Forschungsprojekt zur Wendezeit Wie mutige Bürger in Stendal den historischen Stadtkern vorm Abriss gerettet haben
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von Bernd-Volker Brahms, MDR SACHSEN-ANHALT
18. Dezember 2023, 16:40 Uhr
Die historische Altstadt von Stendal sollte Ende der 1980er Jahre nahezu komplett abgerissen werden. Planer in der DDR wollten die maroden Häuser gegen moderne Plattenbauten ersetzen. Dass das Vorhaben nicht umgesetzt wurde, hat viel mit der politischen Wende 1989 und dem Engagement zahlreicher mutiger Bürgerinnen und Bürger in Stendal zu tun. Mit einem Forschungsprojekt der Hochschule Magdeburg-Stendal soll der Umbruch-Zeit nachgegangen werden.
- Die DDR wollte Ende der Achtzigerjahre die historische Altstadt in Stendal abreißen und durch moderne Plattenbauten ersetzen.
- Für den Erhalt sorgten mutige Bürger, die 1990 noch zu DDR-Zeiten Proteste gegen den Abriss organisierten.
- Die Entwicklungen werden jetzt von einem Forschungsprojekt genauer untersucht.
Wer heute durch die sanierte Innenstadt von Stendal läuft, kann kaum glauben, dass viele Häuser dem Abbruch geweiht waren. Stendal ist ein Kleinod in der Altmark. Professor Günter Mey ist fasziniert davon, wie vor 35 Jahren die Weichen für die Stadt und auch die Gesellschaft gestellt wurden. Der Entwicklungs-Psychologe stieß vor Kurzem auf das Thema. Durch einen Zufallsfund, wie er sagt. "Es gibt eine drei Stunden lange Videoaufnahme mit Bildern aus Stendal von Anfang 1990. Dort bekommt man einen Eindruck davon, wie verfallen die Stadt zu der Zeit war", sagt der Professor.
Stadtplaner hatten vorgesehen, viele alte Häuser – teilweise mehr als 300 Jahre alt – abzureißen und durch Plattenbauten zu ersetzen. Es lag im Trend der 1970er und 1980er Jahre – nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im Westen. Moderner Wohnungsbau hieß das Schlagwort.
Nur noch 1.500 Bewohner in Altstadt
In Stendal war die Innenstadt zuletzt so verfallen, dass dort gerade einmal nur noch 1.500 Menschen lebten. Bedingt durch den Kraftwerksbau und hinzuziehende Arbeitskräfte war die Stadt insgesamt zum Ende der DDR auf rund 50.000 Einwohner angestiegen. Viele lebten in den Plattenbau-Siedlungen in Stendal-Stadtsee und Stendal-Süd.
"Kaum jemand wollte mehr in den alten Häusern leben", sagt der heute 74-jährige Rüdiger Laleike. Der selbstständige Designer hat bis heute sein Atelier in der Stendaler Innenstadt. Er setzte sich zur Wendezeit für den Erhalt der historischen Bausubstanz ein. "Rettet die Altstadt", hieß die Aktion. Laleike entwarf das Plakat. Bei einer Protestaktion am 3. Februar 1990 fotografierte er die Demonstranten bei ihrer Menschenkette durch die Innenstadt. "Ich hatte beim Fotografieren ein mulmiges Gefühl", sagt Laleike. Die DDR habe ja noch existiert und man habe nicht so richtig gewusst, "wo die Reise hingeht". Er will es heute aber nicht als Mut bezeichnen, was sie damals gemacht haben.
Für Professor Günter Mey sind die Aussagen und auch die historischen Fotos für sein Projekt "Wi(e)der-sprechen! Stendal 89/90" äußerst wertvoll. Es gehe darum, der Zeit nachzuspüren. Es gehe darum – wie der Titel es sagt – die beiden Aspekte "Widerspruch" und "Wieder sprechen können" zu ergründen.
Altstadt-Rettung, AKW, Umwelt-Bewegung
Das Projekt ist dabei nicht ausschließlich fokussiert auf die Altstadt-Rettung, sagt der Wissenschaftler. "Es gab ja auch noch die Frage des Atomkraftwerks und damit auch der Umwelt-Bewegung, dann gab es die Aspekte der Friedensbewegung und es gibt diesen Aspekt der Altstadt. Und damit hängen diese Geschichten zusammen und lassen sich aus einer Logik des Aufbrechens oder eines Aufbruchs in den 80ern charakterisieren." Neben Fotos und Dokumenten geht es vor allem um Zeitzeugen-Interviews. Studentin Anna-Luise Bausch hat schon Gespräche geführt.
