Wahlplakate verschiedener Parteien für die Kommunalwahl hängen in der Erfurter Innenstadt am 01.05.2024 auf dem Anger in Erfurt.
Wenn die Bürgererinnen und Bürger in Thüringen am 26. Mai wählen, finden sie nur wenige Frauen auf den Bürgermeister- und Oberbürgermeisterlisten - genauso wie auf den Wahlplakaten, wie hier in Erfurt. Bildrechte: IMAGO/photo2000

Kommunalwahl Männer bevorzugt: 90 Prozent der OB-Kandidaten in Thüringen sind männlich

25. Mai 2024, 10:31 Uhr

Am 26. Mai werden auch Bürgermeister und Oberbürgermeister gewählt. Nur etwa zehn Prozent der Kandidaten für diese Ämter in Thüringen sind Frauen. Warum ist das so und wie ließe sich das ändern?

MDR Redakteurin Carmen Fiedler
Bildrechte: MDR

Wer bei den Thüringer Bürgermeisterwahlen nach Kandidatinnen, also Frauen, Ausschau hält, muss gezielt suchen. Es sind lediglich 19 in ganz Thüringen. Ihnen stehen 161 männliche Kandidaten gegenüber (Stand 23. Mai 2024). Das bedeutet: In den meisten Orten stehen erst gar keine Frauen zur Wahl. Ähnlich sieht das Verhältnis bei den Oberbürgermeisterwahlen aus: Hier kandidieren 38 Männer, aber nur vier Frauen. Und diese haben jeweils mehrere Konkurrenten.

Jana Rötsch (Mehrwertstadt) etwa kandidiert in Erfurt neben fünf Männern, darunter der langjährige Amtsinhaber Andreas Bausewein (SPD). Sie sagt: "Die antretenden Kandidatinnen und Kandidaten bilden einfach nicht den Durchschnitt der Bevölkerung ab. Das finde ich fatal."

90 Prozent der deutschen Bürgermeister sind männlich

Mit dem Durchschnitt der Bevölkerung ist das Verhältnis der Geschlechter gemeint: In Thüringen leben etwas mehr Frauen (2022: 1.075.364) als Männer (2022: 1.051.482). Aber nur etwa zehn Prozent der Bürgermeister- und Oberbürgermeisterkandidaten sind Frauen. Dabei bildet das Land keine Ausnahme: Deutschlandweit sind nur neun Prozent der Stadtoberhäupter Frauen. Anders gesagt: Mehr als 90 Prozent der Bürgermeister hierzulande sind männlich.

Warum das überhaupt problematisch ist, bringt Jana Rötsch so auf den Punkt: "Der durchschnittsweiße Mann weiß von den Problemlagen von Frauen nicht allzu viel. Das ist wirklich ein Riesenproblem."

Auch die einzige Oberbürgermeisterin Thüringens, Katja Wolf (BSW, vormals Linke) aus Eisenach, findet die starke Unterrepräsentanz von Bürgermeisterinnen problematisch. Den bundesweiten Frauenanteil von neun Prozent kommentiert sie so: "Das ist eine bittere Zahl."

Wir haben eine andere Perspektive und die ist wichtig.

Katja Wolf Oberbürgermeisterin Eisenach

Auf die Frage, warum es wichtig ist, dass mehr Frauen das Amt besetzen, sagt sie: "Ich glaube, dass wir nachhaltiger, weil langfristiger, denken, denn wir denken oftmals für die Kinder mit vor." Zudem glaube sie, dass Frauen einen ganzheitlicheren Blick auf die Stadt haben. "Wir haben eine andere Perspektive und die ist wichtig."

Eine Frau steht auf einem Platz und schaut in die Kamera.
Katja Wolf (BSW, vormals Linke) tritt nicht erneut zur OB-Wahl in Eisenach an. Bildrechte: Stadtverwaltung Eisenach/Felix Schmitt

Katja Wolf tritt nach zwei Amtszeiten nicht erneut zur OB-Wahl in Eisenach an. Sie will für das BSW in den Landtag einziehen. Damit bleibt abzuwarten, ob Thüringen nach den Kommunalwahlen überhaupt noch eine weibliche Oberbürgermeisterin hat.

