Hirnforschung Intelligente Gehirne "ticken" oft langsamer
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09. Juni 2023, 15:49 Uhr
Ein schnelles Gehirn bedeutet nicht zwangsläufig mehr Intelligenz. Hochintelligente Menschen benötigen bei einigen Aufgaben mehr Zeit als Menschen mit niedrigerem IQ.
Es ist eine recht überraschende Erkenntnis, die eine Forschungsgruppe aus Berlin und Barcelona gewonnen hat. Menschen mit höherem IQ lösen zwar einfache Probleme schnell, brauchen jedoch für schwierige Aufgaben mehr Zeit als Teilnehmer, die in IQ-Tests schlechter abschneiden.
Um das zu untersuchen, wurden von 650 echten menschlichen Gehirnen virtuelle "Avatare" erstellt. Dazu nutzte das Team um Prof. Dr. Petra Ritter, Direktorin der Sektion Gehirnsimulation am Berlin Institute of Health (BIH) und an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie der Charité Berlin, digitale Daten aus Hirnuntersuchungen wie der Magnetresonanztomografie sowie mathematische Modelle.
Daraus entstand zunächst ein allgemeines menschliches Gehirnmodell. Dieses wurde dann mit individuellen Messwerten der einzelnen Personen präzisiert, auf diese Weise entstanden 650 personalisierte Gehirnmodelle. "Wir können sehr effizient die Aktivität individueller Gehirne reproduzieren", erklärt Petra Ritter. "Unsere virtuellen Avatare spiegeln die Leistungsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit ihrer biologischen Pendants wider."
Richtige Entscheidungen brauchen manchmal Zeit
Die Simulation zeigte, dass Gehirne mit geringerer Synchronisation zwischen den Hirnregionen dazu neigen, überstürzte Entscheidungen zu treffen oder voreilige Schlüsse zu ziehen, anstatt abzuwarten, bis vorgeschaltete Gehirnregionen die benötigten Verarbeitungsschritte zur Problemlösung beenden konnten.
Im Gegensatz dazu verbrachten die Teilnehmer mit höheren Punktzahlen in IQ-Tests mehr Zeit mit dem Lösen komplizierter Aufgaben, machten dabei aber eben auch weniger Fehler. "Es ist die richtige Balance aus Anregung und Hemmung zwischen den Nervenzellen, die Entscheidungen beeinflusst", sagt Petra Ritter.
Eine besonders faszinierende Beobachtung war, dass die "langsameren" Gehirne sowohl im lebenden Menschen als auch im Modell stärker synchronisiert, also zeitlich aufeinander abgestimmt waren. Diese stärkere Synchronisierung ermöglichte es Nervenschaltkreisen im Frontallappen, Entscheidungen länger hinauszuzögern als in Gehirnen, die weniger gut koordiniert waren.
Michael Schirner, Erstautor der Studie und Wissenschaftler in Ritters Labor, erklärt dazu: "Die Synchronisation, also das Bilden funktionaler Netzwerke im Gehirn, verändert die Eigenschaften des Arbeitsgedächtnisses und somit auch die Fähigkeit, längere Zeit ohne Entscheidung 'auszuhalten'."
In Alltagssituationen würde dies zum Beispiel bedeuten, dass Menschen mit langsameren Gehirnen schneller auf die Bremse treten könnten, wenn eine Ampel rot wird, aber mehr Zeit benötigen würden, um eine Route auf einer Straßenkarte zu erarbeiten. "Bei komplizierteren Aufgaben muss man Dinge im Arbeitsgedächtnis behalten, während man weitere Lösungen sucht, und diese dann miteinander in Einklang bringt. Dieses Sammeln von Beweisen für eine bestimmte Lösung dauert manchmal länger, führt dann aber auch zu besseren Ergebnissen", erklärt Schirner.
Möglicher Nutzen bei Demenz und Parkinson
Die Forschung basiert auf Daten von 650 Teilnehmern des Human Connectome Project, einer amerikanischen Initiative, die seit September 2010 die Nervenverbindungen im menschlichen Gehirn untersucht. Von den Teilnehmern war bekannt, wie sie in umfangreichen kognitiven Tests abgeschnitten und welchen IQ-Wert sie erreicht hatten. Durch den Vergleich dieser Leistungen und der IQ-Werte konnten die Forscherinnen und Forscher weitere Einblicke in die Verbindungen zwischen Intelligenz, Entscheidungsfindung und der Synchronisation von Gehirnaktivitäten gewinnen.
Die Herangehensweise der Forschungsgruppe könnte auch bei der Behandlung von Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson von großem Interesse sein. "Die verbesserte Simulationstechnologie kann auch der personalisierten Planung von chirurgischen oder medikamentösen Eingriffen oder der Gehirnstimulation zugute kommen", betont Petra Ritter. So könne der Arzt bereits durch eine auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Computersimulation abschätzen, welcher Eingriff oder welches Medikament am besten wirken könnte und die geringsten Nebenwirkungen hätte.
Links/Studien
Die Studie "Learning how network structure shapes decision-making for bio-inspired computing" ist im Journal Nature Communications erschienen
(rr)
Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge: Gehirndoping | 12. Mai 2022 | 12:00 Uhr