Donnerstag. 15.10.2020: Treue

Wenn ich aus meinem Arbeitszimmer durch das Fenster schaue, fällt mein Blick auf eine belebte Straße. Seit einiger Zeit sehe ich täglich, fast immer um die gleiche Stunde am Vormittag, einen älteren Herrn auf einem Rad vorbeifahren. Sicher ist er schon weit über die 80. Mit dem in die Jahre gekommenen Filzhut, den etwas zu weiten Hosen und dem 60er-Jahre-Damenrad wirkt er etwas wie aus der Zeit gefallen. Kürzlich sah ich ihn auf einer Bank im Park sitzen, neben sich eine Frau im Rollstuhl. Er redete mit ihr, seine beiden Hände umfassten ihre rechte Hand. Vielleicht wärmte er sie ihr? Beim Vorbeilaufen hörte ich, wie er von der Familie sprach - den Kindern und Enkeln in Leipzig und Hamburg.

Sie blickte, während er redete und ihre Hand streichelte, an ihm vorbei zur Buchenhecke hinter der Bank. Wie ich später erfuhr, war es seine Ehefrau. Seit eineinhalb Jahren wohnt sie im Seniorenheim, ist pflegebedürftig und spricht nicht mehr. Tag für Tag besucht ihr Mann sie und verbringt einige Stunden mit ihr. Er schiebt sie im Rollstuhl durch den nahen Park oder sie laufen die Hauptstraße hoch und wieder runter. Mich rührt der alte Herr - nicht seine altertümliche Erscheinung oder seine Sentimentalität. Nein. Mich rühren die Treue und Verlässlichkeit, die er ausstrahlt. Für manche Ohren klingt der Begriff "Treue" altmodisch und verstaubt. Aber einen verlässlichen Menschen, eine treue Begleitung, an seiner Seite zu haben, dass wünschen sich doch viele. Treue meint genau das: sich auf den anderen stets verlassen zu können, auch bis ans Lebensende. Das lebt dieser alte Herr sehr überzeugend vor. Und davor ziehe ich meinen Hut.

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