Phänomen Putin Protestwelle in Russland: Putins harte Hand versagt

09. August 2019, 05:00 Uhr

Russlands Präsident hält sich angesichts der Proteste in Moskau und anderen Städten zurück. 20 Jahre nach Amtsantritt vertrauen immer weniger Russen auf seine harte Hand.

Wladimir Putin
Wladimir Putin: Fast 40 Prozent der Russen wollen ihn nicht noch einmal als Präsidenten. Bildrechte: IMAGO

In Moskau und anderen russischen Städten brodelt es seit Wochen. An zwei Wochenenden hintereinander wurden nach Angaben der NGO OWD-Info jeweils mehr als 1.000 Menschen bei nicht genehmigten Demonstrationen für faire Wahlen zum Moskauer Stadtparlament festgenommen. In Sankt-Petersburg versammelten sich mehrere Tausend, zum Teil aus Solidarität mit Moskauer Oppositionellen, aber auch, weil in der zweitgrößten Stadt Russlands ebenfalls systematisch Kandidaten von den Bezirkswahlen ausgeschlossen werden. Im sibirischen Krasnojarsk demonstrieren Tausende Menschen gegen den kremltreuen Gouverneur Alexander Uss, der ihrer Meinung nach nicht genügend gegen die wütenden Waldbrände in Sibirien unternimmt, während in Arkhangelsk eine geplante Mülldeponie die Bewohner auf die Barrikaden treibt.

Putin hält sich bedeckt

Nur einen scheinen die Proteste in Russland nicht zu behelligen: Wladimir Putin. Er hat sich zuletzt bei fast allen innerrussischen Konfliktsituationen bedeckt gehalten. Auch, nachdem Moskau für kommendes Wochenende eine Großdemonstration mit 100.000 Teilnehmern genehmigt hat. Das wäre ein Rekord seit den Protesten von 2012, als Putin die Stelle seines Platzhalters im Amt des Präsidenten Dmitrij Medwedjew wieder einnahm. Putins Zurückhaltung ist erstaunlich, scheint doch seine Macht gerade alles andere als stabil.
Der Aufstieg an die Spitze Russlands hatte für Putin, den ehemaligen FSB-Chef und KGB-Agent in Dresden, vor 20 Jahren begonnen. Am 9. August 1999 erannte ihn der damalige Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten und empfahl ihn seinen Landsleuten in einer Ansprache auch als künftigen Präsidenten. Er sprach von Wladimir Putin als jenem Mann, der seiner Ansicht nach "die Gesellschaft konsolidieren" kann.  

Jelzin und Putin
Boris Jelzin empfahl Wladimir Putin den Russen 1999 als neuen Präsidenten. (Im Bild: Jelzin und Putin im Mai 2000 in Moskau.) Bildrechte: imago images / ITAR-TASS

Der Präsident mit vielen Herausforderungen

Gut ein halbes Jahr später wurde Putin mit einer knappen Mehrheit von 53 Prozent zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Der neue Mann im Kreml übernahm ein Land, das zu bröckeln schien. Tschetschenische Terroristen waren gerade in die russische Nachbarrepublik Dagestan eingefallen, während der russische Haushalt die Staatspleite von 1998 noch nicht verdaut hatte. Gleich nach seinem Amtsantritt als Premier begann Putin den zweiten Tschetschenienfeldzug, der mit einem Sieg der russischen Armee endete, er reiste scheinbar unermüdlich durchs Land immer in Begleitung von Fernsehkameras, versammelte ein Team von Wirtschaftsreformern um sich, weshalb auch viele Liberale ihn als Garant einer unumkehrbaren Wende weg vom Kommunismus bejubelten.

Sowjetischer Spion als Ideal

Noch Monate vor Putins Aufstieg in den Kreml hatten russische Meinungsforschungsinstitute im Auftrag der damals unabhängigen Zeitung Kommersant die Russen gefragt, welche Figur ihren Idealvorstellungen für einen neuen Präsidenten entspricht. In beiden Umfragen landete Russlands James Bond, der Film-Agent Max Otto von Stierlitz, ein sowjetischer Spion im Dritten Reich, unter den Top 4. Auch der autoritäre Reformer-Zar Peter der Große spielte ganz vorne mit. Für viele Russen verkörperte Putin damals eine Mischung aus harter Hand und Hoffnung auf erfolgreiche kapitalistische Reformen in einem Land, das von einer Krise in die andere stürzte. Gestützt von einem rekordverdächtigen Höhenflug des Ölpreises, der sich in den ersten zwei Amtszeiten Putins von rund 20 auf über 80 US-Dollar pro Barrel vervierfacht hatte, zeigte Putins Wirtschaftspolitik Wirkung, was heute selbst Erzfeinde wie der Oppositionsführer Alexej Nawalny öffentlich anerkennen.

