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Die Illustration zeigt eine junge Frau mit schulterlangen Haaren und einem weißen Shirt. 30 min
Bildrechte: MDR/Jessica Brautzsch

Mobilitätswandel im Schneckentempo Warum die Verkehrswende im Stau steht

28. Januar 2024, 15:59 Uhr

Längst ist das Auto nicht mehr das gesellschaftliche Statussymbol für Erfolg und Reichtum. Gleichwohl bleibt es das Verkehrsmittel der Wahl bei der Mehrzahl der Deutschen. Die Verkehrswende steht im Stau. Warum ist das Auto an so vielen Orten im Land unersetzlich und wie können Alternativen aussehen?

Sicher kennen Sie diese Situation: Sie fahren auf der Autobahn und fragen sich: Wie, schon wieder eine Baustelle? Die haben die Autobahn doch gerade erst saniert. Vor Ihnen blinken immer mehr rote Rücklichter auf. Na gut, runter vom Gas, ab auf die Bremse. Das sieht nach einem langen Stau aus und das heißt, wir haben genügend Zeit, um uns eingehender mit dem Verkehr und seinen Problemfeldern zu beschäftigen. Machen Sie es sich hinterm Steuer gemütlich ...

Rund die Hälfte der Deutschen ist rein automobil unterwegs

Zuerst ein paar Fakten: Die Zahl der zugelassenen Pkw in Deutschland steigt seit Jahren, mittlerweile sind es fast 49 Millionen. Es gibt daher mehr Autos als Haushalte (40,9 Millionen) in Deutschland. In den Großstädten haben 42 Prozent der Haushalte kein eigenes Auto, jeder Zehnte hat zwei oder mehr Autos. Auf dem Land hat jeder zehnte Haushalt kein eigenes Auto, ein Drittel verfügt über zwei oder mehr Pkw.

Etwa 45 Prozent der Deutschen legen ihre wöchentlichen Wege, ob zur Arbeit, zu Kinderterminen, Hobbies und Einkäufen ausschließlich mit dem Auto zurück. Ein Viertel der Deutschen hingegen benutzt das Auto für seine Strecken gar nicht. Im Durchschnitt legen wir am Tag drei Strecken zurück und sind etwa 90 Minuten unterwegs.

Täglich zurückgelegte Strecken in Deutschland: Einmal bis zum Saturn

Die durchschnittliche Person in Deutschland legt jeden Tag 39 Kilometer Strecke zurück – wir alle also 3,3 Milliarden Kilometer Tag für Tag, One-Way bis zum Saturn – guten Flug! Last but not least: Der Verkehrssektor in Deutschland stößt seit Langem ziemlich konstant etwa 150 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr aus und daran scheint sich relativ wenig zu ändern.

Hinter den Zahlen stecken private und gesellschaftliche Entscheidungen und Entwicklungen. Mehr darüber hören können Sie im Podcast Meine Challenge – Mobil ohne Auto.

Lesen können Sie es hier: Gemeinsam mit den Mobilitätsforschern Andreas Knie und Robert Follmer schauen wir uns Ursachen und Lösungen an. Knie leitet die Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung" am Wissenschaftszentrum Berlin, Follmer koordiniert am infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft in Bonn die Großstudie "Mobilität in Deutschland", Gradmesser für die Art und Weise, wie wir hierzulande unterwegs sind. Also, warum steht die Verkehrswende im Stau und wie lösen wir den auf?

Ursache #1: Leben und Arbeiten auf der grünen Wiese

Robert Follmer: "Mobilität entsteht aus der Art, wo wir Häuser bauen, wo wir unsere Büros hinsetzen, wo die Geschäfte sind. Und wenn ich alles an den Stadtrand, auf die grüne Wiese rücken lasse, wo eben die U-Bahn-Station nicht unten drunter ist, sondern der große Parkplatz obendrüber, dann ist all das, was wir an an Siedlungsentwicklung im Augenblick haben, etwas, was der Verkehrswende, so wie sie geplant oder gewünscht ist, natürlich zuwiderläuft. Das spielt dem Auto in die Hände."

