Pflastersteine am Güterbahnhof in Zittau
Ein Haufen Pflastersteine, die niemanden interessieren? Diese Rechnung ging am Güterbahnhof Zittau nicht auf. Bildrechte: imago images/Andre Lenthe

Amtsgericht Görlitz Zittauer Pflasterstein-Urteil: Neun Monate Bewährung für Thüringer Gärtner

25. April 2024, 18:36 Uhr

Es klingt unglaublich: In Zittau ist in einer Nacht eine ganze Straße verschwunden. Gut 100 Tonnen Kopfsteinpflaster wurden im Dezember 2021 am Güterbahnhof in Zittau gestohlen. Am Donnerstag ist ein Mann aus Thüringen für den Diebstahl verurteilt worden.

Im Prozess um eine gestohlene Straße in Zittau ist am Mittwoch ein Mann aus Erfurt verurteilt worden. "Der Angeklagte wurde zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt", erklärte Christoph Gerhardi, Sprecher der Staatsanwaltschaft Görlitz zu dem skurrilen Fall am Amtsgericht. "Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Monate Freiheitsstrafe beantragt, die Verteidigung sechs - das Urteil liegt also genau in der Mitte."

Kopfsteinpflaster von 60 Meter langer Straße gestohlen

Der aus Thüringen stammende gelernte Gärtner Jens B. war wegen schweren Diebstahls angeklagt. Er soll im Dezember 2021 in Zittau eine ganze Pflasterstraße gestohlen haben – genau genommen 110 Tonnen historisches Kopfsteinpflaster aus Granit. Laut Bundespolizei hatte die Deutsche Bahn Straßenbauarbeiten in Auftrag gegeben, wofür auf etwa 60 Metern Länge das Kopfsteinpflaster abgetragen wurde. Der Mann soll die arbeitsfreien Tage auf der Baustelle abgepasst und schließlich zugeschlagen haben.

Zerstörtes und entwendetes Granitpflaster des Güterbahnhofs in Zittau
Das Pflaster war bei Bauarbeiten am Güterbahnhof in Zittau abgetragen und schließlich gestohlen worden. (Archivbild) Bildrechte: imago images/Andre Lenthe

Kripo Live hat Zeugen gesucht

Nach einer Ausstrahlung des Falls in der MDR-Sendung "Kripo Live" hatten Zeugenhinweise auf die Spur des 56-Jährigen geführt. Die Zeugen konnten die von den Dieben eingesetzten Baufahrzeuge beschreiben. Der Thüringer hatte sich für den Abtransport der schweren Granitsteine Spezialwerkzeuge und Fahrzeuge gemietet – diese Beute passte ja nicht einfach in die Jackentasche. Allerdings vergaß er, die Verleihfirma zu bezahlen, die dann wiederum bereitwillig die Kundendaten herausrückte.

Verhaftung im Dezember 2022

Unter massivem Polizeieinsatz wurde Jens B. im Dezember 2022 schließlich verhaftet und in U-Haft nach Görlitz gebracht. Bis Juni 2023 saß er in Haft. "Da allerdings nicht davon auszugehen war, dass er sich nach Mexiko absetzt, wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt", erklärte Richter Ulrich von Küster MDR SACHSEN. "Wie erwartet ist Jens B. artig aus Thüringen zur Verhandlung angereist."

Da allerdings nicht davon auszugehen war, dass er sich nach Mexiko absetzt, wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt.

Ulrich von Küster Richter am Amtsgericht Görlitz

Bewährung wegen günstiger Prognosen

"Der Fall ist in der Öffentlichkeit explodiert", erklärte von Küster MDR SACHSEN. Es sei richtig, dass der Fall auf niedrigerer Ebene vor dem Amtsgericht Görlitz und nicht wie ursprünglich avisiert vor dem Landgericht verhandelt wurde. "Der Mann saß sechs Monate in Untersuchungshaft", sagte von Küster. "Der Mann ist fest angestellt und hat eine günstige Sozialprognose. Es ist nicht davon auszugehen, dass er wieder in das Pflasterstein-Diebstahl-Geschäft einsteigen wird. Von daher habe ich mich für eine Freiheitsstrafe auf Bewährung ausgesprochen."

