Ein Kleindkind wird unter Tränen geimpft.
Eine Masernimpfung kann Leben retten – doch immer mehr Eltern in Rumänien lassen ihre kinder nicht immunisieren. Dabei greift die gefährliche Infektionskranheit um sich – das Gesundheitsministerium hat den Zustand einer Epidemie ausgerufen. Bildrechte: picture alliance/AP Photo | Damian Dovarganes

Epidemie Impfskepsis in Rumänien: Die Rückkehr der Masern

13. April 2024, 12:12 Uhr

In Rumänien werden zur Zeit EU-weit die meisten Masernfälle gemeldet: Binnen eines Jahres wurden über 11.000 Erkrankungen registriert, zwölf endeten tödlich. Das Gesundheitsministerium rief im Dezember den Zustand einer Masernepidemie aus, damit Hausärzte ihre Patienten verstärkt zur Impfung bewegen. Doch beim Thema Impfen stoßen sie bei vielen Leuten auf taube Ohren.

Hausärztin Ioana Nicula im siebenbürgischen Apata hat beide Hände voll zu tun. In ihrem Wartezimmer drängen sich die Patienten. Eine 17-Jährige im Jogginganzug betritt das Sprechzimmer mit ihrem weinenden Jungen im Arm. Er hatte kürzlich die Masern und musste mit hohem Fieber und Schwellungen in der Lunge einige Tage im Kreiskrankenhaus versorgt werden. Nun zeigen sich bei dem Anderthalbjährigen die Spätfolgen: Sein Immunsystem ist nach der Maserninfektion stark geschwächt, er kämpft gerade mit einer Erkältung. Wieder hat er hohes Fieber.

Hausärztin Ioana Nicula (links) in ihrer Praxis in Apata (Rumänien, Siebenbürgen)
Hausärztin Ioana Nicula (links) in ihrer Praxis in Apata in Siebenbürgen (Rumänien) Bildrechte: Annett Müller-Heinze / MDR

Dass sie die Maserninfektion mit einer Impfung hätte verhindern können, habe sie gewusst, sagt die Mutter im Teenageralter. Doch sei ihr Sohn ständig erkältet gewesen, deshalb habe sie ihn nicht impfen lassen. Solche Begründungen hört die 58-jährige Ärztin in ihrer Praxis immer wieder: "Nur wenige Mütter lehnen die Masernimpfung kategorisch ab. Viele versprechen, dass sie demnächst kommen werden. Sie lassen sich sogar Impftermine geben. Doch dann erscheinen sie ganz einfach nicht."

Was sind die Masern?

Die Masern sind eine schwere Viruserkrankung, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird. Das Virus ist deutlich ansteckender als das Corona-Virus. Der einzige Schutz ist die Impfung. Hohe Impfquoten sorgen für eine Unterbrechung der Viruszirkulation. 2019 fand ein internationales Forschungsteam heraus, dass Masern-Erkrankte später empfänglicher für Infektionen mit anderen Erregern sein können, weil die Masernviren einen Teil des immunologischen Gedächtnisses über Jahre löschen.

Durchimpfungsrate in Rumänien zu gering

Fragt man Hausärzte wie Ioana Nicula, dann zögern die Mütter vor allem, weil sie bei der Impfung mögliche Nebenwirkungen befürchten – auch wenn sie im Kindesalter selbst gegen die Masern geimpft worden sind und keinerlei gesundheitliche Schäden davongetragen haben. "Das Kind kann nach einer Impfung Fieber bekommen oder Schmerzen haben. Oder die Einstichstelle kann hart werden. Das sind kleine Reaktionen des Körpers. Impfkomplikationen habe ich dagegen in meinen 30 Berufsjahren nicht gesehen", sagt Ärztin Nicula. Einen Teil ihrer Patienten in der rund 3.500 Einwohner zählenden Gemeinde überzeugt das nicht. Sie hätten gehört, dass das Kind von der Impfung Allergien bekommen könne oder dass es gar nicht so schlimm sei, wenn es die Masern durchmache, das sei doch schließlich eine Kinderkrankheit.

Dorfstraße von Apata (Rumänien, Siebenbürgen)
Hauptstraße in Apata: Die Menschen im ländlichen Raum fühlen sich bei der medizinischen Versorgung abgehängt. Bildrechte: Annett Müller-Heinze / MDR

Lediglich 60 Prozent der Kinder in Apata sind schätzungsweise vollständig gegen Masern geimpft. Die rumänienweite Impfquote fällt derzeit ähnlich gering aus. Aus diesem Grund kommt es seit Monaten im Land zu lokalen Ausbrüchen. Anfang Dezember stufte das Gesundheitsministerium die Masernwelle wegen der steigenden Zahlen als Epidemie ein, wodurch Gesundheitsämter und Schulen einige, wenn auch relativ geringe, zusätzliche Instrumente im Kampf gegen die Krankheit bekommen haben.

