach der Anzeige?"
Igor Matviyets: "Naja, der, der Zyniker, der Pessimist fühlt sich dann halt in seiner negativen Einschätzung bestätigt."

17:44
Einen Monat nach der Anzeige bekommt Igor Matviyets Post von der Staatsanwaltschaft Halle. Die zuständige Staatsanwältin schreibt ihm, dass sie das Verfahren eingestellt hat. Die Begründung: Liebichs Version des NS-Sterns, Zitat:

"… stellt keine Verharmlosung des Holocaust und keine Beleidigung von Menschen jüdischen Glaubens dar. Vielmehr handelt es sich um eine bewusst übersteigerte Ausdrucksform im Rahmen der vom Beschuldigten geübten – und als frei geäußerten Meinung auch zulässigen – Kritik am Verhalten einzelner Personen und Personenkreise, hier gegenüber 'Dieselfahrern'."
Quelle: Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Halle, 10.5.2019

18:22
Unterschrieben hat den Bescheid: dieselbe Staatsanwältin, die auch die Anzeige von Katrin Schmidt eingestellt hat. Wir erfahren in der Recherche: Diese Staatsanwältin arbeitet in der Staatsanwaltschaft Halle in der Abteilung für politisch motivierte Kriminalität. Dort ist sie für den Buchstaben L zuständig – L wie Liebich.

18:41
Igor Matviyets: "Ich empfinde das bis heute als Ausdruck dass, dass diejenigen, die das geschrieben haben, vom Holocaust, keine Ahnung haben. Und auch von der Schwere oder Bedeutung der Verwendung dieses, dieser Zeichen im heutigen Kontext. Oder auch innerhalb der politischen, gesellschaftlichen Debatte, die wir ja führen. Dass Politiker und Politiker von rechten Parteien, die Begriffe wie 'völkisch' in den Diskursraum schmeißen. All das sind halt Versuche, rechtsextremes Gedankengut, was ja auch erst die Verfolgung von Jüdinnen und Juden möglich gemacht hat damals, heute wieder salonfähig zu machen. Und wer sowas schreibt, hat, wie gesagt, weder von der Vergangenheit noch von der Gegenwart, in der zum Beispiel mein jüdisches Leben in Deutschland stattfindet, gar keine Ahnung."

19:27
Wir haben die Staatsanwaltschaft Halle angefragt. Ein Interview bekommen wir nicht. Und auch schriftlich will sich die Behörde nicht zu einzelnen Einstellungsbescheiden äußern. Wir beschäftigen uns in einer späteren Folge noch mal intensiv mit dem Vorgehen der Staatsanwaltschaft Halle. 

19:44
2020 kommt Corona. Und mit der Pandemie eine neue Variante der gelben Sterne in Liebichs Shop. Dieses Mal mit der Aufschrift: ungeimpft. Ab April 2020 verkauft er die. Damals ist Deutschland gerade im ersten Lockdown – ein Impfstoff noch in weiter Ferne. Beworben wird der neue gelbe Stern mit den Worten:

"Bald sind die Ungeimpften die Juden von heute. Bald wird medial Jagd auf sie gemacht werden."

20:10
Igor Matviyets zuckt mit den Schultern. 

20:12
Igor Matviyets: "Ich war nicht überrascht, weil wenn man ihn ein paar Jahre verfolgt hat und mitbekommt, was sein System ist, nämlich immer zu sehen, wo ist gesellschaftliche Spaltung, wo ist Potenzial, Menschen zu radikalisieren oder mit der Radikalisierung von Menschen Geld zu verdienen. Da ist der halt unterwegs."
Jana Merkel: "Haben Sie noch mal Anzeige erstattet irgendwann?"
Igor Matviyets: "Nee, also das ist ja eben, was einem – wie soll ich sagen, einen müde macht mit der Zeit. Weil dazwischen gab es ja auch noch andere Fälle, in denen Sven Liebich schonend behandelt wurde vom Rechtsstaat – und persönlich mir die Mühe zu machen, wollte ich dann an der Stelle nicht."

20:52
Woche für Woche gibt es in dieser Zeit Demos gegen die Corona-Maßnahmen, nicht nur in Halle, sondern deutschlandweit. Und immer wieder tragen Menschen auf diesen Demos den Ungeimpft-Stern. 