Anja Czeromin (parteilos) ist da guter Dinge. Sie kandidiert gegen zwei Männer in Mühlhausen. "Mir wurde vielfach vermittelt, jetzt, in diesen harten Zeiten, braucht es eine Vermittlerin, die nicht provokant oder auf Krawall gebürstet ist. Es kann sein, dass die Leute sehen, dass es gerade jetzt wichtig ist, ausgleichend zu wirken." Ähnlich argumentiert Nicole Schmidt (parteilos), OB-Kandidatin in Gotha, die gegen vier Männer antritt. Sie sagt: "Das Weibliche, Empathische würde der Politik sehr guttun."

Frauen führen besser

Das klingt klischeehaft, aber Studien zeigen tatsächlich, dass Frauen das Aushandeln widersprüchlicher Interessen besser beherrschen, wie Nina Kolleck, die als Professorin für Politik- und Bildungswissenschaften an der Universität Leipzig arbeitet, in einem Gastbeitrag der ZEIT schreibt. Demnach beziehen sie in der Zusammenarbeit und in Verhandlungen eher verschiedene Interessen und gesellschaftliche Aspekte mit ein als Männer es tun. Bei Unternehmen, in denen Frauen in Führungsgremien sitzen, steigen Umsatz und Gewinn. Die Unternehmen werden wettbewerbsfähiger und Universitäten werben mehr Drittmittel ein.

Schlussendlich ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Noch einmal: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen. Die Jenaer OB-Kandidatin Kathleen Lützkendorf (Grüne) sagt denn auch: "Ich würde mich total freuen, wenn mehr Frauen und mehr diverse Menschen in den Räten abgebildet werden würden." Sie selbst tritt gleich gegen sieben männliche Kandidaten an.

Frauen managen Familien

Doch warum gibt es überhaupt so wenige Kandidatinnen? Die Gründe dafür seien vielfältig, antwortet Kathrin Mahler Walther, Geschäftsführende Vorsitzende der Forschungs- und Beratungsorganisation EAF Berlin, bei der das "Aktionsprogramm Kommune - Frauen in die Politik" angesiedelt ist. So bremsten etwa veraltete Rollenbilder Frauen aus. Dadurch hätten Frauen stärkere Vereinbarkeitsanforderungen, als das bei Männern der Fall sei. Heißt, es liegt überwiegend an den Frauen, die Familie und alles, was dazu gehört, zu managen.

Das bestätigt OB-Kandidatin Anja Czeromin aus Mühlhausen: "Oft lastet es auf den Schultern von jüngeren Frauen, die Arbeit und das Private zu stemmen. Da ist leider die Zeit nicht da, sich politisch zu engagieren." Auch Nicole Schmidt aus Gotha sagt, dass ein Faktor "die Herausforderung, Familie und Beruf mit der Politik zu vereinbaren", sei. Und die Jenaer OB-Kandidatin Kathleen Lützkendorf sagt: "Ich könnte mir vorstellen, dass viele Frauen durch Beruf, Familie und andere Themen stärker gefordert sind und dass es für Männer immernoch leichter ist, sich da herausrauszunehmen."

Studien bestätigen dieses Gefühl. Der Gender Care Gap, der den unterschiedlichen Zeitaufwand, den Frauen und Männer für unbezahlte Sorgearbeit aufbringen, zeigt, liegt einer Studie des Statistischen Bundesamts zufolge bei 44,3 Prozent. Demnach verbringen Frauen deutlich mehr Zeit mit unbezahlter Arbeit als Männer, nämlich im Durchschnitt pro Tag 79 Minuten.

Der Job, wenn ich das so sagen darf, ist wirklich mörderisch, auch von den Arbeitszeiten und von den Belastungen für die Familie her.

