Grenzturm. 45 min
Grenzturm. Bildrechte: MDR/Sven Stephan

Mauer, Bunker, Grünes Band Verschwundenes Dorf an früherer DDR-Grenze: Wie Jahrsau wiederentdeckt wird

29. Oktober 2024, 10:43 Uhr

Einst war Jahrsau ein Dorf in der Altmark im Norden von Sachsen-Anhalt. Heute besteht es nur noch aus Ruinen. Denn: Die DDR ließ das Dorf in den 1960er Jahren räumen und niederreißen, weil es dicht an der damaligen Grenze zur BRD lag. Gut 60 Jahre später – und fast 35 Jahre nach der Wiedervereinigung – wird die Erinnerung an Jahrsau und weitere Dörfer am Grünen Band wieder lebendig. Dabei helfen auch Zeitzeugen.

Still ist es und grün unter den hohen Bäumen. Im Dickicht, in das ein schmaler Pfad hineinführt. Unter den Schuhen zuerst Kopfsteinpflaster, später rissige Betonplatten. Der Weg, der heute eher ein Trampelfpad ist, war vor Jahrzehnten noch eine Dorfstraße.

Von Jahrsau in der Altmark sind nur Ruinen übrig

Zwischen den Büschen taucht Mauerwerk auf. Grundmauern, so scheint es. Ein paar Meter weiter ein Schild, eindeutig neueren Ursprungs. Es erklärt, dass der Besucher vor dem ehemaligen Hof der Familie Schmidt steht. Einer von vier Höfen, die mal das Dorf Jahrsau ausmachten, einen winzigen Rundling im Norden der Altmark.   

Durch die Stille dringt unvermittelt eine Stimme. "Hier ist unser Haus gewesen", erzählt eine alte Dame. "Wenn man durchs Tor kam, hat man zuerst das Haus gesehen." Quelle der Stimme ist ein Smartphone. Dieter Leupold hält es in der Hand. Er ist stellvertretender Landesvorsitzender des Naturschutzbundes Bund in Sachsen-Anhalt. An seiner Seite der Dokumentarfilmer David Ruf. Mit dem Smartphone erkunden sie das verschwundene Dorf.

Ein Stein mit der verwitterter Aufschrift "...Hofstelle Wilhelm Vogler 1805 - 1945" steht 2019 an der Stelle, an dem sich einst der Ort Jahrsau befunden haben soll.
Ein Stein steht an der Stelle, an dem sich einst der Ort Jahrsau befunden haben soll. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Klaus-Dietmar Gabbert

Entdeckungsreise in ein verschwundenes Dorf in Sachsen-Anhalt

"Das ist schon ein eigenartiges Gefühl, sich vorzustellen, dass hier vor über 50 Jahren noch Menschen gelebt haben", beschreibt Dieter Leupold seine Eindrücke. In der Tat war der Ort mal ein funktionierendes Dorf. Es überstand den Dreißigjährigen Krieg, die Napoleonischen und zwei Weltkriege. Erst die deutsche Teilung wurde ihm zum Verhängnis.

Jahrsau lag in der DDR, aber nur einen Steinwurf von der innerdeutschen Grenze entfernt. Sie umschloss das Dorf von drei Seiten. So dicht dran sollten dort keine Menschen leben, beschloss der Staat. Mitte der 1960er-Jahre wurden alle Bewohner zwangsausgesiedelt. Und ihre Höfe niedergerissen. Jahrsau wurde geschleift. Nur wenige Jahre später wäre es 600 Jahre alt geworden. Nun ist es eine Wüstung.

Heute hilft das Smartphone bei der Orientierung. Genauer gesagt: eine App namens "Grenzwandler" tut es. Mit ihrer Hilfe kann sich der Besucher durch das frühere Dorf führen lassen. Auf dem Display zeigen Fotos, wie es dort früher aussah. Wichtiger aber noch sind die Erinnerungen von Zeitzeugen. Wie die von Friedel Schäfer, der alten Dame, deren Stimme gerade zu hören ist. Sie ist in Jahrsau geboren und aufgewachsen. Und war eine der letzten Bewohnerinnen, die das Dorf verlassen mussten. Heute ist sie 80 Jahre alt.