Gesundheitsbehörden versuchen seit Jahrzehnten nicht nur in Rumänien, sondern weltweit, die hochansteckende Viruserkrankung einzudämmen, wenn nicht gar auszurotten, weil sie in Einzelfällen zu lebensgefährlichen Komplikationen und sogar zum Tod führen kann. Empfohlen wird deshalb eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent und mehr. Vor zwei Jahrzehnten konnte Rumänien diese Rate noch aufweisen, doch seither sinken die Impfzahlen stetig.

Informationskampagne wirbt fürs Impfen – erfolglos

Als im Dezember ein Kind aus Apata an Masern starb, kamen Vertreter vom zuständigen Gesundheitsamt der Kreisstadt Brasov, um vor Ort Aufklärungs- und Impfkampagnen durchzuführen. Der Bürgermeister Gyorgy Dragan erzählt, sie seien von Haus zu Haus gezogen, aber die Mehrheit hätte nicht gewollt. Die Leute hätten ihn als "Anführer im Ort" immer wieder gefragt, ob sie sich impfen lassen sollten. Doch er werde sich hüten, eine Meinung zu äußern – nicht, dass ihn jemand wegen Impfreaktionen noch zur Verantwortung ziehen wolle. "Das muss jeder schön für sich allein entscheiden", sagt der 70-jährige Lokalpolitiker.

Wegkreuz in Apata (Rumänien, Siebenbürgen)
Wegkreuz in Apata: Wer keinen Zugang zur modernen Medizin hat, dem bleibt nur das Beten übrig. Bildrechte: Annett Müller-Heinze / MDR

Das Gesundheitsamt Brasov will auf Fragen nach dem Rückgang der Impfbereitschaft nur schriftlich antworten. Der Kreis hatte in den vergangenen Monaten die meisten Masernfälle zu verzeichnen. "Suboptimale Impfraten" gebe es dort, wo die Lebensverhältnisse besonders prekär oder die Eltern der Kinder nicht greifbar seien, weil sie im Ausland jobbten, schreibt das Amt. Doch beobachte man auch, dass sich die Impfskepsis durch alle sozialen Schichten der Gesellschaft ziehe – angeheizt durch Impfgegner im Internet.

Zeitmangel, Arztmangel, Impfstoffmangel

Zu den Hauptgründen für die Impfunwilligkeit zählt aber auch das fehlende Vertrauen in das rumänische Gesundheitssystem, das viele mit Korruption, mangelhafter Hygiene und Personalmangel verbinden. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Engpässe bei wichtigen Medikamenten und Impfstoffen. Die Mehrheit der staatlichen Krankenhäuser im Land ist abgewirtschaftet, ihre Sanierung wird seit Jahrzehnten versprochen. Wer Geld hat, lässt sich lieber gleich in einer Privatklinik behandeln – gegen Rechnung. Wer kein Geld hat, sucht oft erst einmal Hilfe beim Herrgott statt bei der modernen Medizin.

Hausarztpraxis von Ioana Nicula in ihrer Praxis in Apata (Rumänien, Siebenbürgen)
Aktenberge in der Hausarztpraxis von Ioana Nicula: Bürokratie belaste das rumänische Gesundheitswesen. Bildrechte: Annett Müller-Heinze / MDR

Rund die Hälfte aller Rumänen lebt im ländlichen Raum – viele fühlen sich dort von der medizinischen Versorgung längst abgeschnitten. Ioana Nicula ist für die Gemeinde Apata die einzige Hausärztin, vor Jahren waren sie noch zu dritt. Für die Medizinerin heißt das: arbeiten wie am Fließband. Bei 40 bis manchmal 60 Patienten pro Tag bleiben ihr für die Behandlung im Durchschnitt nur wenige Minuten. Hinzu kommt ein kompliziertes Abrechnungssystem. "Als Hausarzt ertrinkt man in Formularen. Die Bürokratie ist so ausufernd, dass man kaum noch Zeit hat, die Patienten zu beraten", sagt Nicula.

Soziologin: Mehr Zeit für Impfberatung nötig

Die Soziologin Simona Vulpe von der Bukarester Universität hält die Hausärzte für die wichtigsten Akteure bei der Impfaufklärung, weil sie nah an den Sorgen und Nöten von Patienten und Patientinnen seien. "Jemand, der sein Kind nicht impfen lässt, muss nicht unbedingt ein Impfverweigerer sein. Er ist unentschlossen, zögerlich und schiebt deshalb die Entscheidung immer wieder auf", sagt Vulpe. Da helfe nur reden und Zweifel aus dem Weg räumen. Deshalb sollten die Hausärzte mehr Zeit für Aufklärungsgespräche bekommen, findet die Soziologin. Auch wünscht sie sich einen Wandel bei der Kommunikation der Ärzte."Viele Mütter kennen die Masern nur noch vom Hörensagen. Sie interessieren sich deshalb mehr für die möglichen Impfreaktionen als für die Risiken der eigentlichen Erkrankung. Da sollten auch Fragen erlaubt sein, die dem Arzt vielleicht dumm und banal erscheinen", sagt Vulpe.

