Freitag, 28.05.2021: Meine Oma, die Tulpen und ich

Bei großen roten Tulpen muss ich oft an meine Oma denken. Einmal war ich auf Frühlingserkundung unterwegs. Den kleinen Pfad hinunter und um die Kurve herum. Von den Bäumen jubilierten Amseln und Stare. Von unten strahlten mir herrliche rote Tulpenköpfe entgegen. Auf hoch gewachsenen Stielen. Wohlmeinende Verwandte aus dem Westen hatten uns Zwiebeln edler Sorten zugeschickt. Meine Oma steckte sie im Herbst tief in die Erde und füllte die Kuhlen sorgsam mit Erde auf. Im langen kalten Erzgebirgswinter ruhten sie dort im Boden. Dann endlich im Mai schoben sie ihre Triebe aus der Erde und öffneten ihre prächtigen Blüten zur Sonne.

Diese mühevolle Vorgeschichte von der Beschaffung per grenzüberschreitendem Postverkehr bis zum gärtnerischen Walten ahnte ich als vierjähriges Mädchen nicht. Die großen roten Tulpen leuchteten mich an; und ich fand sie einfach wundervoll. Die konnten doch nicht nur so still für sich im Garten stehen. Damit musste doch etwas geschehen! Jemand musste sich an ihnen genauso freuen können wie ich. Drei Tulpenköpfe knipste ich ab, kurz unterhalb der Blüte. Für Oma. Oma hatte immer so viel Arbeit mit dem Garten; bestimmt wäre das etwas Gutes für sie.

Dass abgeknipste Blüten bei ihr nicht auf Gegenliebe stoßen könnten, kam mir nicht in den Sinn. Meine Mutter ahnte es; sie erlebte die Szene voll Spannung mit. Was würde geschehen? Würde Oma, vom Grimm überrollt, laut schimpfen? Später erzählte mir meine Mutter, wie ich die Tulpenköpfe meiner Oma entgegenhielt und sie dabei anstrahlte mit den Worten: "Für meine liebe Oma!" Da war die Oma verblüfft. Und musste unerwartet lächeln.

Erwachsen geworden gelingt mir das längst nicht immer. Im richtigen Moment die richtigen Worte parat zu haben. Die wie ein Sonnenstrahl wirken. Und rechtzeitig eine Situation entspannen. Ich stelle mir rote Tulpen zurecht. Und hoffe darauf, dass sie ihre Wirkung entfalten.

Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche:

MDR SACHSEN - Das Sachsenradio Christine Rösch

Christine Rösch

Geboren am 28.09.1958 in Gotha | 1977 Abitur | Studium an der Bauhaus-Universität Weimar mit Abschluss als Dipl. Ing. für Gebiets- und Stadtplanung 1983 | danach tätig in der Altstadtsanierung und im Kirchenbau der Stadt Gotha | ab 1992 theologische Ausbildung | 1. und 2. Examen und Ordination | zunächst Pfarrstelle in Seebergen (Kreis Gotha) | ab 2002 Pastorin für allgemeinkirchliche Aufgaben der Landeskirche in der 1. Pfarrstelle des Diakonischen Werkes Thüringen | ab 2014 theologische Referentin im Landesverband der Diakonie Sachsen | wohnhaft in Radebeul

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.