Das Schlagwort lautet: Zersiedelung – viele Bebauungen und vergleichsweise wenige Menschen verteilt auf einem großen Raum. Einer Studie des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung in Dresden zählt Deutschland zu den zersiedeltsten Gegenden der Welt. Zersiedelung kann den motorisierten Individualverkehr befördern, weil sich die größer werdenden Distanzen schlechter mit dem Öffentlichen Verkehr (ÖV) abdecken lassen.

Ursache #2: Die Wegeketten des Alltags

Skandal: 40 Prozent der Pendler fahren auch Wege unter fünf Kilometer bevorzugt mit dem Auto. Die könnten sie doch locker mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß zurücklegen, oder?

Robert Follmer: "Was ganz oft unterschätzt wird, sind die so genannten Wegeketten. Wir sind oft vom ersten Ziel zum zweiten, zum dritten Ziel unterwegs. Es gibt oft diesen erhobenen Zeigefinger, wo man sagt: soundsoviel Prozent aller Autofahrten sind kürzer als drei oder vier Kilometer. Die könnte man also problemlos mit dem Fahrrad machen. Ganz oft ist das aber so, dass das genau in solchen Ketten eingebettet ist, also vielleicht die dritte oder vierte Etappe. Klar könnte man diese Einzeletappe dann über drei Kilometer wunderbar mit dem Fahrrad fahren. Aber die Etappe davor war vielleicht 15 oder 20 Kilometer lang.

Und dann entscheidet eigentlich die komplizierteste Etappe über das Verkehrsmittel. Und dann ist es ganz oft das Auto, weil mir das diesen einen Schritt ermöglicht."

Ein Mann im mittleren Alter im Anzug blickt in die Kamera. Es ist der Verkehrswissenschaftler Robert Follmer
"Es wird ein bisschen vergessen, dass unsere Wege oft eingebettet sind in teilweise anspruchsvolle und komplizierte Alltagsanforderungen", sagt Verkehrsforscher Follmer. Bildrechte: infas

Ursache #3: Der Öffentliche Verkehr dreht sich um sich selbst

In den Städten steigen die Preise für die Fahrten mit dem vergleichsweise zuverlässigen Nahverkehr. Auf dem Land fährt überhaupt kein Bus. Das Problem ist so altbekannt, dass Mobilitätsforscher Andreas Knie es mittlerweile mit einem Spruch garniert hat, den er bei regelmäßigen Anlässen wiederholt:

Andreas Knie: "Der Öffentliche Verkehr krankt daran, weil es Männer sind, die in Autos sitzen und mit Geld, was ihnen nicht gehört, Produkte bauen, die keiner versteht, was aber nicht auffällt, weil sie keiner nutzt."

Zu viele Verbünde und Zweckgesellschaften im Verkehrssystem

Das dahinterliegende Problem seien die Zuständigkeitsprobleme in den Verkehrsverbünden und deren reine Zahl: Rund 60 Stück gibt es in Deutschland, die sich laut Knie nur mit ihrem Landstreifen beschäftigen:

Das Bild zeigt einen älteren Herrn im grauen Anzug, der in die Kamera lächelt. Es handelt sich dabei um den Berliner Mobilitätsforscher Andreas Knie
Weg mit dem heiligen, römischen Reich deutscher Verkehrsverbünde, fordert Mobilitätsforscher Andreas Knie. Bildrechte: WZB

Andreas Knie: "Gerade Sachsen leistet sich für den Schienenpersonennahverkehr fünf Zweckverbände. Da hat jeder Landrat sozusagen eine eigene Regieeinheit und die brauchen so viel Geld, die sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie alles Mögliche optimieren, aber nicht gegenüber den Kunden. Deshalb ist der ÖV in der heutigen Situation überhaupt nicht in der Lage, auch nur ansatzweise eine Alternative zu präsentieren."