Es ist nicht davon auszugehen, dass er wieder in das Pflasterstein-Diebstahl-Geschäft einsteigen wird.

Ulrich von Küster Richter am Amtsgericht Görlitz

Lässiger Eigentumsbegriff

Richter von Küster erklärte: "Manche Menschen scheinen den Eigentumsbegriff recht lässig auszulegen." Er habe auch schon Fälle verhandelt, bei denen Eisenbahnschienen von stillgelegten Gleisen demontiert worden sind. Dem Thüringer Gärtner sei die Tragweite seiner Tat offenbar nicht gegenwärtig gewesen. Jens B. hatte in dem Verfahren zwar eingeräumt, Pflastersteine entfernt und abtransportiert zu haben, nicht aber gestohlen. Er ging davon aus, dass der Eigentümer - die Deutsche Bahn - nichts dagegen hatte.

Wert des Diebesgutes nicht genau feststellbar

"Der Vorwurf war sehr spektakulär auch in der Öffentlichkeit ausgewertet. Wir dürfen bei all diesen Verfahren nicht vergessen, dass der Angeklagte sechs Monate in Untersuchungshaft gesessen hat", erklärte auch Stephan Rochlitz, der Verteidiger des Thüringers. "Und wir müssen heute wieder feststellen, dass wir aktuell einen Wert an Diebesgut nicht feststellen können."

Kopfsteinpflaster
Steine sind nicht gleich Steine: Neue Granitsteine haben oft scharfe Kanten. Gebrauchte Steine mit abgerundeten Kanten eignen sich laut Kennern für Einfahrten wohl besser. Bildrechte: Colourbox.de

Granitpflaster bleibt verschwunden

Das Granitpflaster selbst ist bis heute weitgehend unauffindbar. Es wurde mutmaßlich über das Internet verkauft. Nach einem Streit über den Wert der Steine einigten sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf einen Schaden von 3.200 Euro. "Hundertprozentig wurde das heute nicht", sagte Gerhardi, Sprecher der Staatsanwaltschaft. "Man einigte sich auf 40 Tonnen Steine im Wert von jeweils 80 Euro pro Tonne, also auf einen Diebstahlsschaden von 3.200 Euro."

Über den Wert der Beute stritten Staatsanwaltschaft und Verteidigung beim letzten Verhandlungstag im Juni 2023 so heftig, dass der Richter Nachermittlungen anordnete.

"Goldstaub" unter den Pflastersteinen

Weil die Pflastersteine bereits in einer Straße verbaut und somit als gebraucht gelten, waren sie für den Staatsanwalt mehr wert als ein neuer Pflasterstein aus dem Baumarkt. Der kostet etwa ein Euro pro Stein, rechnete er dem Richter vor. Alte und über Jahre abgefahrene Pflastersteine seien aber so etwas wie der "Goldstaub" unter den Pflastersteinen. Auf dem Schwarzmarkt bekäme man dafür sehr viel mehr Geld. Laut Frank Stürmer, Fachberater für Natursteine, seien sie besonders für Einfahrten interessant, weil sie keine scharfen Kanten mehr hätten.

Rechenstunde vor Gericht

Der Verteidiger sah das allerdings anders und griff zum Taschenrechner. Auch der Staatsanwalt schloss sich der Mathestunde an und rechnete nach. Am Ende kamen sie zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Der Staatsanwalt schrieb dem alten Pflaster einen Wert von weit über 10.000 Euro zu, der Verteidiger hatte nur ein paar Hundert Euro ausgerechnet.

Fazit: Ein halbes Jahr U-Haft und neun Monate Bewährungsstrafe für einen Haufen Steine im Wert von 3.200 Euro. Da hat der Thüringer Gärtner in Sachsen wohl auf Granit gebissen.

MDR (tom)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 25. April 2024 | 19:00 Uhr

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