21:03
Igor Matviyets: "Ja, das ist, pff – wie soll ich sagen? Dann denke ich mir schon, dass diese Person, die das trägt, zum Holocaust, zur Existenz von Jüdinnen und Juden auch in der heutigen Zeit ein Verhältnis hat, das sich nicht so gut mit meiner Existenz verträgt. Und wo steht denn diese Person dann, wenn plötzlich ich aus der Menge oder auch von Fans von Sven Liebich angegriffen werde?"

21:29
Liebichs Masche, seine Kritiker an den Pranger zu stellen und zu verhöhnen, die kennt auch Igor Matviyets. Diverse Male hat ihn der Rechtsextremist schon namentlich in Videos und Demo-Reden thematisiert.

21:41
Jana Merkel: "Sind Sie ihm denn schon mal über den Weg gelaufen. So im Alltag, begegnet er Ihnen hier manchmal in der Stadt?"
Igor Matvieyts: "Ja, ja, also, er ist ein Anwohner, oder verbringt sehr viel Zeit in dieser Stadt. Und ja, manchmal verdirbt einem auch mal das Frühstück, wenn er plötzlich im Frühstückscafé auftaucht, in dem man auch ist. Und dann versucht er, einen auch zu provozieren, spricht Familie an."
Jana Merkel: "Ihre Familie?"
Igor Matviyets: "Ja"
Jana Merkel: "Wie spricht er die an, was macht er dann?"
Igor Matviyets: "Naja, wenn er mich mit meiner Frau sieht, dann spricht er eher meine Frau an. Also, natürlich, er ist ein Provokateur. Also er möchte ständig andere provozieren. Er möchte Hass säen, ob er auf der, auf seinem Auto steht und durch sein Mikrofon schreit oder einem eben im Frühstückscafé begegnet, also er legt es auch nie ab. Also auch manchmal, fährt er mit dem Auto an einem vorbei und hupt einem hinterher oder winkt oder hält die Kamera hin oder schreit was aus dem Auto. Das passiert schon, aber auch nicht täglich zum Glück."

22:41
Frei bewegen kann sich Igor Matviyets in Halle nicht. Nicht so frei, wie er gern würde. Vor allem montags nicht. Dann ist der Marktplatz im Zentrum der Stadt für ihn tabu – und für viele andere Menschen in Halle auch. 

23:00
Er liegt mitten im Herzen der Stadt: Der Marktplatz. Er ist sehr groß. Da steht der Rote Turm, dahinter die Marktkirche mit ihren vier markanten Türmen. Wer Halle als Tourist besucht, kommt genau hierher. Die Straßenbahn fährt mitten hindurch, von Montag bis Sonntag ist Wochenmarkt, ringsum sind viele Geschäfte, die Fußgängerzone, viele Cafés mit Freisitzen. Mittendrin thront die Statue des berühmten Sohns der Stadt: Georg Friedrich Händel. Und natürlich das Rathaus mit seiner breiten Eingangstreppe. 

23:37
Der Marktplatz ist sowas wie das Aushängeschild von Halle. Aber er gehört nicht mehr allen Hallensern. Montags ist er inzwischen für viele eine Art No-Go-Area.

23:48
Denn genau hier hält Sven Liebich jeden Montag seine Kundgebungen ab. Seit 2014 schon, also schon gute neun Jahre. Was Liebich damit erreichen will, darüber sprechen wir in der vierten Folge noch ausführlicher. An dieser Stelle nur so viel: Er selbst sagt: das "System stürzen". Zwischendurch kamen bei den Demos durchaus schon mal bis zu 500 Teilnehmer zusammen. Aktuell sind es oft um die 20 Leute. Das sind wenige. Und trotzdem meiden viele Hallenser montags den Markt. Weil sie Liebichs Tiraden nicht hören wollen. Und einige auch aus Selbstschutz. Weil Liebich mögliche politische Gegner sofort erkennt, lauthals markiert und vorführt. So zum Beispiel: 

24:32
Sven Liebich: "Ey, sehe ich da den berühmten Igor Mayet. – Ey, wie heißt‘n du eigentlich? Igor! Ich habe nichts gegen dich, weil du Jude bist. Haste gehört? Im Gegenteil! Also Igor, Igor da hinten in der grünen Jacke. Also (lacht) Nein, Igor! Igor, ich habe was gegen elendige SPD-Läuse! Aber nicht gegen Juden. Warum soll ich was gegen Juden haben?"

