EU-Osterweiterung: Deutsche Abschottung rächt sich

30. April 2019, 21:55 Uhr

Am 1. Mai 2004 traten zehn osteuropäische Staaten der EU bei. In Deutschland grassierte damals die Angst vor Arbeitsplatzverlusten und Armutszuwanderung, die Bundesrepublik schottete ihren Arbeitsmarkt ab. Das wird heute zum Problem.

Im Frühjahr 2004 beschäftigt die Bundesrepublik eine der größten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen ihrer Geschichte. Zehntausende Menschen demonstrieren wöchentlich gegen die sogenannten "Hartz-Gesetze". Die Arbeitslosigkeit liegt bei über zehn Prozent. Durch die geplante EU-Osterweiterung von 15 auf 25 Mitgliedsstaaten werden 75 Millionen Menschen aus Osteuropa Zugang zum europäischen Markt bekommen. Es grassieren Verdrängungsängste in Deutschland.

Das größte Problem für Deutschland und Westeuropa ist die Abwanderung von Arbeitsplätzen.

Georg Milbradt (CDU)

So warnt zum Beispiel Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt im März 2004. Andere ostdeutsche Politiker erklären in Hintergrundgesprächen, die Autobahn A4 würde zu einem "Highway des organisierten Verbrechens". Insbesondere Menschen aus Polen, dem mit 30 Millionen Bürgern größten unter den neuen Mitgliedsstaaten, stehen im Zentrum dieser Debatte.

"Von diesen Perspektiven hat sich nichts bewahrheitet", konstatiert Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er untersucht die deutsche Einwanderungspolitik bereits seit den 1990er-Jahren. "Weder die Vorstellung von Verdrängung von einheimischen Arbeitskräften und sogar Fachkräften hat sich bewahrheitet, noch die Vorstellung einer deutlich vermehrten Kriminalität", sagt Oltmer. Doch die Debatte schürte Ängste.

Wenige Einwanderer, kurzer Aufenthalt

Auch in den anderen EU-Mitgliedsstaaten wird über die Folgen der Osterweiterung, insbesondere für den Arbeitsmarkt, diskutiert. Um Vorbehalte wie in Deutschland zu zerstreuen, können die Mitgliedsländer durch das sogenannte "2+3+2-Modell" selbst bestimmen, wann sie ihren Arbeitsmarkt für die neuen Mitgliedsstaaten aus Osteuropa öffnen und diesen maximal sieben Jahre lang abschotten.

Dänemark, Österreich und Deutschland reizen diese Möglichkeit komplett aus. Im Schnitt kommen bis 2011 jährlich trotzdem circa 265.000 Menschen aus den neuen EU-Staaten nach Deutschland. Das errechnete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Ende 2018 veröffentlichten Studie. In einigen einfachen Tätigkeiten dürfen sie da bereits arbeiten, etwa als Saisonkräfte. Aufgrund dieser begrenzten Arbeitsmöglichkeiten liegt ihr durchschnittlicher Aufenthalt in Deutschland unter einem Jahr. Dann kehren die Menschen in ihre Heimatländer zurück.

Als das "2+3+2-Modell" 2011 ausläuft, zeigen die "Hartz-Reformen" in Deutschland bereits Wirkung. Außer in den Jahren der Banken- und Wirtschaftskrise 2008/09 wächst die deutsche Wirtschaft beständig, die Arbeitslosigkeit sinkt nahezu jedes Jahr. "Mit durchschnittlich 578.000 Einwanderern kamen ab 2011 jährlich etwa doppelt so viele Menschen aus den neuen EU-Staaten nach Deutschland wie zuvor", sagt Marius Clemens vom DIW. Doch auch viele der nun Einwandernden sind Saisonarbeiter ohne Ausbildung, die nur wenige Monate bleiben.

Grafik zeigt Arbietslosdgkeit in Deutschland nach Herkunft.
Die Arbeitslosigkeit unter EU-Bürgern (orange) in Deutschland fällt parallel zur Arbeitslosigkeit deutscher Bürger (grün). Bildrechte: DIW

Geringer Anteil an EU-Zuwanderern

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stammen von den 2018 in Deutschland lebenden 10,9 Millionen Ausländern nur etwa 1,5 Millionen aus den 2004 aufgenommenen EU-Staaten. Hinzu kommen 1,4 Millionen Menschen aus Bulgarien, Rumänien und Kroatien. Diese Länder sind erst später der EU beigetreten. Das entspricht insgesamt einem Anteil von 3,9 Prozent an der Gesamtbevölkerung.