Zeitzeugen gegen das Vergessen

"Es sind ihre Erinnerungen, auf denen diese Erfahrung hier beruht, weil sie natürlich auch über die Nachbarn erzählt, was das für Menschen gewesen sind, wann sie gehen mussten und weil sie diesen Ort noch präsent vor Augen hat", sagt David Ruf. Der Dokumentarfilmer aus Berlin hat die App gemeinsam mit seinen Kollegen von Rocinante Film entwickelt. Ihm hat Friedel Schäfer vor laufender Kamera noch einmal vom Leben in Jahrsau erzählt. Erinnerungen, die sie nun mit der Welt teilt.

Aber auch wenn's so klein gewesen ist – man ist da geboren und aufgewachsen. Man hängt da dran.

Friedel Schäfer Zeitzeugin aus Jahrsau

Standortbasiertes Erzählen nennt David Ruf das. "Wir haben herausgefunden, dass das am besten funktioniert in der Kombination aus Zeitzeugen und dem Ort selbst. Wenn Frau Schäfer erzählt von ihrem Haus, von dem wir noch die Grundmauern sehen, wie sie am Küchentisch gesessen hat, wie die Oma noch mal geguckt hat, als sie gehen mussten, wie sie noch mal auf ihrem Pferd geritten ist – das macht mehr mit einem, als wenn man nur die Fakten serviert bekommt."

Grenzwanlder-App
Dokumentarfilmer David Ruf hat die "Grenzwandler"-App gemeinsam mit Kollegen entwickelt. (Screenshot aus dem Film "Der Osten – Entdecke, wo du lebst" zum Thema.) Bildrechte: MDR/Sven Stephan

Erinnern auch nach 35 Jahren

Die Erstellung der "Grenzwandler"-App wurde und wird vom Land Sachsen-Anhalt unterstützt. Sie soll ein Stück deutscher Geschichte vor dem Vergessen bewahren. Aus diesem Grund ist in Jahrsau auch der Bund mit im Boot. Freiwillige schneiden regelmäßig die letzten Pfade frei, damit sie nicht völlig zuwuchern. Die Natur hat sich in nur einem halben Jahrhundert alles zurückerobert.

Es erinnert an das Leid der Menschen, ihre Vertreibung. Aber auch an Mut und Entschlossenheit der Ostdeutschen.

Dieter Leupold BUND

Heute ist die Wüstung Jahrsau ein Ort am "Grünen Band" zu dem das frühere Grenzgebiet in den letzten 35 Jahren geworden ist. Über 1.300 Kilometer – von der Ostsee bis ins Vogtland – zieht sich heute Deutschlands größter Biotopverbund. Der sei zugleich eine Erinnerungslandschaft, sagt Dieter Leupold vom BUND. "Es erinnert an das Leid der Menschen, ihre Vertreibung. Aber auch an Mut und Entschlossenheit der Ostdeutschen. Sie sind für Ziele eingestanden und haben Veränderungen erreicht. Und das ist ein Signal, das wir zukünftigen Generationen mitgeben sollten."

Zeitzeugin über verschwundenes Dorf Jahrsau: "Man hängt da dran"

Auch 35 Jahre nach ihrem Ende sei das Erinnern an die Zeit der deutschen Teilung wichtig, sind sich Dieter Leupold und David Ruf einig. Den Zeitzeugen kommt dabei eine besondere Rolle zu.

Erst in den Gesprächen habe ich ein Gefühl dafür bekommen, was das eigentlich ist: das Sperrgebiet. Was es heißt, einen Passierschein zu brauchen, die ganze Zeit gegängelt zu werden.

David Ruf Dokumentarfilmer

"Erst in den Gesprächen habe ich ein Gefühl dafür bekommen, was das eigentlich ist: das Sperrgebiet. Was es heißt, einen Passierschein zu brauchen, die ganze Zeit gegängelt zu werden. Was es heißt, von einem Tag auf den nächsten sein Zuhause zu verlieren, auf einen Lastwagen geladen zu werden und irgendwo neu anzufangen", sagt David Ruf. Der Dokumentarfilmer ist in Süddeutschland aufgewachsen. "Und ich habe das Gefühl, dass es ein viel größeres Bedürfnis gibt zur Teilhabe an einem Gespräch. Dass Menschen selbst zu Wort kommen wollen, um ihre Erinnerung zu teilen."

