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Erster UN-Bericht über den Zustand migratorischer Spezies Warum der Klimawandel wandernde Tierarten besonders empfindlich trifft

20. Februar 2024, 14:08 Uhr

Fast alle wandernden Tierarten im Meer sind aktuell vom Aussterben bedroht. Das zeigt ein neuer UN-Bericht über den globalen Zustand dieser Tiere. Es ist der erste Bericht dieser Art. Auch der Klimawandel spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle – dabei könnten gerade diese Spezies einen Beitrag dazu leisten, CO2 aus der Atmosphäre zu binden.

Junge Frau schaut frontal in die Kamera.
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Ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen zeigt auf, dass es weltweit um "wandernde Tierarten" nicht gut steht. Viele Arten sind vom Aussterben bedroht. Wandernde Tierarten sind alle, die regelmäßig längere Strecken bewältigen und dabei mitunter Ländergrenzen überwinden. Dazu gehören Lachse und Meeresschildkröten, Störche und Seeschwalben, Gnus und Elefanten. Das Fazit des UN-Berichts: Um viele dieser Tierarten steht es schlimm, 97 Prozent der wandernden Tierarten im Meer sind beispielsweise vom Aussterben bedroht. Dazu gehören wandernde Haie, Rochen und Störe, deren Bestände seit den Siebzigern um 90 Prozent zurückgegangen sind. 

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Der Klimawandel ist laut dem Bericht zunächst nicht die schlimmste Bedrohung für diese Tiere. Lebensraumverluste, Überfischung und Umweltzerstörung betreffen zahlenmäßig die meisten Spezies. Aber: Forschende erwarten, dass der Klimawandel unsere Artenvielfalt in den kommenden Jahrzehnten noch erheblich stärker bedroht. "Wandernde Arten leben in verschiedenen Bereichen der Erde, das bedeutet, die Tiere sind auch gleich von mehreren Ökosystemen zugleich abhängig", sagt Marten Winter vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung iDiv. Der Klimawandel wirke global auf diverse Ökosysteme und treffe diese Arten deshalb besonders sensibel. 

Die Grafik zeigt, wie Überfischung, Klimawandel und Umweltverschmutzung wandernde Spezies bedrohen
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Können wandernde Tierarten dem Klimawandel "ausweichen"?

Theoretisch könnten diese Tiere dem Klimawandel auch einfach ausweichen – räumlich flexibel sind sie ja. "Das ist tatsächlich die Hoffnung", sagt Marten Winter. Bei Vögeln beispielsweise sehe man bereits, dass manche Arten mittlerweile in Deutschland überwintern, die früher noch in den Süden geflogen seien. Auch der UN-Bericht prognostiziert, dass viele Tiere ihre Wanderrouten in Richtung der Pole verschieben werden. Andere wiederum müssten ihre Routen verkürzen. "Allerdings sind viele Verhaltensmuster wandernder Tierarten im Zuge der Evolution entstanden. So schnell wie wir Menschen aktuell den Planeten verändern, können sich die Tiere oftmals nicht anpassen", prognostiziert Winter.

So schnell wie wir Menschen aktuell den Planeten verändern, können sich die Tiere ofmals nicht anpassen

Marten Winter, Biodiversitätsforscher am iDiv

Besonders heikel wird es für alle Tiere, die kalte Temperaturen bevorzugen: Wer jetzt schon in der Arktis und Antarktis lebt, kann seine Wanderrouten nicht mehr weiter verschieben. Das betrifft beispielsweise Rentiere: Aufgrund der steigenden Temperaturen fällt mittlerweile in der Arktis häufig Regen statt Schnee auf den kalten Boden. Der überfriert zu einer Eisschicht, die die Tiere nicht durchdringen können. Die Folge: Sie kommen nicht an die Flechten und Moose, von denen Rentiere sich im Winter ernähren und verhungern.

Rentierherde im Schnee
Rentiere im Schnee. Gibt es viel Regen statt Schnee, entsteht eine Eisschicht auf dem Boden, die die Tiere verhungern lässt. Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Starke Anpassung an eine ökologische Nische

Das Beispiel zeigt, wie detailliert manche Arten an eine ganz bestimmte ökologische Nische angepasst sind. Viele Tiere können Klimaveränderungen aber auch schlicht deshalb nicht gut ausweichen, weil wir Menschen Hindernisse gebaut haben. "Terrestrische Lebensräume sind häufig zerschnitten", kritisiert Marten Winter. Wer nicht fliegen könne, habe dann ein Problem.