Die Arbeitslosenquote unter osteuropäischen EU-Zuwanderern in Deutschland liegt mit 8,0 Prozent zwar über dem Bundesschnitt von 5,1 Prozent. Jedoch sei "die Arbeitslosenquote bei Zuwanderern ab 2011 genauso stark gesunken wie bei deutschen Staatsbürgern", sagt Marius Clemens vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): "Das spricht dafür, dass man keine Armutszuwanderung oder Zuwanderung in die Sozialkassen hatte."

Fachkräfte gehen nach Großbritannien

Während die Bundesrepublik ihren Arbeitsmarkt 2004 abschirmt, haben Schweden, Irland und Großbritannien ihre Arbeitsmärkte sofort geöffnet. In Großbritannien lassen sich nach Angaben der britischen Arbeitskräfteerhebung (BAEL) zwischen 2004 und 2010 allein 690.000 Polen eine Arbeitsgenehmigung ausstellen, in Irland machen das 360.000 Polen.

Diese Einwanderer aus den neuen EU-Staaten sind im Schnitt wesentlich besser ausgebildet als ihre Landsleute, die es nach Deutschland zieht und ihr Arbeitsaufenthalt ist mit durchschnittlich zwei Jahren wesentlich länger. Laut Migrationsforscher Jochen Oltmer liegt das daran, dass sie im Gegensatz zu Großbritannien und Irland in Deutschland keine Perspektiven hatten, "vor dem Hintergrund der Restriktionen etwas aufzubauen, was längerfristig gedacht ist".

Deutschland nicht mehr lukrativ

Die Fachkräfte, die man damals durch das "2+3+2-Modell" nicht ins Land lässt, fehlen der deutschen Wirtschaft heute. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung prognostiziert, dass Deutschland langfristig circa 260.000 zusätzliche Zuwanderer pro Jahr benötigt, um den Fachkräftemangel abzufangen. Durch den demographischen Wandel verstärkt sich dieses Problem "bereits ab 2020/21, wenn die Babyboomer-Generation langsam in Rente geht", sagt Marius Clemens vom DIW.

Doch Länder wie Polen und Tschechien haben seit 2004 ein so rasantes Wirtschaftswachstum erlebt, das auch dort fast Vollbeschäftigung herrscht. Nach Deutschland auszuwandern, ist für viele wirtschaftlich nicht mehr lukrativ. Selbst Polen, die aufgrund der Brexit-Stimmung in Großbritannien in ihre Heimatländer zurückkehren wollen, zieht es nur selten nach Deutschland. Gleichzeitig haben die Länder mit den gleichen demographischen Problemen wie Deutschland zu kämpfen.

Fachkräftegesetz: von 2004 lernen?

Deutschland muss sich daher künftig um mehr Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten kümmern, schlussfolgert auch die Bertelsmann-Studie. Die Staaten des Westbalkan, Georgien und insbesondere die Ukraine, die alleine 43 Millionen Einwohner hat, rücken dabei in den Fokus der deutschen Politik. Doch für Bürger aus diesen Staaten sind die Regeln zur Arbeitsaufnahme besonders restriktiv.

Die Bundesregierung arbeitet daher seit Monaten an einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG). Das soll es den Menschen aus Nicht-EU-Staaten erleichtern, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen.

Das Gesetz ist von zentraler Bedeutung, um die unübersichtlichen Einwanderungsregeln in Deutschland zusammenzuführen. Es gibt ja mittlerweile fast 80 Aufenthaltstitel. Und es kann eine Debatte anstoßen, wie wir künftig Einwanderung regeln wollen.

Migrationsforscher Jochen Oltmer

Durch einen koalitionsinternen Streit liegt das FEG jedoch derzeit auf Eis. Schätzungsweise 1,5 Millionen Ukrainer hat es seit 2014 aber bereits in die EU gezogen, wo ein Großteil von ihnen auch arbeitet - und zwar in Polen.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch in der "HiO Reportage": "Auf gute Nachbarschaft - Wie weiter nach 15 Jahren EU-Osterweiterung?" | 01.05.2019 | 16:30 Uhr

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