Verkehrsminister Volker Wissing wünscht sich eine Zusammenlegung der Verkehrsverbünde. Ob sein Wunsch in Erfüllung bringt, bleibt abzuwarten. Auch das 49-Euro Ticket sei laut den Mobilitätsforschern keine Lösung, um den ÖV voranzubringen. Der große Vorteil sei die Überwindung des Tarifdschungels, dafür habe es die Schwächen des ÖV offengelegt:

Ursache #4: Volle Bahnen, leere Busse, kaputte Bahnhöfe, keine Bahnhöfe

Robert Follmer: "Die unzureichende Qualität im öffentlichen Verkehr verhindert die Mobilitätswende. Das erreicht nicht das Anspruchsniveau der Menschen, die sich heute hauptsächlich mit einem Auto bewegen: Sei es von der Zahl der Verbindungen, aber auch von der Frage des Wohlfühlfaktors: wie gut geht es mir, wenn ich mit diesen Verkehrsmitteln unterwegs bin? Und unterm Strich ist es dort die Zeit, die sie mit dem ÖV brauchen."

Und dann sind da noch die Umschlagplätze im Öffentlichen Verkehr, die in vielen Regionen heruntergekommen und verwahrlost aussehen:

Robert Follmer: "Ein Bahnhof ist heute oft mit der schrecklichste Ort in der Stadt. Überspitzt gesagt, müsste das der Schönste sein – was die Aufenthaltsqualität und den Komfort angeht. Wenn ich diejenigen, die heute praktisch in ihr Auto verliebt und damit unterwegs sind, auch für den ÖPNV gewinnen will, brauche ich viel mehr Qualitäten: Nicht nur, dass Bus und Bahn pünktlich kommen, sondern auch, dass ich mich im System am Bahnhof im Fahrzeug einfach wohlfühle. Und da kann man von dem Innenleben moderner, teurer Autos lernen, welche Wohlfühlqualität da geboten werden kann."

Und damit nähern wir uns möglichen Auswegen aus dem Stau: Die Mobilitätsforscher fordern eine Qualitätsoffensive für den Öffentlichen Verkehr und die Bus- und Bahnhöfe. Was das konkret bedeutet, liegt allerdings auf der Hand: Es braucht viel mehr Geld.

Lösung #1: Der smarte Weg, unterwegs zu sein

Hier geht es nicht um ein ehemals kleines und wendiges Stadtfahrzeug eines bekannten Deutschen Autoherstellers, sondern um die alltagsnahe, nachhaltige und schnelle Möglichkeit mobil zu sein: Für Menschen auf dem Land, in der Peripherie und in kleineren Städten: Öffentlicher Verkehr auf Nachfrage. Statt großer Linienbusse, die nach festgelegten Zeiten abfahren, sollen kompakte Autos in der Art von Taxis, die man zu günstigen Konditionen oder im Abo per App buchen kann, die Zukunft des ÖV sein:

Andreas Knie: "Weil wir als Autogesellschaft das Auto im Kopf haben, kann die Lösung nur das bessere Auto sein. Das bringt mich dahin, wo ich hin will – oder zumindest zum nächsten Knotenpunkt, von dem ich weiterkomme. Wir brauchen diese On-Demand-Verkehre und können die auch schon jetzt bauen. Die sind auch billiger, wenn wir auf die großen Gelenk- und Linienbusse verzichten. Wir haben das mal für eine Stadt wie Dessau ausgerechnet: Da bräuchten wir 400 solcher On-Demand-Shuttle-Fahrzeuge und könnten den gesamten öffentlichen Verkehr und einen Teil der privaten Pkw ersetzen."

Tatsächlich machen sich erste Verkehrsverbünde auf den Weg, diese Alternativen auszutesten, wie das folgende Beispiel im Saale-Orla-Kreis in Thüringen zeigt. Der Öffentliche Verkehr der Zukunft und die Idee einer Mobilitätsgarantie auf dem Land war auch schon Thema in unserem Klima-Update: "Mehr Takt-Gefühl für den ländlichen Raum, bitte!"

Lösung #2: Wir lassen den Fahrer weg

Andreas Knie: "Das ist jetzt der nächste große Game-Changer: Wenn wir in San Francisco, in Shenzhen oder in Shanghai wären, dann könnten wir mit dem Robo-Taxi fahren. In San Francisco fahren die im Regelbetrieb, während wir hier noch diskutieren, ob das autonome Fahren wirklich gut ist. Also wir haben längst den Schuss noch nicht gehört, und das müssen wir jetzt tun. Industriepolitisch und umweltpolitisch wäre das wichtig."