Die "Grenzwandler"-App soll Erinnerungen bewahren und weitertragen, an die nächste, junge Generation. So soll sie dafür sorgen, dass auch die Geschichte von Jahrsau nicht vergessen wird. "Jahrsau war nur ein kleines Nest. Aber auch wenn's so klein gewesen ist – man ist da geboren und aufgewachsen. Man hängt da dran", heißt es in den Erinnerungen von Friedel Schäfer. Mit einem Seufzer fügt sie hinzu: "Ach ja, war 'ne schöne Zeit."

Der "Grenzwandler" in Sachsen-Anhalt

Bislang kann man mit dem "Grenzwandler" sechs Orte an der früheren innerdeutschen Grenze entdecken, die heute die Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen ist.

  • In der Wüstung Jahrsau erinnert die App an ein verschwundenes Dorf.
  • In Beendorf begibt sie sich auf die Spurensuche nach einem ehemaligen KZ.
  • Am Bahnhof Marienborn gibt es ein eher unbekanntes Nadelöhr zwischen Ost und West zu entdecken.
  • In Hötensleben erinnern sich Zeitzeugen an das Leben direkt an der streng bewachten Grenze.
  • In Abbenrode fanden sich nach dem Mauerfall Grenzer aus Ost und West zusammen.
  • Bei Benneckenstein kam es vor 45 Jahren zu einem dramatischen Fluchtversuch.


Die Macher von Rocinante-Film sind dabei, Entdecker-Touren für drei weitere Orte in Sachsen-Anhalts Grenzland zu entwickeln. Eine vierte soll dann erstmals einen Ort in Thüringen erkunden.

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MDR (Sven Stephan, Moritz Arand) | Erstmals veröffentlicht am 27.10.2024

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | 05. November 2024 | 21:00 Uhr

27 Kommentare

Jana vor 18 Wochen

Na wenigstens erklärt jemanden denen die DDR die anscheinend nice dort gelebt haben bzw. schon längst wieder alles vergessen haben was in diesem Staat massiv falsch gelaufen ist, so dass er von vielen Menschen zu recht als Unrechtsstaat angesehen wird.
Mir ist natürlich auch klar, dass man die Verbrechen der STASI und der DDR kleinreden muss, wenn man in dummen Vergleichen unseren Staat damit vergleicht, weil der einen dazu gezwungen hat zum Schutz von Mitmenschen und sich selbst eine Maske zu tragen, bzw. weil dieser nicht mehr jede Morddrohung oder Beleidigung ungestraft im Netz stehen lässt.

Was genau stört sie denn an dem Artikel und an der Aktion, die an geschleifte DDR Dörfer und ihre zwangsumgesiedelten Bewohner erinnert?

Lavendel vor 18 Wochen

Was stört sie daran, dass an die Geschichte unserer Heimat und die Heimat von Menschen erinnert wird, die aus ihr vertrieben wurden und deren Elternhäuser der Staat schleifte um besseres Schußfeld auf Flüchtende zu haben?

Lavendel vor 18 Wochen

Seltsam, dass sie anderen Voreingenommenheit unterstellen, es selbst aber nicht mal hinkriegen ganz neutral von den westlichen Bundesländern zu reden. Es ist auch bezeichnend, dass sie keinen einzigen Kritikpunkt genau benennen können, aber dafür umsomehr Stammtischsprüche a la "Man bestellt und bezahlt ja schließlich." ablassen.

Die DDR war halt nicht nur das, was man heute ostalgisch verklärt sondern ein Unrechtsstaat der nicht davor zurückschreckte seine eigenen Bürger an der Grenze zu ermorden wenn sie das Land verlassen wollten. Der Grund dafür ist auch historisch eindeutig belegt. Es war die Furcht davor, dass dem Land die Arbeitskräfte davon liefen und man somit als Staat immer mehr an Bedeutung verliert und nicht mal die bötigsten Grundbedürfnisse der Restbevölkerung befriedigen kann.

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