Montag, 27.06.2022: Zum ersten Mal

Die Aufregung ist Ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Die Hände ringen um die Fassung, die Ihr durch die gerade abhandengekommen ist. "Das kann doch nicht wahr sein!" "Das gibt’s doch nicht!", "Wie können die nur!" Kurze Ausrufe brechen aus ihr heraus und untermalen ihre ganze Empörung. Selten habe ich jemanden so gespannt bei einer Bibellesung mitfiebern gesehen. Sie hört in den Andachten vor dem Osterfest, wie Jesus gefangen genommen wird. Wie die Mächtigen ihn verklagen, die Soldaten ihn peinigen und ins Gesicht schlagen. Und sie ist empört darüber. An Leib und Seele mitgenommen durch die alten Berichte. Es setzt ihr zu, denn für sie ist das alles ganz neu.

Ich weiß, dass sie in diesem Jahr 88 Jahre alt wird und kenne Sie als treue Kirchgängerin. Umso mehr bewegt es mich, sie nun so fassungslos zu erleben. Sie müsste die Geschichten doch alle gut kennen. Ich weiß auch um ihre Demenzerkrankung, die ihr nach und nach Erinnerungen raubt und vieles, was sie bereits lange weiß, als völlig neu erscheinen lässt. So auch die Geschichte von Jesu Leiden aus der Bibel. Sie leidet mit, als hörte sie das erste Mal davon.

In der Osternacht sehe ich sie wieder. Jetzt zusammen mit der Familie, und ich erlebe sie gespannt und neugierig. Fast kindlich wirkt sie auf mich, erwartungsfroh, abwartend. Als die Frauen Jesu Grab leer vorfinden und die Rede auf die Auferstehung kommt, strahlt sie übers ganze Gesicht. Ich sehe die Botschaft des Evangeliums in ihrer Wirkung am ganzen Körper einer 88 Jahre alten Frau. „Er weckt mich alle Morgen“ von Jochen Klepper geht mir durch den Kopf, als ich ihre Freude über die Frohe Botschaft der Auferstehung ins Gesicht gemalt sehe. In der zweiten Strophe heißt es da: „Er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf. Da schweigen Angst und Klage; nichts gilt mehr als sein Ruf. Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs neue so, wie ein Jünger hört.“ (EG 452)

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