Lösung #3: Wir fahren einfach alle ein bisschen weniger weit??

Das klingt abwegig, oder? Aber Verkehrszahlen aus dem letzten Jahr scheinen nahezulegen, dass wir in Deutschland uns genau in diese Richtung bewegen – das Stichwort lautet Homeoffice:

Andreas Knie: "Wir haben Ergebnisse, dass wir im Moment jedenfalls davon ausgehen, dass ein Drittel aller Beschäftigten quer durch alle Branchen, quer durch alle Hierarchien an zwei bis drei Tagen einfach nicht mehr ins Büro fährt. Und dass sie sich auch weiter bewegen, dass die Zahl der Wege damit auf jeden Fall nicht weniger wird, sondern tendenziell eher mehr, das sehen wir auch. Wo sie dann hinfahren, das ist noch unklar. Aber was wir jetzt schon messen können und was man auch merkt, wenn man in Städten wie Leipzig, aber auch wie in Berlin oder im Ruhrgebiet unterwegs ist: der Verkehr ist weniger geworden, also die langen Fahrten mit dem Auto sind deutlich weniger geworden: Im ersten Halbjahr 2023, gemessen an dem Halbjahr 2022, haben wir ungefähr zehn Prozent weniger Verkehr."

Gas geben für die Wende

Siehe da, der Stau löst sich langsam. Vor Ihnen fangen die ersten Boliden wieder an, ihr Gaspedal warm werden zu lassen. Es kann weitergehen. Gute Fahrt! Und die Verkehrswende?

Robert Follmer: "Ich glaube, jeder von uns sollte einfach mal seine Alltagsroutinen abklopfen und in Frage stellen. Also wenn ich mich für bestimmte Strecken jetzt beispielhaft fürs Fahrrad entscheide und vielleicht merke, dass es ganz gut geht mit dem Fahrrad, dass es mir vielleicht Spaß macht, mich in bestimmten Situationen auch so zu bewegen. Oder dass ich die mangelnde Orientierung beispielsweise im ÖPNV verliere, wenn ich mich einfach mal in das System reinbegeben habe und da auch neue Routinen lerne und besser klarkomme. Also mal das eine, mal das andere machen und das aber auf gesicherter Grundlage und immer mal wieder neue Dinge entwickeln und auf diese Art und Weise zu einem individuell bunteren Mobilitätsmix zu gelangen, der nicht immer nur das Auto an erster Stelle hat."

Andreas Knie: "Wir gehen davon aus, dass knapp die Hälfte der Deutschen sagt: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Sie macht sich Gedanken über die eigene Mobilität oder ist dabei sich umzustellen. Außerdem gehen wir davon aus, dass wir bei den Verkehrsanlässen ebenfalls rund die Hälfte aller Autofahrten bequem ersetzen könnten."

Der nächste große Gradmesser für unser Verkehrsverhalten und den Stand der Verkehrswende – die umfangreiche Studie "Mobilität in Deutschland" – erscheint Ende 2024.

Quellen:

Mobilität in Deutschland – Mobilität in Deutschland (MiD) ist eine bundesweite Befragung von Haushalten zu ihrem alltäglichen Verkehrsverhalten im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). Sie wurde bereits in den Jahren 2002, 2008 und 2017 erhoben. Die aktuelle Studie wird von Dezember 2022 bis voraussichtlich Anfang 2024 durchgeführt.

Veränderungen im Mobilitätsverhalten zur Förderung einer nachhaltigen Mobilität – Die Studie zeigt, dass bisher beobachtbare Mobilitätstrends bei jungen Erwachsenen in ihrer Bedeutung für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung nicht überschätzt werden dürfen, während bei den Älteren die Mobilität weiterhin von Generation zu Generation zunimmt.

Den öffentlichen Verkehr neu erfinden – Autonome Shuttle statt Linienbusse – Gedanken von Mobilitätsforscher Andreas Knie zur Zukunft des ÖV

Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR Meine Challenge | 26. Januar 2024 | 12:00 Uhr