Ein Mann mit Brille lehnt an einem Schrank 1 min
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MDR SACHSEN - Das Sachsenradio Mo 05.02.2024 12:07Uhr 00:45 min

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Verhaltensforschung Pandemie und Katastrophen: Wie schaffen wir das unbekannte Unbekannte? 

05. Februar 2024, 12:32 Uhr

Wie schafft unser Gehirn Situationen zu meistern, die wir nicht kennen, die uns aber vor immense Herausforderungen stellen? Das untersuchen jetzt Wissenschaftler der TU Dresden in einem visionär angelegten Forschungsprojekt. MDR WISSEN hat bei Professor Christian Beste von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der TU Dresden nachgefragt.

Frage: Herr Beste, Sie erforschen das 'unbekannte Unbekannte'. Was ist das genau?

Christian Beste: Es gibt ja verschiedene Formen der Bekanntheit. Das unbekannte Bekannte ist zum Beispiel so etwas wie Wahlbeteiligung. Umgekehrt gibt es auch das bekannte Unbekannte, das beschreibt die klassischen Wissenslücken aus der Wissenschaft, die wir füllen wollen. Das unbekannte Unbekannte hingegen ist eine vollkommen neue Situation, in denen Menschen überhaupt nicht wissen, wie sie handeln sollen. Sie können also nicht auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Menschen haben also ein Ziel, aber gar keine Ahnung und kein Verhaltensrepertoire, wie sie das Ziel erreichen können.

Können Sie Beispiele nennen?

In der Literatur wird der Reaktorunfall in Tschernobyl und auch die Covid-19-Pandemie zu diesen Ereignissen gezählt. Kriege dagegen eher nicht – sie treten leider viel zu häufig auf.

Ein Mann sitzt inmitten von Kerzen auf der Prager Burg in Gedenken an die Opfer der Corona-Pandemie
Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat die ganze Welt vor riesige Herausforderungen gestellt. Wie sollte die Pandemie nur bewältigt werden? Bildrechte: picture alliance/dpa/CTK | Øíhová Michaela

Warum wählen Sie ausgerechnet die ganz große Unbekannte?

Laut gängiger Theorien müssten Menschen in völlig unbekannten Situationen handlungsunfähig sein. Das sind sie aber nicht. Sie handeln trotzdem, machen irgendetwas, versuchen der Situation Herr zu werden und Lösungen zu finden. Wir haben hier also ein klassisches Paradox. Warum bleiben die Menschen bei Hochrisiko-Ereignissen entgegen aller Theorie handlungsfähig? Wie verbinden sie Wahrnehmung und Handeln? Auf der Basis welches Instrumentariums entscheiden sie? Das wollen wir herausfinden.

Jugendliche und die Folgen der Pandemie
Laut gängiger Theorien müsste die Menschen eigentlich handlungsunfähig bei solchen großen unbekannten Herausforderungen sein. Sind sie aber nicht. Warum eigentlich? Bildrechte: imago images/Andia

Die Pandemie und der Reaktorunfall sind hochkomplexe Ereignisse. Hier wird doch nie ein Mensch allein die gesamte Fragestellung lösen können?

Natürlich nicht. Es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Rollen, darum geht es auch nicht. Ich muss erst das Handeln eines Individuums verstehen, dann kann ich es auf die nächste Ebene hochbrechen. Das Problem ist, dass solche Situationen so selten auftreten, dass man sie bislang nicht systematisch untersuchen konnte. Wie kann man diese Ereignisse untersuchbar machen? Gibt es irgendein Strickmuster? Wie schafft es unser Gehirn trotz fehlender Vorerfahrungen mit einer Situation zurechtzukommen? Es gibt viele Fragen und das Projekt ist ein erster Schritt.

Zwei Männer in Schutzkleidung ziehen einem dritten die Schutzkleidung aus.
Der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 gilt als atomarer Supergau, der noch viel größere aber auch geringere Auswirkungen hätte haben können. Könnte eine Modellage für 'unbekannte Unbekannte'- Situationen, menschliches Verhalten besser vorhersehbar machen? Bildrechte: IMAGO / SNA

Wie wollen Sie das herausfinden?

