Junge Frau mit Pferdeschwanz hält sehr großen Taschenrechner und blickt überrascht in Kamera, Text Das MDR Klima-Update
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MDR KLIMA-UPDATE | 3. November 2023 Wenn uns freche Forschende das CO2 einfach von der hohen Kante klauen

Ausgabe #113 – von Florian Zinner

03. November 2023, 11:15 Uhr

Gerade hat unser CO2-Budget noch für zehn Jahre gereicht – da waren's nur noch sechs. Aber warum?

Junger Mann mit Bart, runder schwarzer Brille, schwarzem Basecap vor Roll-Up-Plane mit Logo von MDR WISSEN
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Tag zusammen!

So, ich war gerade in Versuchung, Ihnen das heutige Thema schmackhaft zu machen, indem ich den Inflations-geschröpften Geldbeutel der Verbraucherinnen und Verbraucher als Vergleich heranziehe. Hatte ich mir so überlegt. Mein Chef schimpft aber immer, wenn ich schiefe Bilder fabriziere und in diesem Fall täte er das wohl mit Recht.

Fest steht: Das Fünf-Euro-Scheinchen im Portemonnaie reicht nicht mehr ganz so lange, wie noch vor zwei Jahren gedacht. Aber immerhin kommen am Monatsende wieder ein paar neue Scheinchen hinzu. Beim CO2-Budget ist es erst mal ähnlich: Es reicht nicht mehr ganz so lange, wie vor zwei Jahren gedacht – also zehn weitere, um das 1,5-Grad-Ziel doch noch erreichen zu können. Sondern nur noch halb so lang, sagen Forschende jetzt. Eine CO2-Inflation sozusagen.

Was dem Vergleich ein Hinken bereitet: Beim CO2-Budget gibt es keinen Zahltag am Monatsende, an dem uns frisches Guthaben überwiesen wird. Diesbezüglich leben wir alle als Privatier oder Privatière. Da kommt so eine CO2-Inflation wirklich ungelegen. Warum das kein Grund zum Verzweifeln ist, klären wir heute.


#️⃣ Zahl der Woche:

4,9

… Tonnen CO2 gedenkt Gianluca Grimalda einzusparen, indem er die Rückkehr von einer Forschungsreise aus Papua-Neuguinea nicht in zwei Tagen per Flugzeug unternimmt, sondern in zwei Monaten per Wasser und Land. Die eingesparte Menge entspricht mehr als das klimaverträgliche CO2-Budget eines Menschen pro Jahr. Die Entscheidung kostet ihn seinen gut bezahlten Job am Kieler Institut für Weltwirtschaft, das ihn zunächst bei seinen (noch) ungewohnten Reisegewohnheiten unterstützt hatte, jetzt aber ein Präsenz-Ultimatum setzte. Der Fall scheint besonders brisant, weil Grimalda zufolge eine Anwesenheit in Kiel nicht notwendig sei und er seine Arbeit unterwegs erledigen könne. Die ganze Geschichte hat die Tageszeitung aufgeschrieben.

Weniger ist … weniger.


Wenn das Budget sowieso hinten und vorne nicht reicht, ist es im Grunde auch egal, wann es schlussendlich zur Neige geht. Na ja, fast: Statt gut 500 Gigatonnen CO2, wie sie im Weltklimabericht kommuniziert werden, stehen der Weltgemeinschaft nur noch 260 Gigatonnen zur Verfügung, um das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen mit einer fünfzigprozentigen Chance zu erreichen. Damit wäre das CO2-Budget in sechs Jahren aufgebraucht, legt eine neue Studie nahe, die diese Woche im Fachblatt Nature Climate Change erschienen ist.

Budget bedeutet in dem Fall Rest-CO2, dessen Ausstoß noch zur Verfügung steht, bevor wir theoretisch CO2-pleite sein und die globale Erwärmung eingedämmt haben müssten. Sie können sich vorstellen, dass die verlockend einfache Vorstellung vom großen Topf an CO2, aus dem wir uns beim Besteigen des Ferienfliegers, beim beherzten Biss ins Rumpsteak oder beim Drehen am Heizungsthermostat munter bedienen, mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Aber dazu gleich.