Wandinstallation zeigt Silhouette eines Spions
Verehrung für einen fiktiven Helden: Denkmal für den Filmagenten Max Otto von Stierlitz in Wladiwostock. Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Die fetten Jahre sind vorbei    

Zwei Jahrzehnte nach dem Machtantritt scheint Putins harter Regierungsstil, der ihm viele Sympathien in Russland einbrachte, kaum noch Wirkung zu zeigen. Während die Wirtschaft seit Jahren kaum wächst, steigt mit der Armut auch der Unmut. Angesichts der Moskauer Proteste gebe es jedoch keine Anzeichen dafür, dass jemand innerhalb des Kremls versucht, diese zu verstehen, analysiert die angesehene Moskauer Politikberaterin Tatjana Stanowaja. "Stattdessen kämpft jede Institution einzeln darum, Loyalität gegenüber Putin zu demonstrieren." Während das Außenministerium nach Strippenziehern im Ausland sucht, ermittelt der Inlandsgeheimdienst FSB gegen Oppositionelle. Und Innenministerium und Nationalgarde gehen mit Härte gegen Demonstranten vor. Niemand bekämpfe jedoch die Ursachen der Proteste, meint Stanowaja. "Das sind Anzeichen für eine Erosion im System".

Denis Volkov
Denis Wolkow, Vize-Chef des unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Putins Thron wackelt

Noch ist Putins Macht nicht in akuter Gefahr. Denis Wolkow, Vize-Chef des unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts "Lewada", warnt davor, die Unterstützung für die Proteste überzubewerten. "Die Unterstützer der Proteste, ihre Gegner und die Gleichgültigen sind derzeit in Moskau etwa gleich große Gruppen", sagt Wolkow. Die Stimmung könne jedoch zugunsten der Oppositionellen kippen, wenn der Staat noch härter durchgreift. Zumal auch Putins Ansehen langsam aber sicher abnimmt. Fast 40 Prozent der Russen wollen nicht, dass er ab 2024 weiter an der Macht bleibt, ergab eine aktuelle Lewada-Umfrage. Auf die Frage, warum die Russen Wladimir Putin vertrauen, sagten nur noch ein Viertel der Befragten, dass sie hofften, Putin sei in der Lage die Probleme des Landes in Zukunft zu lösen. Das ist der niedrigste Wert seit 2001, als Wladimir Putin gerade ein Jahr im Amt war. Etwa 43 Prozent gaben als Grund für ihr Vertrauen an, dass sie einfach keine Alternative zu ihm sehen würden - ebenfalls ein Rekord für den Präsidenten.  

Kundgebung auf einem Platz
"Speakers Corner" in Moskau: Tausende Russen machen dieser Tage ihrem Unmut Luft. Bildrechte: imago images / ITAR-TASS

OWD-Info OWD-Info ist eine spendenfinanzierte Bürgerinitiative. Sie sammelt Informationen über Polizei- und Justizwillkür, betreibt eine Hotline und leistet juristischen Beistand bei Festnahmen und Gerichtsprozessen. Über eine eigene Webseite verbreitet OWD ihre Informationen. Die Bürgerinitiative finanziert sich hauptsächlich aus Spenden von Privatpersonen (ca.70.000 Euro pro Jahr) und Spenden der Europäischen Kommission (etwa 90.000 Euro im Jahr). Hinzu kommt Unterstützung der Menschenrechtsorganisation Memorial aus Russland (6.5000 Euro) und jeweils etwa 18.000 Euro von International Parntership for Human Rights mit Sitz in Brüssel sowie der Organisation CIVICUS, die u.a. von der Europäischen Kommission, Freedom House und dem Außenministerium von Irland finanziert wird.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 09. August 2019 | 17:45 Uhr

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