Illustration in entsättigten, modernen Farben von Autostau in Großstadt mit einzelner Person im Stau mit Handy am Ohr
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MDR KLIMA-UPDATE | 20. Oktober 2023 Vom Zeh bis zum Ballen: Per pedes hilft allen!

Ausgabe #111 vom Freitag, 6. Oktober 2023

20. Oktober 2023, 11:05 Uhr

Klimafreundlicher geht keine Fortbewegung, Und günstiger auch nicht. Aber Zufußgehen funktioniert nicht überall gleich gut.

Junger Mann mit Bart, runder schwarzer Brille, schwarzem Basecap vor Roll-Up-Plane mit Logo von MDR WISSEN
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Hallöchen,

so, also wenn ich dann mit Tippen fertig bin, gehe ich noch einkaufen. Ein paar Kartöffelchen stehen auf dem Zettel (vorwiegend festkochend) und gegebenenfalls eine Aubergine. Braucht Sie auch nicht weiter zu interessieren. Viel wichtiger für diese Gemüserutsche ist das Wörtchen "gehen", denn dankenswerterweise sind in meinem Fall Einkaufsmöglichkeiten fußläufig erreichbar und damit ohne Fahrrad, Trambahn und Auto.

Wenn man sich ws genau überlegt, sind die Füße wirklich praktisch, aber unverständlicherweise der Underdog unter den Verkehrsmitteln. Eins, das zwar nicht allen, aber doch sehr vielen Menschen zur Verfügung steht: individuell, unentgeltlich, intuitiv zu bedienen und mit einer sagenhaft lässigen CO2-Bilanz. Hinzu kommen gesundheitliche Aspekte (mal dahingestellt, ob jeder Gang schlank macht, sind die Vorzüge der Bewegung unbestritten). Nicht zu verachten auch die Förderung des Soziallebens in einer wuseligen Nachbarschaft per pedes.

Zwischen 2002 und 2017 ist die Verkehrsleistung pro Person in Deutschland von täglich sechs auf 39 Kilometer gestiegen. Gleichzeitig hat das Zufußgehen an Bedeutung verloren und weist zudem den geringsten Anteil aller Fortbewegungsarten auf, obwohl es dafür weder Zapfsäule noch Ladestation, noch Deutschlandticket braucht. Noch nicht mal eine Luftpumpe, außer Sie benutzen aufblasbare Sandaletten. Diese statistische Unwucht hat nicht nur, aber auch mit der Attraktivität von Wohnquartieren für den Fußverkehr zu tun. Die lässt sich messen – und Mitteldeutschland steht nicht gerade gut da. Wieso, das klären wir heute.


#️⃣ Zahl der Woche:

39,9

… Cent pro Kilowattstunde hätten die Besitzerinnen und Besitzer einer privaten Photovoltaik-Anlage im August 2022 verdienen können, wenn sie den überschüssigen Strom ihrer Solarzellen zum aktuellen Marktpreis verkauft hätten. Nahmen sie dagegen die staatliche Einspeisevergütung in Anspruch, hätten sie nur 7,1 Cent erhalten, weniger als ein Fünftel also. Da kleine Erzeugende aber selbst oft nicht die Möglichkeit haben, am Stromhandel teilzunehmen, entstehen nun Anbieter, die diese Zwischenrolle übernehmen. Diese Unternehmen erschaffen so sogenannte "virtuelle Kraftwerke". Hintergründe lesen Sie hier beim Kollegen Robert Rönsch.

Mit dem Null-Euro-Ticket läuft es sich nicht überall gut

Die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts ist ein Widerspruch an sich, so von stadtplanerischer Seite. Ost wie West sah in einem Trabant oder Käfer, in einem Wartburg oder Golf die krönende Vollendung der Familienplanung. In der BRD wollte jedes verschlafene Nest eine eigene Autobahn, am besten quer durch die Ortschaft, Straßenbahnen wurden hingegen aus dem Weg geräumt oder unter die Erde gelegt. Und selbst in der DDR durften sich Zufußgehende dem motorisierten Individualverkehr unterordnen, im wahrsten Sinne des Wortes: Teils ungemütlich verzweigte Unterführungen (Dresden, Pirnaischer Platz) und Personenbrücken (Leipzig, Goerdelerring) brachten nicht nur Umwege mit sich, sondern auch eine Reihe von Fragezeichen hinsichtlich Barrierefreiheit und Sicherheitsgefühl. Oder gegenüber dem Stadtbild. Halle, Riebeckplatz – auch heute immer einen Ausflug wert.