Zunächst steht die Frage im Raum, wie es die Forschenden schaffen, die doch sehr soliden Berechnungen des Weltklimarats infrage zu stellen. „Ein großer Teil der Senkung der Kohlenstoffbudgets ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass die Menschheit seit der Veröffentlichung des bislang letzten Budgets weiterhin jedes Jahr rund vierzig Gigatonnen CO2 ausstößt“, sagt Gabriel Abrahão vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung in einem Rundruf zum Thema des Science Media Centers. Wenn ein Budget von vornherein knapp bemessen ist, dann macht es sich eben besonders schnell bemerkbar, wenn man nicht sonderlich sparsam lebt.

Grafik zeigt Rückgang des CO2-Budgets von 500 Gigatonnen auf 250, ausreichend für sechs Jahre, Ziel fünfzig prozentig Chance Begrenzung auf 1,5 Grad. Und Rückgang des CO2-Budgets von 1150 Gigatonnen auf 940, ausreichend für 23 Jahre, 67-prozentige Chance auf Begrenzung auf unter 2 Grad Erwärmung
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Saubere Luft macht warme Luft

Zum anderen sind die starken Abweichungen durch einen ganz anderen Effekt begründet, ein aber ebenso spannender: Aerosole, also ein Gemisch aus festen oder flüssigen Teilchen und Luft. Genau gesagt geht es um die Aerosole, die durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen entstehen. Oder sagen wir einfach Luftverschmutzung, neben CO2 ein ungemütlicher Aspekt des fossilen Zeitalters auf regionaler Ebene. Die Schwebeteilchen haben allerdings einen kühlenden Effekt und sind so eine Art Sonnencreme für Mutter Erde: Inhaltsstoffe mitunter bedenklich, aber funktioniert halt. „Mit der Verbesserung der Luftqualitätsnormen und dem Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe wird diese kühlende Wirkung abnehmen, sodass die Erwärmung zunimmt, und somit das verbleibende Kohlenstoffbudget verringert wird“, erklärt Abrahão.

Wenn Sie tiefer einsteigen möchten in die Kuriosität um die dicke Luft, die unseren Planeten kühlt: Bereits vor einem Jahr hat MDR WISSEN über Forschung der Uni Leipzig zum Thema berichtet. Und erst im August gab es neue Erkenntnisse: Der Effekt ist nicht sofort spürbar und unterscheidet sich regional.

Die Wirkung von Aerosolen aufs Weltklima darf also weder überschätzt noch unterschätzt werden (wie es 2021 noch der Fall war). Und ist eine unsichere Angelegenheit. Hinzu kommt, dass wir von einem CO2-Budget sprechen, nicht aber von einem Treibhausgas-Budget. Dabei ist es wichtig zu wissen, „dass diese CO2-Mengen von Annahmen über die zukünftige Minderung von anderen wichtigen Treibhausgasen – etwa Methan und Lachgas – abhängig sind und genau diese Annahmen haben sich verändert“, sagt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er weist zudem auf einen möglicherweise irreführenden Umstand hin: Das verbleibende CO2-Budget halbiere sich nach der Neuberechnung gar nicht, sondern gehe nur um ein Drittel zurück. Grund: Die 500 Gigatonnen CO2, die uns laut Weltklimarat noch bleiben, beziehen sich auf Startdatum 1. Januar 2020. Die Neuberechnung auf den 1. Januar 2023. Dazwischen liegen drei Jahre.

Brauchen wir dieses CO2-Budget überhaupt?