Soziologin Simona Vulpe von der Universität Bukarest - forscht zu Impfentscheidungen ihrer Landsleute
Die Soziologin Simona Vulpe von der Universität Bukarest forscht zu Impfentscheidungen ihrer Landsleute. Bildrechte: Annett Müller-Heinze / MDR

"Impf-Informationsinsel" auf Facebook

Eine Art Impfberatung erprobt Ovidiu Covaciu schon seit Jahren. In seiner Facebook-Gruppe können Fragen rund um das Impfen gestellt werden. Gerade hat ihn eine Nutzerin angeschrieben, dass ihr fünf Monate altes Kind vermutlich Kontakt mit einem Masernerkrankten hatte; was sie denn nun tun könne? Covaciu antwortet kurz und knackig zurück: Dass da nichts zu machen sei. Kinder würden erst mit ein Jahr geimpft, sie müsse jetzt sehen, wie die Krankheit verlaufe. Viele Nutzer suchten ein "Ventil für ihre Ängste", sagt Covaciu, wollten aber nicht gleich ihren Arzt anrufen – auch deshalb sei seine Facebook-Gruppe so gefragt. Wie groß der Wissensdrang ist, zeigt die Mitgliederzahl: 100.000 sind in der Facebook-Gruppe angemeldet. Regelmäßig antwortet in der Gruppe auch ein Team von Immunologen. Der 41-Jährige Covaciu ist selbst nicht vom Fach, sondern Bankberater mit "einem Faible für Verbraucherfragen". Damit sei er irgendwann beim Thema Impfaufklärung gelandet. "Das Internet ist ein großer Ozean an Desinformation, da wollte ich eine Insel geprüfter Informationen schaffen", sagt der Bukarester. Er hoffe, der Impfskepsis ein wenig gegenzusteuern. Doch ginge das nur mithilfe der Hausärzte, sagt Covaciu. Sie müssten verstehen, dass die Patienten jetzt sehr viel mehr Fragen stellten als früher: "Oftmals geht es dabei mehr um Psychologie als um Medizin."

Ovidiu Covaciu, Impf-Aktivist, Bukarest
Auf Facebook fürs Impfthema aktiv - Ovidiu Covaciu aus Bukarest Bildrechte: Annett Müller-Heinze/MDR

Rumänien krankt an Ärztemangel

Hausärzte wie Ioana Nicula würden ihren Patienten liebend gern mehr Zeit widmen. Doch scheint die Umsetzung dieses Wunsches utopisch. In fast der Hälfte aller 2.700 Gemeinden des Landes hat der Arzt nur noch ein- oder zweimal pro Woche eine Sprecchstunde – oder gar nicht mehr. In den vergangenen Jahren haben tausende Mediziner Rumänien den Rücken gekehrt, um in Westeuropa zu praktizieren. Ein Aderlass, der bis heute nicht gestoppt werden konnte. In einem aktuellen Strategiepapier des Gesundheitsministeriums heißt es, das Personalproblem werde in den nächsten Jahren noch akuter, wenn ein Teil der Hausärzte in Rente gehe. Man werde dann vor Ort auf Krankenschwestern, Schulpersonal und den Sozialdienst ausweichen müssen, um die Versorgung mit Standardimpfungen wie gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) zu garantieren.

Gesetz zur Impfpflicht nicht umsetzbar

Die Idee, die Masern-Impfquote wie in Deutschland mit einer (Teil-)Impfpflicht zu erhöhen, ist dagegen vom Tisch. 2017 hatte man sie in Rumänien noch einführen wollen, inzwischen gilt sie als politisch nicht mehr umsetzbar. Das Vertrauen der Rumänen in Impf-Entscheidungen von Regierung und Parlament ist seit der Corona-Pandemie einmal mehr erodiert. Eine Impfpflicht halten Experten zudem für den falschen Weg, um eine so große Impflücke wie in Rumänien von fast 35 Prozent schließen zu wollen. Ein Bonus-System statt Restriktionen sei hier der richtige Weg, sagt der aus Rumänien stammende Immunologe Stefan Dascalu von der Universität Oxford: "So wären Impfprämien vorstellbar, um die Impflaune bei den Eltern deutlich anzukurbeln." In Australien gebe es beispielsweise Steuervergünstigungen, um das Interesse am Impfen am Laufen zu halten. Sich nichts einfallen zu lassen, wäre fatal, sagt Dascalu. Denn in einem geeinten Europa könne die rumänische Impfmüdigkeit auch in anderen Ländern zu Masernausbrüchen führen, je nachdem, wie hoch dort die Durchimpfungsrate ausfalle.

Im sächsischen Vogtlandkreis war es unlängst zu zwei Masernausbrüchen mit 14 erkrankten Kindern gekommen. Angaben von Medizinern zufolge kamen die Betroffenen aus Rumänien. Das Landratsamt will aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Aussage dazu treffen. Von dort heißt es, man habe den Ausbruch erfolgreich eindämmen können, die Familien seien schnell isoliert worden. Auch liege man mit einer Durchimpfungsrate von 88,7 Prozent höher als der sächsische Durchschnitt.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 20. April 2024 | 07:21 Uhr

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