Und dann gab es auf der anderen Seite die im Zeichen der Wohnungsnot entstandenen Großwohnsiedlungen. Satellitenstädte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wie Halle-Neustadt und Köln-Chorweiler, Berlin-Gropiusstadt und Grünau im Leipziger Westen, deren Raffinesse in diesen Tagen leider im Schatten sozialer Brennpunkte steht. Zwar sind die ästhetischen Gesichtspunkte dieser Orte mindestens Geschmacksache, ihre Idee aber auch nach zeitgenössischen Maßstäben fortschrittlich: Verdichteter Wohnraum mit viel Grün (trotz Platte!), Aufenthaltsorte, Versorgungseinrichtungen und Einkaufsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe, großzügige Anbindungen an Straßen-, Stadt- oder S-Bahn. Die Stadt der kurzen Wege, so sagt man.

Es ist im Grunde die Art und Weise, wie europäische Städte ohnehin einst gewachsen sind. Bis das Auto in die Familie kam, sich in den engen Gassen nicht mehr gut lenkte und einen Umbau der Städte erforderte. Dass die autogerechte Stadt doch nicht so zeitgemäß ist, hat man relativ schnell erkannt, allerdings war es dann mitunter schon zu spät. Der Rückbau der Autostädte dauert bis heute an – mit, sagen wir, unterschiedlichen Ambitionen.

Wann wird Fußverkehr guter Fußverkehr?

"Ich bewege mich gerne zu Fuß fort, bin aber auch häufig auf dem Fahrrad anzutreffen. Meine Wohnung befindet sich im Osten von Dortmund." Ach herrje. Ausgerechnet Dortmund. Immerhin hat Julian Schmitz einen nahegelegenen Park, in dem er joggen gehen kann. Schmitz ist so eine Art professioneller Fußgänger – und am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung NRW (ILS) tätig. In einer Studie haben er und sein Team ermittelt: Dortmund ist unter den größten deutschen Städten die Fußverkehr-unfreundlichste. Noch hinter Dresden, das den vorletzten Platz einnimmt. Leipzig befindet sich im unteren Mittelfeld fernab der Spitze, die Sie jetzt überraschen mag: Frankfurt am Main ist an den maximal hundert Punkten am nächsten dran.

Nur, wie misst man sowas denn überhaupt? Der Studie zugrunde liegt der ILS-Walkability Index. Je höher, desto bessere Laufbarkeit, wenn man es denn so holprig übersetzen mag. Die Stadt wird dazu in Quadrate mit einer durchaus passablen Auflösung von hundert mal hundert Metern unterteilt. Eine Software berechnet für jeden Ort Punkte, deren Durchschnitt dann das Ergebnis der Stadt ergibt. Diese Punkte orientieren sich an den Bedürfnissen von Fußgängerinnen und -gängern. Das geht los mit der einfachen Frage, wie wegsam das Gelände ist, oder ob Sie für alle Erledigungen erstmal einen steilen Berg rauf müssen. "Gibt es beispielsweise Supermärkte, Ärzte, Apotheken, Schulen oder Restaurants in fußläufiger Entfernung? Je vielfältiger und näher gelegen das Angebot ist, desto besser schätzen wir die Fußgängerfreundlichkeit ein", sagt Schmitz. "Zusätzlich haben wir uns angeschaut, wie weit man sich entlang des Fußwegenetzes fortbewegen kann." Klar, das ist nicht unerheblich: Wenn Sie das Emblem des Ladengeschäfts in hundert Metern Entfernung blinken sehen, zwischen Ihnen und der Obstauslage aber eine Stadtautobahn verläuft, ist die räumliche Nähe ein Schuss in den Ofen. Schließlich werden noch Grünflächenanteil und Bevölkerungsdichte eines Wohnviertels bewertet.

Vier Karten zeigen farbig, wie gut Orte in der Stadt für den Fußverkehr geeignet sind. Text: Frankfurt Platz 1 86,1 Punkte, Leipzig Platz 11 57,9 Punkte, Dresden Platz 15 55,6 Punkte, Dortmund Platz 16 52,8 Punkte
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Letzteres ist ein großer Pluspunkt für das stark verdichtete Frankfurt – und Dresdens große Schwachstelle als flächige Stadt. Durch Dichte werden die Wege kürzer und umgekehrt ist die Chance höher, dass sich Läden und Einrichtungen ansiedeln. Hat natürlich auch den Vorteil, dass die Stadt nicht so viel Platz braucht und die Umwelt nicht zersiedelt wird (ich empfehle Ihnen an dieser Stelle ein Luftbild von Los Angeles). "Das Risiko in hochverdichteten Städten ist eine unzureichende Anzahl von Parks und Erholungsflächen. Und genau hier setzt Frankfurt an. Überall dort, wo vermehrt neue Wohnungen entstehen, werden auch die Grünflächen aufgewertet. Die Strategie nennt sich doppelte Nachverdichtung", so Schmitz. Rund um die Glitzerskyline im prosperierenden Südhessen wird also offenbar allerhand richtig gemacht.