Katja Wolf Oberbürgermeisterin Eisenach

"Dazu kommt, dass das Amt mit einem enormen Aufwand verbunden ist. Für mich ist das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausdrücklich kein Frauenthema, aber Frauen nehmen mehr Rücksicht darauf", sagt Katja Wolf. Sie erzählt, dass sie es ohne die Unterstützung ihrer Eltern nicht geschafft hätte. "Der Job, wenn ich das so sagen darf, ist wirklich mörderisch, auch von den Arbeitszeiten und von den Belastungen für die Familie her." Wolf hat zwei Kinder, die inzwischen 21 und 24 Jahre alt sind.

Starkes Netzwerk wichtig

Doch die durch den Gender Care Gap fehlende Zeit, die fehlenden Ressourcen und das fehlende Geld von Frauen sind nur eine Ursache, weshalb sie seltener für politische Ämter in der Kommune kandidieren. "Der Weg ins Amt erfordert in hohem Ausmaß zeitliche und finanzielle Ressourcen sowie Unterstützung durch ein starkes Netzwerk und die Sichtbarkeit vor Ort. Hier haben Männer häufig bessere Ausgangsbedingungen", sagt Kathrin Mahler Walther, die Sozialwissenschaften unter anderem in Jena studiert hat.

Es braucht also neben Zeit und Geld auch Unterstützung. Die Grüne Kathleen Lützkendorf aus Jena und Jana Rötsch aus Erfurt erzählen, wie stark sie von ihrer Partei beziehungsweise Initiative und ihren Familien und Partnern unterstützt werden. Rötsch sagt: "Für meinen Mann war von vornherein klar, mach, ich unterstütze dich hundertprozentig, ich halte dir den Rücken frei. Ohne das wäre meine Kandidatur nicht möglich gewesen." Zudem spiele Gleichberechtigung in ihrer Wählerinnen- und Wähler-Initiative Mehrwertstadt eine riesengroße Rolle, wie sie sagt. "Ich musste da überhaupt nicht kämpfen."

OB-Amt meistens umkämpft

Anders ist das möglicherweise bei der einen oder anderen etablierten Partei. Anja Czeromin, die früher Mitglied der CDU war, sagt: "Das fängt bei den Parteien ja schon an, dass dort oft in den Vorständen oder an der Spitze Männer sind und folglich sind die Kandidaten, die man für Oberbürgermeister- oder Bürgermeisterwahlen aufstellt, auch Männer."

Das bestätigt Katja Wolf, die schon viele Jahre Politikerin ist. Das OB-Amt sei ein extrem herausgehobenes und manchmal auch in den Parteien umkämpft, sagt sie. "Frauen haben auf diesen innerparteilichen Wahlkampf keine Lust." Und weniger Zeit und Ressourcen, könnte man hinzufügen.

Und die Gothaer OB-Kandidatin Nicole Schmidt meint: "Die derzeitige politische Landschaft erscheint oft rau und hart, was möglicherweise Frauen davon abhält, sich zu engagieren."

Unsere Studien zeigen, dass Frauen ... insbesondere mit sexistischen Beleidigungen entwürdigt werden.

Kathrin Mahler Walther EAF Berlin

Das hängt eng mit der dritten Ursache für weniger weibliche Kandidatinnen zusammen. Kathrin Mahler Walther erklärt, dass Politikerinnen und Politiker immer häufiger Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt sind. "Unsere Studien zeigen, dass Frauen davon in stärkerem Ausmaß betroffen sind und insbesondere mit sexistischen Beleidigungen entwürdigt werden. Das führt leider dazu, dass viele Frauen - aber auch Männer - sich fragen 'Warum soll ich mir das antun?' und damit der Demokratie vor Ort elementar wichtige Perspektiven verloren gehen."

