Eine junge Frau mit Stofftier und Kuscheldecke am Grenzübergang Mali Selmentsi.
Eine junge Frau mit Stofftier und Kuscheldecke am Grenzübergang Mali Selmentsi. Bildrechte: Markus Zergiebel/MDR

Ukrainisch-Slowakische Grenze Die Straße der Tränen – der Grenzübergang Klein-Berlin

19. März 2022, 05:00 Uhr

MDR-Reporter Danko Handrick war einige Tage mit seinem Team an der Grenze zwischen Slowakei und Ukraine unterwegs. In der Stadt Mali Selmentsi trennt nur ein Zaun die beiden Länder. Dort spielen sich Szenen ab, die nahe gehen. Eine Mutter versucht, ihren 19-jährigen Sohn ins Ausland zu bringen. Kleine Kinder werden von ihren Vätern getrennt.

Reporter Danko Handrick spricht in Mali Selmentsi mit Menschen auf der Flucht.
Reporter Danko Handrick spricht in Mali Selmentsi mit Menschen auf der Flucht. Bildrechte: Markus Schickel/MDR

Die ukrainischen Grenzer in Mali Selmentsi begrüßen uns inzwischen schon mit Handschlag. Seit über zwei Wochen nutzen wir den kleinen Fußgänger-Grenzübergang fast täglich, um aus der Slowakei in die Ukraine zu kommen. Man kennt uns schon – und dennoch werden Reisepässe, Versicherungsunterlagen, Impfnachweise und Presseausweise jedes Mal so sorgfältig kontrolliert wie am ersten Tag. Die Gründlichkeit kostet Zeit – und das bekommen vor allem die Flüchtlinge zu spüren, die in der Schlange Richtung Slowakei stehen. Sie werden noch länger, noch gründlicher kontrolliert. Viele müssen hier bis zu fünf Stunden anstehen, bevor für sie das Tor in die Slowakei, in die Sicherheit aufgeht.

Stille Kinder und leiser Geburtstag

So haben wir viel Zeit, um mit denen zu sprechen, die aus der Ukraine kommen. Es kostet sie viel Kraft, um das, was sie durchmachen, in Worte zu fassen. Oft wird einfach nur geweint. Kinder sehen uns aus leeren Augen an, die nicht verstehen, was hier gerade los ist. Doch auch die Kleinsten spüren die Anspannung der Mütter, spüren ihre Angst. Erst später wird uns bewusst, wie ruhig, manchmal gar apathisch die Kinder sind. Es gibt kein Nörgeln, kein Quengeln über Langeweile. Die Müdigkeit, die Strapazen der Flucht und auch die Angst haben ihnen die kindliche Leichtigkeit genommen.

Ich kann mich nicht mehr an den Namen der jungen Frau erinnern. Begegnet sind wir uns im Niemandsland zwischen der Ukraine und der Slowakei. Und dort sagte sie mir, dass sie heute Geburtstag habe. 26 Jahre. Leise fingen die Umstehenden an, Happy Birthday zu singen, und immer mehr Flüchtlinge stimmen ein, wir auch. Doch es wurde nicht laut und fröhlich gesungen, sondern leise – nachdenklich – melancholisch. Die junge Frau, die umstehenden Flüchtlinge und wir – alle hatten Tränen in den Augen. Bei den Flüchtlingen waren es Tränen der Verzweiflung, aber wenige Meter vor der Grenze zur EU, auch Tränen der Erleichterung, dass man dem Inferno der ostukrainischen Städte entkommen war. Der Geburtstag der jungen Frau wurde in diesem Augenblick für alle hier zu einer Geburt in ein neues Leben in Sicherheit.

Familientrennung an der Grenze

Auf ukrainischer Seite, am Ende einer etwa 100 Meter langen Schlange wartender Flüchtlinge, halten die Autos. Männer bringen hier ihre Kinder und Frauen zur Grenze. Nikola trägt seine zwei kleinen Töchter auf dem Arm. Seine Frau Natalia zieht zwei große Koffer. Er wartet neben der Schlange, bis seine Familie das Niemandsland der Grenzabfertigung betreten kann. Sie kommen aus dem nördlichen Umland von Kiew, aus einem kleinen Dorf bei Irpin. Sie zeigen mir Bilder von ihrem zerschossenen Dorf, wo sie drei Tage lang im Keller des Hauses ausharren mussten.

Menschen in Mali Selmentsi
Familientrennung am Grenzübergang Mali Selmentsi: Die Väter bleiben in der Ukraine, Mütter und Kinder verlassen das Land. Bildrechte: Markus Zergiebel/MDR

Nikola muss in der Ukraine bleiben, er schaut Frau und Kindern hinterher, winkt immer wieder, selbst als die Familie schon bei den slowakischen Grenzbeamten steht – versucht mit einem Lächeln seinen Kindern und seiner Frau Mut zu machen. Es gelingt ihm nicht, immer wieder wischt er sich die Tränen aus seinen Augen. Er zieht sich die Kapuze über seinen Kopf, geht an uns vorbei, kann nicht mehr sprechen. Wann und ob er seine Familie wieder sehen wird, ist ungewiss.

In den Kiosken vor der Grenze wurden vor dem Krieg Zigaretten und Alkohol verkauft. Jetzt bieten die Menschen den Flüchtenden hier Tee, Suppe und Brote an. In den Verkaufsräumen können sich die Menschen aufwärmen. Matratzen liegen für die Nacht bereit. Drei Tage beobachten wir hier eine Mutter mit ihrem 19-jährigen Sohn. Immer wieder diskutiert sie mit den Grenzbeamten, ob ihr Sohn nicht doch die Ukraine verlassen darf. Er sei aber im wehrfähigen Alter, habe keine Sondergenehmigung, wird ihr erklärt. Die Mutter versucht es fast flehend, jedoch immer wieder: Er sei 19 – er sei doch noch ein Kind. Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist. Am vierten Tag waren die beiden nicht mehr da.   

Nur ein Zaun zwischen der Slowakei und der Ukraine

Den Grenzübergang nennen die Menschen in der Region Klein-Berlin. Denn die beiden Orte, die der Fußgänger-Durchlass verbindet, waren vor 1945 ein Dorf. So wie Berlin einst durch eine Mauer geteilt war – so sind Velké Slemence in der Slowakei und das ukrainische Mali Selmentsi durch einen Zaun getrennt. Ich bin seit über 20 Jahren Reporter, habe über viele traurige Geschichten berichten müssen. Doch die Gesichter und Geschichten dieses Grenzüberganges gehen besonders nah.

Menschen in Mali Selmentsi
Warten in der Schlange an der Grenze, letzte Umarmungen. Bildrechte: Markus Zergiebel/MDR

Arina verabschiedet sich von ihrem Vater. Sie ist sechs Jahre alt, hat zwei geflochtene blonde Zöpfe. "Wir müssen uns retten, und ich habe Papa versprochen auf Mama aufzupassen, denn er muss in den Krieg." Dann hebt sie ihre Faust und sagt "Slawa Ukrajini" – es lebe die Ukraine. Ihr Vater will etwas erwidern, doch es geht nicht. Mit einer Geste bittet er uns um Entschuldigung. Dann dreht er sich weg, damit Arina seine Tränen nicht sieht.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 19. März 2022 | 06:00 Uhr

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