Pandemie Weihnachten in der Ukraine: Erst Corona-Party, dann Lockdown
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21. Dezember 2020, 13:11 Uhr
Während Deutschland seine Corona-Maßnahmen kurz vor Weihnachten ausweitet, setzt die Ukraine auf eine fragwürdige Strategie. Trotz der steigenden Krankenhauseinweisungen will Kiew Weihnachten und Neujahr ohne weitgehende Einschränkungen feiern lassen. Erst dann folgt der landesweite Lockdown.
Im März gehörte die Ukraine zu den ersten Ländern Osteuropas, die mit einem harten Lockdown auf die Corona-Pandemie reagierten. Aus Angst vor dem Kollaps des vergleichbar schwachen Gesundheitssystems schränkte die Regierung in Kiew damals selbst den öffentlichen Verkehr ein, was für Unmut bei Teilen der Bevölkerung sorgte.
Neun Monate später nehmen die zuständigen Behörden es mit der Corona-Krise offenbar nicht mehr so genau. Und das, obwohl der Gesundheitsminister Maxym Stepanow noch vor wenigen Wochen sagte, ein erneuter Lockdown sei im Dezember unvermeidbar. Stattdessen will man erst nach dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar einen zweiwöchigen Lockdown anordnen.
Firmenfeier zum Neujahr sollen unbedingt stattfinden
Zurzeit läuft das öffentliche Leben so, als gäbe es kein Corona: Alle Läden und Restaurants haben geöffnet, die U-Bahnen und Busse fahren im Normaltakt. Außerdem gibt es keine Kontaktbeschränkungen. Die einzige Maßnahme gegen die Pandemie ist eine Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen und im Nahverkehr.
Das sah im November noch anders aus: Die Regierung hatte als Reaktion auf steigenden Fallzahlen für drei Wochen einen Lockdown am Samstag und Sonntag beschlossen. Am 9. Dezember überraschte die Regierung mit dem Beschluss, den als "Halbmaßnahme" kritisierten Wochenend-Lockdown ersatzlos zu beenden. Stattdessen soll es nun erst zwischen dem 8. und dem 24. Januar einen Lockdown geben.
Das Gesundheitsministerium gab damit dem Druck der Gastronomie-Branche nach. Traditionell erzielen Restaurants und Bars Ende Dezember ihren größten Gewinn. In der Ukraine gilt nicht Weihnachten, das neuerdings sowohl nach europäischer Art am 25. Dezember als auch wie üblich am 7. Januar gefeiert wird, sondern das Neujahr als wichtigstes Winterfest. Kurz vor dem 31. Dezember sorgen daher die unzähligen Firmenfeiern für klingelnde Kassen.
Im postsowjetischen Raum sind solche Feiern eine feste Institution. Viele Menschen freuen sich monatelang auf die sogenannten "Korporatywy". "Für uns wäre der Wegfall von Firmenfeiern eine echte Katastrophe gewesen", sagt Hanna, Managerin eines Restaurants im historischen Zentrum Kiews. "Im Januar machen wir sowieso nur wenig Umsätze. Der Lockdown wäre auch dann schlecht, wir können diesen jedoch überleben." Doch gerade aufgrund der vielen Krankenhauseinweisungen und der üblichen Größe der Feier ist der Beschluss der Regierung fraglich.
Weniger Fälle, mehr Krankenhauseinweisungen
Im November stiegen die täglichen Infektionszahlen von rund 9.000 am Anfang des Monats bis zum bisherigen Rekordwert von über 16.000 an dessen Ende. Dabei wurden am Rekordtag lediglich 43.000 PCR-Tests durchgeführt. Deswegen geht man in der Ukraine seit Beginn der Pandemie ohnehin von einer großen Dunkelziffer aus. Um die Infektionskette zu durchbrechen, beschloss das Gesundheitsministerium den Wochenend-Lockdown.
Und der Effekt dieser Maßnahme war tatsächlich fragwürdig: Zwar sank die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen etwas, jedoch wurden in der gleichen Zeit auch weniger Tests durchgeführt. Dagegen stieg nach offiziellen Angaben die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Diese haben kürzlich zum ersten Mal die 3.000er-Grenze überschritten. "Wir machen weniger Tests, weil sich schlicht weniger Menschen für diese melden", rechtfertigt sich Gesundheitsminister Stepanow. Dennoch gibt es aufgrund der ständig steigenden Krankenhauseinweisungen Zweifel, ob die offiziellen Zahlen nicht doch manipuliert sind.
Öffentliche Meinung wichtiger als Wissenschaft
Kritik an dem Lockdown im neuen Jahr kommt unter anderem von Medizinern, die in Hinblick auf die Wirtschaft im November noch einen frühen Lockdown forderten, um kurz vor Neujahr wieder öffnen zu können. Doch auch während des im Januar geplanten Lockdowns werden unter anderem Hotels offen bleiben. Und zwar deshalb, weil die Skigebiete in der Westukraine beliebtes Urlaubsziel für die Januarferien sind und auf ihre üppigen Umsätze in der Hochsaison ebenfalls nicht verzichten wollen.
Ein Lockdown in dieser Zeit sei lediglich ein Versuch, die öffentliche Meinung in verschiedensten Branchen gleichermaßen zufrieden zu stellen, sagte der Infektiologe Wadym Aristow der Nachrichtenagentur Ukrinform. Unternehmerproteste gegen die Corona-Maßnahmen im Zentrum Kiews sind inzwischen zum Alltag geworden. Wadym Aristow: "Die Erfahrung der EU-Länder zeigt, dass selbst ein vierwöchiger Lockdown nur für eine Stabilisierung der Lage ausreicht. Eigentlich sollte dieser sechs Wochen dauern. Entweder wird der Januar-Lockdown verlängert oder bei uns ist die öffentliche Meinung so wichtig, dass die Wissenschaft gar keine Rolle mehr spielt."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 11. April 2020 | 07:20 Uhr