Jana Rötsch
Jana Rötsch (Mehrwertstadt) will in Erfurt Oberbürgermeisterin werden. Bildrechte: MDR/Guido Werner

Das kann die Erfurterin Jana Rötsch bestätigen. "Hass und Hetze, gerade im Internet, schreckt ab." Sexualisierten Hass habe sie selbst schon erlebt. "Das ist schlimm, wenn man auf das Äußere reduziert wird oder wenn gesagt wird, deine Eltern waren Geschwister, bring dich doch besser um." Das sei auch die größte Überlegung vor ihrer Kandidatur gewesen: "Wie gehen wir in der Familie und auch in der Mehrwertstadt damit um, wenn ich sexualisiert angefeindet werde?" Sie habe Angst gehabt, wieder in einen Shitstorm zu geraten, "wo es auf die ganz niederträchtigste persönliche Schiene geht." Glücklicherweise sei das bisher ausgeblieben.

Was sich ändern müsste

Was müsste sich also ändern, damit mehr Frauen für Bürgermeister- und Oberbürgermeisterämter kandidieren? Neben den Strukturen, etwa den Sitzungszeiten, die familienfreundlicher werden sollten, sollten Frauen vor allem - da sind sich die Kandidatinnen einig - dazu ermutigt und dabei unterstützt werden. Katja Wolf: "Da gehört die Partei dazu, da gehört die Familie dazu, da gehören auch Freunde und Bekannte dazu."

Frauen brauchten viel eher die Rückmeldung, dass man es ihnen zutraut und dass sie es können. "Es ist nicht so, dass es die politisch denkende Frau nicht gibt", sagt Katja Wolf lapidar. "Sie braucht einfach ein kleines bisschen mehr Rückenwind."

Es ist nicht so, dass es die politisch denkende Frau nicht gibt.

Katja Wolf Oberbürgermeisterin Eisenach

"Frauen möchten gern das Signal kriegen, wir würden uns freuen, wenn du kandidierst. Männer brauchen dieses Signal nicht. Die trauen sich das viel eher zu, wo Frauen trotz allem aus ihrer Sozialisation noch so geprägt sind, nicht ein solch überbordendes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zu haben."

Jana Rötsch sagt, dass mehr Unterstützung gerade von Männern wichtig sei. "Ich glaube, das muss erstmal von Männern ernst genommen werden. Wir hören ja selten von Politikern, also bewusst die männliche Form, Statements dazu, dass sie sich wünschen, dass mehr Frauen in der Politik sind."

Ob und wie viele der zehn Prozent Oberbürgermeister- und Bürgermeisterkandidaten Thüringens tatsächlich auch gewählt werden und ins Amt kommen, bleibt abzuwarten. Sehr wahrscheinlich gibt es hier nach der Wahl noch weniger Stadtoberhäupter als deutschlandweit. Also unter zehn Prozent.

Gleichberechtigung in der Politik?

MDR (caf)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 26. Mai 2024 | 19:00 Uhr

96 Kommentare

Freies Moria vor 3 Wochen

@Alexa007: Sorry, aber Männer haben das Frauenwahlrecht zugelassen und alle anderen Gleichberechtigungsvorschriften ebenso.
Wenn wir uns die Geburtenrate und den wissenschaftlichen Fortschritt anschauen, also das, was für zukünftige Generationen entscheidend die Lebensqualität beeinflusst, dann ist seit 30 Jahren der Rückwärtsgang eingelegt, und wir geben weiter Gas.

Wessi vor 3 Wochen

wobei @ Atze71...erstens parteinterne Entscheidungen maßgeblich sind, das geht niemand von ausserhalb der partei etwas an und dann die von Ihnen Genannten ja durchaus frei gewählt wurde...auch die Wahlentscheidungen anderer ist doch nur deren Sache.Göring-Eckardt als "unerfahren" zu schildern...ist, naja...Sie wollen das so zurechtbiegen, aber es stimmt nicht.Aber letztendlich haben Sie diese Auffassung doch auch nur, weil Ihnen die politische Richtung nicht passt,es geht gar nicht um weiblich oder männlich,oder?

Wessi vor 3 Wochen

Ergänzend @ Sozialberuflerin...auch in der SPD gibt es Kinder und Enkel von GenossInnen.Logischer Weise haben sie es leichter in positiven Kontakt zu kommen, aber profitieren keinesfalls in der politischen Karriere!

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