"Wir probieren, möglichst offen in die Situation reinzugehen. Aber wir haben natürlich auch Fragen vorbereitet, die uns besonders interessieren." Studentin Alina Lange hat sich ebenfalls für die Mitarbeit gemeldet. "Ich würde auch sagen, dass ich einen persönlichen Bezug dazu habe, weil meine Familie halt alle auch die Wende selbst erlebt haben und ich da geprägt wurde von denen. Aber ich habe auch ein persönliches Interesse, einfach mehr über die Zeit zu erfahren."
Mehr erzählen kann auch Petra Drescher. Sie war vom Zustand der Stendaler Altstadt zur Wendezeit entsetzt. "Da gab es Häuser, die sind einfach so in sich zusammengefallen", sagt sie. Mit Megafon war sie bei Demonstrationen dabei. Ausgangspunkt waren auch die Aktivitäten des "Neuen Forums", die Veränderungen anschoben und den Menschen Mut machte. Führende Köpfe waren die Ärztin Erika Drees (1935-2009) und Blaufärber Hans-Peter Schmidt (1941-2002). "Die hatten Mut", sagt Petra Drescher, die später im Stendaler Stadtrat mitgewirkt hat. Genauso wie Rüdiger Laleike erwarb Drescher ein Fachwerkhaus in der Stendaler Innenstadt, um dieses zu sanieren.
Zeitzeugen mit Unterlagen aus der Zeit
Beide Zeitzeugen gehören zu den wichtigen Protagonisten beim Projekt von Professor Mey. Zumal Petra Drescher, die zur Wendezeit im Betrieb Geologische Erkundung gearbeitet hatte, noch viele Unterlagen aus der Zeit besitzt. Protokolle, aber auch Stadtpläne mit den waghalsigen Plattenbau-Projekten in der Innenstadt. "Das ist Goldstaub", sagt die Rentnerin.
Sichtbar werden soll das Wissenschafts-Projekt im kommenden Jahr an authentischen Orten, dort wo die Menschenschlange zum Erhalt der Altstadt demonstrierte oder auch in der Petrikirche, wo es das "Offene Mikrofon" gab. Professor Mey ist seit 2009 in Stendal und hat sich bereits mit wissenschaftlichen Ausstellungen einen Namen gemacht. Sehr großen Anklang fand 2018 eine Schau zu Jugendkultur 1950-1990. Er spürte aber auch Künstlern in der Altmark nach (2021/22). Zusammen mit dem Theater der Altmark organisierte er die Events "Heimatperspektiven (2014) und das "angst(frei)-festival" (2011).
"Dahinter liegt immer die Idee, Forschungsergebnisse immer wieder auch anders zu präsentieren, so dass es dann wiederum Orte zum Nachdenken, zum Nachhören, zum Nachgucken geben wird", so Mey.
MDR (Bernd-Volker Brahms, Mario Köhne)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. Dezember 2023 | 19:00 Uhr
Uborner vor 50 Wochen
Das mag ja alles richtig sein, ich bin aber sehr, sehr, sehr froh dass viele schöne Altstädte im Osten gerettet wurden. Es ist eben anders durch belebte Straßen mit schönen Häusern zu laufen als durch Straßen mit irgendwelcher modernen Architektur. DDR hin, DDR her, noch mal, ich bin froh dass es so gekommen ist und wir viele schöne Altstädte haben.
Maria A. vor 50 Wochen
Dafür gibt es ein Chapeau. Obwohl man nicht weiß, ob diese Aktion ein derart bemerkenswertes Ergebnis gehabt hätte, wäre es nicht zur Einheit und damit zum Beendigen der Mangelwirtschaft gekommen.
kleinerfrontkaempfer vor 50 Wochen
Nach dem 2.WK war die Versorgung der Menschen im Lebensnotwendigem vorrangig. Die Wohnungssituation war angespannt. In meinem Heimatort lebten einige Jahre über 44.000 Menschen. Zum Vergleich: Heute sind es mit Umlandgemeinden etwa 23.000.
Die Wohnungsfrage wurde in der DDR ab den 60er Jahren angepackt. In meiner Region wurde z.B. ein Plattenbauprojekt aus Finnland gekauft, gebaut und erprobt. Es ging um die Tauglichkeit in Höhenlagen bei enstprechenden Außenklima. All das und die Umsetzung mit industrieller Fertigung kam nicht über Nacht. Gerne hätte man schneller und mehr passablen Wohnraum geschaffen. Die anderen sozialpolitischen Maßnahmen mußten allerdings auch umgesetzt werden. Wer heute den Altbauzustand in der DDR kritisiert und verteufelt sollte sich den realen Alltag mit kostenloser Bildung, Gesundheitsversorgung, billigem ÖPNV, Ferienwesen,....
"Waghalsige" Innenstadtbebauungen gibt auch 2023 noch zu erleben und niemand nimmt Anstoß daran.
mal wieder vor Augen führen.