Wenn man diese Zahlen also nicht für voll nehmen kann und sie sich ohnehin ständig ändern, was taugen sie dann überhaupt? Ein Anhaltspunkt für einzelne Länder, ihre verflixten Emissionen einzudämmen, sind sie schon mal nicht, sagt Oliver Geden: „Aufgrund ihrer permanenten Neuberechnung eignen sich globale Restbudgets nicht, um daraus nationale oder europäische Restbudgets abzuleiten, weil diese Richtungs- und Größenänderungen für die deutsche und europäische Klimapolitik nicht kurzfristig umsetzbar sind und jede klimapolitische Erwartungssicherheit untergraben.“

Das CO2-Budget ist aber sehr wohl ein passables Werkzeug, um – man möchte sagen: abermals – daran zu erinnern, dass die Uhr tickt und auch ein CO2-Budget vor einer Inflation nicht sicher ist. Es verdeutlicht auch, dass jede eingesparte Gigatonne Kohlenstoffdioxid ein wertvoller Beitrag ist, den Planeten vor einem Kollaps zu bewahren. Wie anfangs erwähnt, ist es dabei zweitrangig, wie viel CO2 die Weltgemeinschaft noch auf der hohen Kante hat. „Es ist fast irrelevant, ob das Budget bei gleichbleibenden Emissionen in sechs Jahren – wie in dieser Studie – oder in zehn Jahren – wie vorher gedacht – aufgebraucht ist“, findet der Klimaforscher Niklas Höhne, Leiter des New Climate Institute in Köln und Berlin. „Es ist in jedem Fall extrem eng. Und das ist keine neue Erkenntnis.“

Da die Treibhausgasemissionen derzeit nicht zurückgehen, sondern unpraktischerweise auch noch steigen, bleibt es trotzdem eine berechtigte Frage, ob uns das Klima einen Dispo gewährt. Und welche Überziehungszinsen wir bezahlen müssen. Sagen wir es mal so: Je geringer die Schulden, desto besser, „da jede eingesparte Tonne zu geringerer globaler Temperaturerhöhung führt und damit zu geringeren Schäden“, so Höhne. „Selbst wenn die 1,5 Grad für eine gewisse Zeit überschritten werden, könnte die globale mittlere Temperatur wieder sinken, wenn Emissionen auf null gesenkt sind und mehr CO2 aus der Atmosphäre entfernt wird.“ Dafür sei es ebenfalls von Vorteil, wenn vorher weniger emittiert wurde.

Auch die Hamburger Klimaforscherin Tatiana Ilyina nimmt das Modell des CO2-Budgets in Schutz – und macht gleich noch auf einen Missstand aufmerksam: Die Berechnung dessen, was uns bis zur Überschreitung der 1,5 Grad Erderwärmung übrig bleibt, bleibt derzeit an einzelnen Studien hängen. Es ist sozusagen eine „akademische Tätigkeit, die den Wissenschaftlern und der unbeständigen Finanzierungssituation überlassen bleibt.“ Es brauche angesichts der Dringlichkeit stattdessen ein „Überwachungssystem für Treibhausgase, das alle Beobachtungs-, Modellierungs- und Vorhersagemethoden für Treibhausgasemissionen vereint.“ Um Dinge, die man für den Klimaschutz tut oder sein lässt, genauer zu verfolgen und auf den Prüfstand zu stellen, so Ilyina.

Denn beim Privat-Portemonnaie mögen Stichproben ausreichend sein, ob die Verschwendungslust in der Quengelzone eines Supermarktes so noch tragbar ist. Aber in einem Großkonzern käme schließlich auch niemand auf die Idee, die Planung für das Jahresbudget ein paar ambitionierten Freiwilligen zu überlassen.


🗓 Klima-Termine

Dienstag, 7. November – Online

Kommt nach dem Deutschlandticket die Mobilitätswende? In Teil 3 der Reihe der Agora Verkehrswende geht es um die Umsetzung einer ÖPNV-Grundversorgung. Infos hier

Donnerstag, 9.11. – Borna

Der Nabu Sachsen geht im Seminar „Kompost anlegen“ unter anderem der Frage nach, was guter Boden mit Klimaschutz zu tun hat, ab 14 Uhr im Nabu Zukunftsgarten. Details

Montag, 13.11. – Leipzig

Am Umweltforschungszentrum wird das Buch „Die resiliente Stadt – Konzepte, Konflikte, Lösungen“ vorgestellt, mit anschließender Podiumsdiskussion. Ab 14 Uhr geht es los, Infos hier und Buch kostenlos hier.