24:51
Das war ein Ausschnitt aus einem Video, das Liebich veröffentlicht hat. Er filmt sich bei einer Kundgebung im Sommer 2020 auf dem Markt. Dort entdeckt er Igor Matviyets und geht auf ihn zu. Gegendemonstranten und Polizeibeamte stellen sich Liebich in den Weg. 

25:09
Betroffene erzählen uns, dass einige von Liebichs Anhängern auch schon mal handgreiflich werden. Dass sich da etwas hochschaukelt, das sieht auch der Verfassungsschutz. In einem Interview warnt Jochen Hollmann 2020 davor, dass Sven Liebich Menschen radikalisiert. Hollmann leitet den Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt.

25:28
Jochen Hollmann: "Die größte Gefahr, die wir von ihm ausgehen sehen, ist, dass er andere Leute aufstachelt, dass andere Leute sich möglicherweise berufen fühlen, in Aktion zu treten. Liebich sagt es, Liebich provoziert, und andere fühlen sich möglicherweise aufgerufen, zur Tat zu schreiten."
Quelle: Exakt, MDR, 17.6.2020

25:46
Das alles geht in Halle nun seit Jahren so. Anzeigen gehen kaum durch, die Betroffenen sind ratlos. Die Ratlosigkeit geht zwischenzeitlich sogar so weit, dass die jüdische Gemeinde den Markt quasi zu gefährlichem Terrain erklärt. 2015 schreibt der Vorsitzende an die Mitglieder, Zitat: 

"(...) für die Zeiten der Montagdemos am halleschen Marktplatz und in Anbetracht der Tatsache, dass sich das Gemeindezentrum in unmittelbarer Nähe zu den Demonstrationsorten befindet, bitte ich die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Halle, sich aus Sicherheitsgründen vom Gemeindehaus in der Großen Märkerstraße zu dieser Zeit fern zu halten. Das Gemeindehaus bleibt während dieser Kundgebungen geschlossen."
Quelle: Jüdische Gemeinde zu Halle (Saale) auf jghalle.de, 18.10.2015

26:24
Da schließt also die Jüdische Gemeinde an Montagen ihr Gemeindehaus und bittet Mitglieder, sich vom Markt fernzuhalten. Das war 2015, lange bevor Liebich anfing, die gelben Sterne zu verkaufen, die dann 2020 auf den Corona-Demos auftauchen. Für Igor Matviyets schwer zu ertragen:

26:44
Igor Matviyets: "Wir reden ja auch davon, dass es eine Demonstration ist, mit Hunderten Teilnehmenden, ein paar davon tragen dieses T-Shirt. Aber die Menschen drumherum laufen ja weiter mit. Sie akzeptieren diese Symbolik, sie akzeptieren diese Verharmlosung. Sie finden es normal. Und ich finde das überhaupt nicht normal. Und für mich ist es offensichtlich, dass wir daher in zwei unterschiedlichen Welten leben. Aber ja, also für mich ist es kein Spiel, in dem wir uns bewegen, sondern es geht halt darum, wie sicher ich mich fühle, wenn ich in Deutschland lebe."

27:17
Was Igor Matviyets da anspricht – ist keine theoretische Frage: Was passiert, wenn aus Antisemitismus, aus Hassbotschaften Taten werden? Wenn Menschen sich so weit radikalisieren, dass sie zur Waffe greifen? Das wird am 9. Oktober 2019 in Halle bittere Realität.

27:37
Tagesschau-Sprecherin: "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau"
Torsten Schröder: "Guten Abend meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau. In Halle an der Saale sind bei einem offenbar antisemitischen Angriff zwei Menschen erschossen worden. Die Schüsse fielen in der Innenstadt von Halle im Paulusviertel. Dort soll der schwer bewaffnete Täter versucht haben, in eine Synagoge einzudringen. Über 50 Menschen müssen um ihr Leben bangen. Der Täter scheitert an der verriegelten Tür. Danach erschießt der schwer bewaffnete Stephan B. in der Nähe eine Passantin und einen Mann in einem Dönerimbiss. Die rechtsextremistische Motivation des Täters wird immer deutlicher. Ein entsprechendes, rassistisches Manifest soll er ins Internet gestellt haben."
Quelle: Tagesschau, NDR, 9. Oktober 2019

28:25
Zwei Menschen sind tot, viele weitere verletzt und traumatisiert. Der antisemitische, rechtsterroristische Anschlag schockiert Halle – und ganz Deutschland. Danach kommen die Fragen: Wie konnte das passieren?