Unsere Forschung ist interdisziplinär auf drei Jahre angelegt und wird als visionäres Hochrisiko-Projekt mit 600.000 Euro von der Volkswagen Stiftung finanziert. Um die Mechanismen des menschlichen Gehirns in UU-Situationen zu entschlüsseln, kombinieren wir Ansätze aus der virtuellen Realität (VR), Elektroenzephalografie (EEG) und Hirnstimulationsverfahren. Wir gehen völlig neue Wege. Wenn wir Glück haben, gewinnen wir Erkenntnisse, welche die Verhaltensforschung neu aufstellen und Verhalten in extrem unbekannten Situationen besser vorhersagen können. Damit wäre es vielleicht möglich, gesundheitsrelevante Situationen wie eine Pandemie sicherer zu machen. 

Warum Hochrisiko-Projekt?

Viele konventionellere Forschungsprojekte sind an enge Vorgaben geknüpft und haben wenig Spielraum. Ideen, die gegen den Strom schwimmen, können sich hier nur schwer durchsetzen und werden leider nur sehr selten finanziert. Wir haben das Glück, diese Fragen mit visionären Forschungsansätzen anzugehen. Wir können etwas Außergewöhnliches herausfinden und unser Verständnis erweitern - aber auch scheitern. Doch wenn etwas herauskommt, kann dies Einfluss auf andere Wissenschaftsdisziplinen haben und zum Beispiel helfen, künstliche Intelligenz zu entwickeln. Mehr möchte ich an dieser Stelle noch nicht sagen.

Was ist ihre Hypothese? Warum können wir im unbekannten Unbekannten trotzdem handeln?

Wir müssen dorthin zurück, wo wir schon einmal waren. Dorthin, wo es noch keine Erfahrungswerte gab. Wir müssen also quasi zurück zum Säugling, Baby und Kind.

Sie wollen also zum psychologisch unbeschriebenen weißen Blatt zurück?

Ja, genau. Die Gehirne von Babys und Kindern sind nicht voll entwickelt. Letztlich geht es darum, was passiert, wenn alles noch unbekannt ist. Erst durch das Lernen und die Erfahrungen verknüpfen sich neuronale Netzwerke. Nicht umsonst ist das Projekt auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie angesiedelt und hat einen starken neurowissenschaftlichen Schwerpunkt. Was ist eigentlich mit den Kindern, die aus der Norm fallen? Warum betrachten wir sie immer als defizitär? Vielleicht können sie etwas besonders gut, was wir nicht sehen. Vielleicht haben sie besondere Kompetenzen, die in abstrusen Situationen wie dem unbekannten Unbekannten sogar von Vorteil sind. Das Projekt betrachtet auch Kreativität und Intelligenz. Wie sinnvoll ist es, bewährte Handlungsmuster über die Situation zu stülpen oder andere, ganz neue kreative Wege zu gehen.

Sie betrachten Intelligenz?

Ja. Was ist zum Beispiel Intelligenz? So genau weiß das die Psychologie bis heute nicht. Wir können mit Tests beantworten, wie intelligent eine Person ist. Was Intelligenz jedoch wirklich bedeutet, ist eine andere Frage. Wir kommen mit dem Projekt von einer völlig neuen Seite und können wahrscheinlich auch hier neue Perspektiven aufzeigen.

Was ist mit künstlicher Intelligenz?

Künstliche Intelligenz funktioniert momentan so, dass Muster gelernt werden. Diese Lernerfahrung wird dann intelligent angewendet. Ohne diese Lernerfahrung kann KI aber nicht viel. Das Besondere am unbekannten Unbekannten ist eben das Fehlen von jeglicher Vorerfahrung. Daher kann KI es nicht schaffen, sich in Situationen zurechtzufinden, die wir in unserem Projekt betrachten.

Noch nicht?

Das werden wir sehen. Unser Handeln basiert nicht nur auf Ratio, sondern wie Wahrnehmung und Handlung miteinander verknüpft sind – ebenso auf Emotionen. Sie können dazu führen, dass Menschen eher nach Schema F handeln – oder gerade unkonventionelle Wege gehen. Wir sind gespannt, das Projekt es ist ein Experiment mit sehr vielen möglichen Ausgängen.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Dresden | 05. Februar 2024 | 16:30 Uhr

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