Aber auch in Mitteldeutschland: "Auffällig ist, dass in Leipzig zwar weniger Grünflächen gibt, dafür in fußläufiger Distanz, was sich positiv auf die Walkability auswirkt." Damit erzielte Leipzig die Spitzenposition im Grünflächenranking. Ehrlicherweise bin ich darüber gestolpert, weil erst vor ein paar Jahren die Berliner Morgenpost anhand von Satellitenbildern ausgerechnet hat, dass Leipzig unter den damals 79 deutschen Großstädten den vorletzten Platz einnimmt, was seinen Grünanteil betrifft. Der fußläufige Eindruck ist offenbar ein anderer: "Mit Blick auf Erholungsmöglichkeiten und Anreizen, zu Fuß unterwegs zu sein, sind private Gärten weniger wichtig, da diese von der Öffentlichkeit nicht betreten und genutzt werden können." Die Untersuchung von Julian Schmitz und Team basiert deshalb nicht auf Satellitenbildern, sondern Daten von OpenStreetMap, einem freien Kartendienst, der auch Informationen zu Stadtgrün bereithält. Leipzig sei zudem die Stadt, in der sich die größten Unterschiede in der Laufbarkeit in den Wohnquartieren zeigten.  Die Metropole scheint also bemerkenswert schlechte und bemerkenswert gute Fußverkehrsviertel zu haben.

Köpfchen hoch!

Auch der vorletzte Platz der sächsischen Landeshauptstadt ist nicht unbedingt als Abgesang auf die Fußwege zu verstehen. Wichtig sei neben objektiven Kriterien, wie die Erreichbarkeit von Infrastruktur und Versorgung, wie eine Stadt aus Fußverkehr-Perspektive wahrgenommen werde. "Auch wenn in der Untersuchung Dresden weiter unten landet, bietet die Stadt andere Vorzüge, die sie lebenswert machen", so Schmitz. "Die Ästhetik der Stadt fördert natürlich auch die Bereitschaft, zu Fuß zu gehen, war aber nicht Teil der Untersuchung." Ist ja nun mal auch schwer zu beurteilen und letztendlich Geschmacksache.

Einen plausiblen Index haben wir also – nur was bringt er? "Wir möchten unsere Untersuchung als erste Basis für Städte verstanden wissen, in welchen Stadtteilen es noch Verbesserungspotenzial gibt", sagt Julian Schmitz. "Da wir insgesamt 16 Städte analysiert haben, können wir nur erste Hinweise liefern. Es ist immer wichtig, sich die Situation vor Ort anzugucken." Und zwar nicht nur, ob Orte des täglichen Bedarfs fußläufig zu erreichen sind, sondern auch wie. Sind die Fußwege breit genug? Und sind sie sicher? Hier brauche es vor allem einen Austausch mit der Bevölkerung vor Ort. Die Karten und Index-Werte können nur ein Anfang sein. Im Übrigen: Ob Gropiusstadt oder Marzahn, Chorweiler oder Grünau: Die Großwohnsiedlungen hinterlassen durch ihre Idee der kurzen Wege und klugen Infrastruktur trotz Stadtrandlage in der Untersuchung einen sehr guten Eindruck, anders als die Eigenheimsiedlungen in der Vorstadt: Reihenweise Reihenhäuser, die zu Fuß kaum zu bewältigen sind.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Menschen, die gerne das Auto benutzen, ziehen dorthin, wo es sich gut Autofahren lässt. Und Menschen, die gern zu Fuß gehen, ziehen mitunter dorthin, wo sie gut zu Fuß gehen können. Bei dieser Henne-Ei-Frage muss  eine passable Walkability also das Credo für jeden Ort sein, auch wenn die breiten Bürgerinnensteige erstmal leer bleiben.