28:40
Nach den NSU-Morden, dem Mord an Walter Lübcke – und vielen anderen diskutiert Deutschland wieder einmal darüber, wie gefährlich rechtsextreme Ideologie ist. Dass sie tödlich sein kann. Halle – das ist seit Jahren die Stadt, in der Sven Liebich nahezu ungehindert Hass verbreitet. Und nun ist Halle auch die Stadt des Anschlags.

29:18
Drei Jahre später, am 9. Oktober 2022, bin ich auf dem Weg nach Halle. Zur Gedenkveranstaltung. Mit dem Anschlag selbst hatte Sven Liebich nichts zu tun. Aber vor einem Jahr hat Liebich am Jahrestag des Anschlags mehrfach in Halle demonstriert. Das haben viele als Störung des Gedenkens empfunden, als Hohn. 

29:46
Es ist mild, die Sonne scheint. Vor der Synagoge sind viele Menschen versammelt. So viele, dass längst nicht alle in den kleinen Hof passen. Kaum jemand spricht. An der Mauer vor der Synagoge – dort wo Jana L. vom Attentäter erschossen wurde, legen die Menschen Blumen ab, zünden Kerzen an. 

30:07
Dann ist über einen Lautsprecher die Stimme von Max Privorozki zu hören, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. Er hält im Hof der Synagoge eine Rede:

30:16
Max Privorozki: "Fand hier draußen, ungefähr zehn Meter von Platz, wo wir alle stehen, eine der schlimmsten Ereignisse im Leben von vielen von uns, von der Stadt Halle, von der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und insgesamt von allem Menschen, die in diesem Land leben. Zwei Menschen haben mit dem Leben bezahlt, diese Terroranschlag. Und ich bitte Schweigeminuten, einzuhalten."

30:58
Nach der Schweigeminute und den Reden zerstreuen sich die Menschen langsam. Vor der Synagoge entdecke ich Karamba Diaby, den halleschen Bundestagsabgeordneten.

31:05
Jana Merkel: "Guten Tag, Herr Diaby. Jana Merkel vom MDR, ich grüße Sie. Darf ich Sie ganz kurz was fragen, Herr Diaby?"

31:13
Auch Karamba Diaby war immer wieder Ziel von Sven Liebichs Attacken. Wegen seiner Herkunft und seiner Arbeit als SPD-Politiker. Diaby wurde im Senegal geboren. Und zog 2013 als der erste in einem afrikanischen Land geborene schwarze Mensch in den Deutschen Bundestag ein.

31:29
Jana Merkel: "Herr Diaby. Ich arbeite an einem Podcast und bin heute hier, weil wir uns in dem Podcast intensiv mit Halle beschäftigen und mit den Aktivitäten von Sven Liebich."
Karamba Diaby: "Mhm. Mhm."
Jana Merkel: "Den kennen Sie ja, glaube ich, ganz gut."
Karamba Diaby: "Sehr gut."
Jana Merkel: "Herr Diaby vor dem Hintergrund, dass Sven Liebich hier in dieser Stadt so aktiv ist, wie geht es Ihnen heute hier bei dem Gedenken?"
Karamba Diaby: "Ich bin sehr, sehr nachdenklich und immer noch richtig betroffen, wenn man sich diese Ereignisse von 2019 in Erinnerung hat. Bin traurig darüber, dass es immer noch keine Möglichkeit gibt, juristisch Sven Liebich wirklich deutlich so machen, dass in unserer Stadt brauchen wir keinen Hass und Hetze, sondern Zusammenhalt."

32:17
Rückblende: Im Sommer 2018 sitzt Karamba Diaby in Halle vor einem Einkaufszentrum und macht Mittagspause. Sven Liebich entdeckt ihn dort und fängt an, mit seinem Handy zu filmen und auf Diaby einzureden. Der Abgeordnete erkennt Sven Liebich sofort. 

32:55
Sven Liebich: "Ich habe hier den Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby beim Mittagessen, oder? Auf Steuerzahlerkosten versteht sich. Herr Diaby, Sie tun so, als würden Sie mich nicht hören."
Quelle: Telegram, Sven Liebich, 20.8.2021

32:41
Auf Liebichs Video ist zu sehen, wie Karamba Diaby die Tiraden des Rechtsextremisten demonstrativ ignoriert. Liebich lässt nicht von ihm ab, wirft Diaby vor, dass er nach seiner Ausbildung nicht wieder in den Senegal zurückgegangen ist.