Die höchste Quote an vom Aussterben bedrohten wandernden Arten lebt laut dem aktuellen UN-Bericht im Meer. 97 Prozent sind hier betroffen. "Mich persönlich überrascht das nicht. Auch die Meere sind ein Lebensraum, der extrem stark durch den Menschen überformt und genutzt wird", erklärt Biodiversitätsforscher Marten Winter: "Wenn ich beispielsweise einen Blick auf eine Karte mit den globalen Fischereirouten werfe – das ist schon sehr intensiv". Auch der aktuelle Bericht sieht Überfischung als wichtigsten Grund für das Artensterben im Meer. Besonders betroffen: Haie und Rochen. Die Tiere brauchen lange, um auszuwachsen und haben eine niedrige Reproduktionsrate. Die internationale Nachfrage nach ihrem Fleisch, Flossen, Kiemenplatten und Leberöl ist dagegen hoch.

Resilienz der Meere hat ihre Grenzen

Werden zu viele Tiere aus dem Meer gefischt, hat das Konsequenzen für das Ökosystem. "Die Resilienz von Meeren hat ihre Grenzen: Je nachdem, wie intensiv wir Menschen in diesen Lebensräumen agieren. Und aktuell entziehen wir diesen Lebensräumen viele Individuen vieler Arten, also viel Biomasse, gerade durch Überfischung", so Winter. Viele Ökosysteme seien aktuell bereits am Rande dessen, was sie leisten können, damit sie noch funktionieren.

Tiere nehmen – wie wir Menschen auch – Kohlenstoff in ihren Körper auf, als einer der Hauptbestandteile des Lebens auf der Erde. "Die schiere Menge der Meeresökosysteme mit ihren vielen Individuen beispielsweise speichert schon alleine aufgrund der Biomasse eine erhebliche Menge CO2", betont Marten Winter vom iDiv. Sterbe ein Tier, werde es häufig von anderen Arten gefressen, die wiederum die Nährstoffe aufnehmen. Dabei bleibt auch der Kohlenstoff im Kreislauf. Ein Beispiel, das Marten Winter zur Illustration empfiehlt: ein sogenannter Wal-Fall. Hier im Video zu sehen ist, wie andere Tierarten das Skelett des toten Wals geradezu abnagen.

Artensterben ist eine Gefahr für unser Klima

Marten Winter sagt: "Wenn wir Menschen dann aber beispielsweise Arten aus dem Meer entnehmen, ist dieser Kohlenstoffspeicher nicht mehr gegeben". Und es gibt noch eine zweite, wichtige Funktion wandernder Tierarten für die CO2-Bindung. Indem sie ihre Aufgabe in einem spezialisierten Ökosystem erfüllen, ermöglichen sie beispielsweise auch anderen Lebewesen, zu existieren. "Ein Beispiel sind Seegraswiesen: Die existieren auch, weil sie beispielsweise von wandernden Arten Nährstoffe in Form von Ausscheidungen bekommen. Oder die wandernden Arten, die am Seegras fressen, werden selbst gefressen." Seegraswiesen sind gewissermaßen ein CO2-Speicher mit Potenzial: Ein Hektar Seegraswiese speichert schätzungsweise so viel wie zehn Hektar Wald.

Wir wissen aus wissenschaftlicher Perspektive bereits recht konkret, wie wir die Arten schützen können

Marten Winter, Biodiversitätsforscher am iDiv

Zusammenfassend kann man sagen: Gesunde Ökosysteme können besonders viel CO2 in ihre Nährstoffkreisläufe aufnehmen. Wenn mehr wandernde Tierarten stark dezimiert werden oder aussterben, schwächt das auch die Ökosysteme. Der Bericht der UN zeigt erstmals, wie schlecht es aktuell um wandernde Tierarten steht. "Eigentlich ist die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet schon recht weit, wir wissen recht konkret, wie wir die Arten schützen können", sagt Marten Winter. Die Umsetzung dieser Maßnahmen sei allerdings gerade bei wandernden Arten ein komplexer politischer Prozess: "Regierungen und ihre Institutionen müssen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten."

Links/Studien

Den UN-Bericht "State of the World's Migratory Species" können Sie hier herunterladen.

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