📰 Klimaforschung und Menschheit

Keine Allianz, aber Kooperation der Regenwald-Staaten

Staaten mit den größten Regenwald-Gebieten der Erde wollen beim Schutz dieser wertvollen Ökosysteme stärker kooperieren. Das haben Regierungsvertreter der Anrainerländer von Amazonas und Kongo sowie des Gebiets Mekong-Borneo-Südostasien am Wochenende in Brazzaville vereinbart. An dem dreitägigen sogenannten Drei-Becken-Gipfel (Three Basins Summit) hatten Vertreter von Brasilien, Indonesien, der Republik Kongo und der Demokratischen Republik Kongo teilgenommen. In der am Sonnabend vereinbarten Abschlusserklärung bekräftigten die Teilnehmer ihre Absicht, die Abholzung der Regenwälder einzudämmen, die Artenvielfalt zu erhalten und den Klimawandel zu bekämpfen. Die drei Regionen enthalten demnach zwei Drittel der terrestrischen Artenvielfalt und stellen die Lebensgrundlage für mehr als eine Milliarde Menschen. Mehr bei MDR WISSEN

Lebensmittelindustrie trägt große Verantwortung für Einsatz fossiler Brennstoffe

Das sagt eine Studie der Global Alliance for the Future of Food. So sorgten Herstellung, Lagerung und Transport von Lebensmitteln für jährig 4,6 Gigatonnen CO2-Äquivalenten. Das entspreche dem Ausstoß aller EU-Staaten und Russlands zusammen. Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern einen stärkeren Einsatz von Erneuerbaren in der Lebensmittelindustrie, Verzicht auf hoch verarbeitete Lebensmittel und die Überprüfung von Steuererleichterungen und Subventionen für die Agrarindustrie. Mehr zum Thema hat die dpa (via Süddeutsche Zeitung).

Greenpeace behindert Verlegung von Pipeline-Rohr

Mit zwei Tauchenden hat die Umweltorganisation gegen die Errichtung des LNG-Flüssiggasterminals vor der Küste der Insel Rügen protestiert. Die Behinderung der Bauarbeiten dauerte mehrere Stunden. Dabei hätten sich die Tauchenden in einem drei Meter tiefen Luftsack an einem Pipeline-Rohr aufgehalten. Zwischenzeitlich sei nicht klar gewesen, wie die Aktion beendet werden sollte, ohne das Leben der Tauchenden zu gefährden. Nach Aussagen von Greenpeace werde mit dem Bau des Terminals in fossile Infrastruktur und Überkapazitäten investiert, der Bund hält das. Die Aktivisten müssen sich jetzt für verschiedene Tatbestände verantworten. Greenpeace hatte bereits mehrfach den Bau gestört. Infos bei der Frankfurter Rundschau


📻 Klima in MDR, ARD und ZDF

👋 Zum Schluss

Wo doch bald Weihnachten ist: Ich oute mich an dieser Stelle als eine Person, die eher häufig als selten aktuelle Trends im Bereich der Klemmbausteine verfolgt. Lego, der größte Hersteller in diesem Milieu, steht zwar bei seinen Fanboys und -girls mitunter in der Kritik, seine Wurzel hinsichtlich Qualitäts- und Preispolitik vergessen zu haben. Aber an einer Stelle zahlt es sich aus, nicht allzu konservativ zu sein: Mittlerweile gibt es Sets mit Bioladen, Biobauernhof, Recycling-Auto, Elektroauto, Baumpflanzungsfahrzeug – und Tierschutz in Hülle und Fülle.

Zeitgenössische Themen für Kids also. Soll ich Ihnen was verraten? Die genannten Bausteinsets sind alle Teil der Produktlinie, die sich ausschließlich an Mädchen richtet.

Ich empfehle Ihnen an dieser Stelle noch einmal die Lektüre der Kollegin Inka Zimmermann zum Eco Gender Gap, falls sie die verpasst haben sollten.

In diesem Sinne, passen Sie auf sich und die Welt auf. Und kaufen Sie Ihren Jungs Mädchenspielzeug.

Herzlich
Florian Zinner


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