32:55
Sven Liebich: "Also sprichwörtlich hat er sein eigenes Volk, das der Senegalesen, in den Arsch getreten. Und hat es vorgezogen, hier in Deutschland zu bleiben. Und wie sollen wir dann davon ausgehen, dass Sie unser Volk, also das der der Deutschen, zu dem Sie ja, dank geschenktem Pass auch gehören nun, nicht auch wieder in den Arsch treten werden?"
Quelle: Telegram, Sven Liebich, 20.8.2021

33:11
Karamba Diaby sagt später, dass er Liebich als sehr beleidigend und als bedrohlich erlebt hat. Diese Situation ist nur einer von mehreren Zwischenfällen. Und schließlich erstattet auch Diaby Anzeige. Das Ergebnis ist auch hier: Verfahren eingestellt. Darauf spreche ich den Abgeordneten nach dem Gedenken an.

33:29
Jana Merkel: "Jetzt ist es ja so, dass viele Menschen sich immer wieder fragen, warum sitzt Sven Liebich noch nicht im Gefängnis? Warum stellt die Staatsanwaltschaft so viele Verfahren gegen ihn ein? Ist das eine Kritik, die Sie auch teilen?"
Karamba Diaby: "Also ich teile diese Kritik, weil ich selber Anzeige gegen diesen Mensch gestellt habe, weil ich mich verfolgt, überall mit Verleumdung, mit beleidigende Begleitworte. Und offensichtlich ist das noch nicht so deutlich bei den Ermittlungsbehörden geworden. Ich wünsche mir wirklich, dass man das noch gründlicher angeht, diese Thematik."

34:06
Nach dem Gedenken an der Synagoge sammeln sich die Menschen vor dem ehemaligen Kiez Döner in Halle. Hier hatte der Attentäter auf die Gäste im Imbiss geschossen. Und Kevin S. getötet.

34:17
Rednerin auf der Gedenkveranstaltung: "Wir sind hier und erinnern. Wir erinnern an Jana (Name unkenntlich gemacht) und Kevin (Name unkenntlich gemacht). Wir sind hier und bleiben hier, um die alltägliche antisemitische Gewalt und den andauernden antisemitischen Terror zu benennen, um ihm etwas entgegenzusetzen und auch Betroffene und Überlebende darin zu hören, was sie brauchen.

34:42
Plötzlich kommt Unruhe auf. Ein Gerücht macht die Runde: Es heißt, jemand hätte eine spontane Kundgebung angemeldet. Die Befürchtung: Es könnte Sven Liebich sein. Ich frage bei einem Polizeibeamten nach. 

34:53
Jana Merkel: "Hallo, Jana Merkel vom MDR. Wen darf ich denn mal ganz kurz fragen, wegen einer mutmaßlich noch angemeldeten Veranstaltung?"
Polizist: (unverständlich)

35:03
Der Beamte erkundigt sich per Funk.

35:06
Jana Merkel: "Jetzt wurden hier manche ein kleines Bisschen nervös, ob vielleicht doch noch irgendetwas aus dem Sven Liebich-Spektrum kommt. Die Reaktion des Polizisten, den wir nicht namentlich nennen, war: Um Gottes Willen. Das wollen wir doch alle nicht hoffen."

35:21
Entwarnung. Anders als im Vorjahr taucht Liebich heute nicht auf.

35:27
Nach der Gedenkveranstaltung bleibt vor dem TeKiez eine Familie mit zwei Kindern stehen, sie stellen eine Kerze auf. Ich spreche sie an, erzähle von unserer Recherche für diesen Podcast. Und klar, der Name Liebich ist bekannt.  

35:40
Anwohnerin: "Und ich schwanke da so zwischen ignoriert man den Typen und gibt ihm damit auch nicht so eine große Bühne? Oder stellt man sich da auch regelmäßig hin, um dagegen zu demonstrieren? Da bin ich irgendwie gar nicht klar darüber, wie man am besten damit umgeht. Ja."
Jana Merkel: "Was für einen Umgang würden Sie sich denn von der Stadt wünschen und von den Behörden?"
Anwohnerin: "Naja, das zu verbieten, ist halt schwierig, wahrscheinlich - aber, dass – Also ich weiß, dass er zum Beispiel letztes Jahr am Gedenktag sogar eine Demo veranstaltet hat. Und da habe ich, das habe ich dann nicht mehr verstanden. Also das hab ich nicht verstanden, warum das genehmigt wurde."
Jana Merkel: "Was ist denn Ihr Eindruck, wie, wie geht diese Stadtgesellschaft mit ihm um?"
Anwohnerin: "Ich glaube, er ist irgendwie schon so quasi zur Normalität geworden. (lacht) Ja, es ist es halt schwierig, weil er auch so ein penetranter Typ ist, ja? Ich glaube, das ist schon so ein Hintergrundrauschen irgendwie geworden, was stattfindet und wo – Das hatte ich ja auch schon gesagt – na, wo ich mich aber auch selber frage: lässt man den Spinner reden und gibt ihm nicht noch mehr Bühne? Ja."