🗓 Klima-Termine

Sonnabend, 21. Oktober – Erfurt

Die Landesstiftung Thüringen lädt zum Vortrag "Von der nachhaltigen zur Postwachstumsstadt" ins Naturfreundehaus mit Hendrik Sander vom Institut für Europäische Urbanistik an der Bauhaus-Uni Weimar. Infos hier

Bis Sonntag, 22. Oktober – Online

Umweltbundesamt und Bundesumweltministerium laden noch bis Sonntag zu einer Onlinebefragung im Rahmen des Dialogs Klimaanpassung. Dabei geht es um persönliche Erfahrungen, aber auch Ideen, welche Maßnahmen zum Leben mit dem Klimawandel getroffen werden müssen. Hier entlang

Ab Sonnabend, 28. Oktober – Neukirchen

Der BUND lädt zur Wanderausstellung "Insekten in Gefahr – Ein Rückgang mit Folgen", die bis 3. Januar in der Naturschutzstation Gräfenmühle Station macht. Kostenlos! Infos


📰 Klimaforschung und Menschheit

Fast-Verbrennerverbot nun für Lkw und Busse

Bis 2040 müssen die Emissionen von Lastkraftwagen und Bussen um neunzig Prozent runter im Vergleich zu 2019. Darauf haben sich die EU-Umweltminister diese Woche geeinigt. Bis 2030 gilt für Hersteller ein Reduktionsziel um 45 Prozent (statt bisher dreißig), bis 2035 sind es 65 Prozent. Neue Stadtbusse dürfen ab 2035 keinen Verbrennungsmotor mehr haben. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (B90/Grüne) begrüßte die Entscheidung. Lkw und Busse seien für ein Drittel der CO2-Emissionen aus dem europäischen Straßenverkehr verantwortlich. Hintergründe bei der FAZ

Fridays for Future Estland mit Erfolg bei Klimaklage

Die estnische Klimaschutzorganisation hat mit der ersten Klimaklage im Land einen Teilerfolg erziehlt. Der Oberste Gerichtshof hat dabei einen Baustopp für eine sich bereits im Bau befindliche, treibhausgasintensive Schieferölraffinerie verhängt. So seien die Auswirkungen auf ein Volgelschutzgebiet vollkommen unterschätzt worden. Zudem hätte es Fehler bei der Bewertung verschmutzter Abwässer und der Folgen für die Treibhausgasbilanz in Estland gegeben. Ein Fertigstellung des Projekts ist aber noch möglich, da nach Ansicht des Gerichts die zum Zeitpunkt der Baugenehmigung geltenden Klimaziele auch mit der Anlage erreicht werden könnten, schreibt die tageszeitung.

Wiedervernässung von Mooren mit positiven Effekten für Klima und Biodiversität

Durch eine erneute Anhebung der Wasserstände könnten negative Auswirkungen der Landwirtschaft auf Boden, Gewässer und Klima ausgeglichen und sogar positive Effekte zur Förderung und Erhaltung der biologischen Vielfalt erzielt werden. Das ist eines der Ergebnisse des Forschungsprojekts PaluDivers, die nun an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde vorgestellt wurden. Dabei zeigte sich, dass eine Nutzung der Moorflächen als Grünland oder in Anbauverfahren auch bei höheren Wasserständen möglich und besonders mit Blick auf die Produktion nachwachsender Rohstoffe sinnvoll ist. Dazu bedarf es technischer Anpassungen, wie zum Beispiel an die geringeren Tragfähigkeiten der Böden. Der Großteil der Moore wird in Deutschland für die land- und forstwirtschaftliche Nutzung entwässert. Mehr bei MDR WISSEN


📻 Klima in MDR und ARD

👋 Zum Schluss

Geneigte Lesendenschaft, besten Dank fürs Zugemüteführen dieser 111. Ausgabe des MDR Klima-Updates. (Konfetti: 🎉) Wir sind Ihnen sehr verbunden, dass Sie uns bereits bis zu dieser ersten dreistelligen Schnapszahl die Stange halten.

Zur Belohnung verrate ich Ihnen was: Sie müssen für ein gesundes Leben nicht 10.000 Schritte am Tag zu Fuß gehen. Das hat sich wohl mal eine japanische Schrittzähler-Firma in den Sechzigern als Marketing ausgedacht. Ich würde sagen, diese Werbemaßnahme ist gründlich gescheitert, da zwar alle den vermeintlichen Fakt, aber nicht den Namen der Schrittzählerfirma kennen. Wie dem auch sei, eine Meta-Studie hat ermittelt: 4.000 Schritte am Tag reichen, um die eigene Lebenserwartung signifikant zu erhöhen. Aber letztendlich ist das sowieso von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Und jede Art von Bewegung gesund.

Viel Spaß beim Einkaufen!

Und passen Sie auf sich und die Welt auf.

Herzlich
Florian Zinner


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Schreiben Sie uns an klima@mdr.de.

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