36:51
So oder so ähnlich reagieren die meisten Menschen, die ich beim Gedenken anspreche.   

36:55
Jana Merkel: "Der Eindruck, der heute bei mir hängenbleibt, ist, dass Sven Liebich es geschafft hat, sich hier so einzuklinken, in das Selbstverständnis dieser Stadt. Und alle fragen sich, warum ist das eigentlich so? Die meisten haben mir gesagt, sie würden sich wünschen, dass es irgendeine Art von Eingrenzung, Einhegung für ihn gäbe, dass es eben nicht mehr ständig das Stadtbild bestimmt oder die Stimmung auf dem Marktplatz bestimmt."

37:33
Wir wollen natürlich von Sven Liebich wissen, warum er das alles tut. Warum er Menschen zur Zielscheibe macht, sie verbal attackiert. Bei einer seiner Demos sprechen mein Kollege Thomas Vorreyer und ich ihn darauf an:

37:44
Jana Merkel: "Hallo, Herr Liebich, guten Abend, Herr Liebich, hallo."
Sven Liebich: "Sie wissen, dass ich mit Ihnen nicht rede."
Thomas Vorreyer: "Wir würden gern von ihnen wissen, warum sie immer wieder einzelne Menschen zur Zielscheibe machen, und die persönlich angreifen in ihren Reden?"

37:58
Ein Mann stellt sich dazwischen, versucht Liebich von uns abzuschirmen. 

38:01
Jana Merkel: "Herr Liebich, es gehört doch auch dazu, dass wir auch Sie befragen. Wenn wir Vorwürfe über Sie zu Ohren kriegen, dann müssen wir doch auch …"
Mann: "Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir keine Kommentare abgeben und uns mit ihnen nicht unterhalten. Und tschüss."
Jana Merkel: "Aber Sie sind nicht Herr Liebich."
Thomas Vorreyer: "Sie sind nicht Herr Liebich."
Jana Merkel: "Und wir würden gerne mit Herrn Liebich sprechen."

38:14
Unsere Versuche scheitern. 

38:16
Sven Liebich: "Ich werde hier übrigens angequatscht und belästigt."
Jana Merkel: "Ich wollte nur noch mal fragen, ob wir vielleicht miteinander sprechen können, Herr Liebich."
Mann: (schreit) "Lügenpresse!" (Musik wird lauter)
Sven Liebich: "Genau. Lügenpresse. Wir reden nicht mit der Lügenpresse."

38:30
Sven Liebich will keine kritischen Fragen beantworten. Nach dieser Begegnung greift er uns verbal in Videos im Netz an. Wir haben entschieden, diesen Attacken hier keinen Raum zu geben. Auch auf unsere schriftlichen Fragen bekommen wir bis Redaktionsschluss keine Antwort von ihm. 

38:56
Wir haben in dieser ersten Folge drei Menschen getroffen, die Sven Liebich angezeigt haben. Jedes Mal passierte gar nichts. Und je mehr Menschen wir ansprechen, desto mehr ähnliche Fälle finden wir. Und schließlich bekommen wir eine Zahl: 342. Das ist die Zahl der Ermittlungsverfahren, die gegen Sven Liebich in Halle anhängig sind - Stand: März 2023.  

39:25
342 Ermittlungsverfahren. Und ständig kommen neue dazu, erfahren wir. In der Vergangenheit wurden die meisten Verfahren gegen ihn eingestellt. Das verstärkt den Eindruck der Betroffenen, dass wenig passiert. Kann das sein? Funktioniert hier der Rechtsstaat wirklich nicht? Diesen Fragen gehen wir nach, in der zweiten Folge von "Extrem rechts - Der Hass-Händler und der Staat".

Mehr über den Podcast "Extrem rechts"

MDR

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