Digitale Beratung Weniger Behandlungsfehler durch Ärzte-Netzwerke
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25. Juli 2023, 06:58 Uhr
Wir vertrauen unseren Ärztinnen und Ärzten unser Leben an. Doch traurige und beängstigende Tatsache ist, dass auch Ärzte falsche Entscheidungen treffen können. Studien zeigen, dass 10 bis 15 Prozent aller klinischen Entscheidungen zu Diagnose und Behandlung von Patientinnen und Patienten falsch sind. Eine US-Studie zeigt nun, dass sich Behandlungsfehler durch den Austausch über Ärzte-Netzwerke verringern lassen.
Es ist eine einfache Lösung für ein folgenschweres Problem, bilanziert Damon Centola von der Annenberg School for Communication der University of Pennsylvania. Gemeinsam mit seinem Team hat er einen einfachen und effektiven Weg gefunden, wie bei der Diagnose und Behandlung von Patientinnen und Patienten Fehler reduziert werden können - und zwar mithilfe strukturierter Netzwerke, die Behandelnde mit anderen Ärztinnen und Ärzten vernetzt und deren Einschätzung liefert. Das ist das Ergebnis einer mehrjährigen Studie mit fast 3.000 Medizinerinnen und Medizinern in den Vereinigten Staaten.
Doppelte Genauigkeit dank anonymer Empfehlungen
Die Analyse des Forschungsteams zeigte, dass die Behandelnden, denen auf anonymer Basis die diagnostischen Entscheidungen von Kolleginnen und Kollegen zu einer Fallstudie gezeigt wurden, im Durchschnitt doppelt so genau in ihrer Diagnose und ihren Behandlungsempfehlungen waren als Ärztinnen und Ärzte, die ihre Entscheidungen allein trafen. Oder kurz gesagt: Medizinerinnen und Mediziner machen weniger Fehler, wenn sie ein fachliches Netzwerk zur Unterstützung haben.
Allerdings, so nahm das Forschungsteam an, könnten solche Netzwerke zum Informationsaustausch den Nachteil haben, dass es zwar bei einigen Teilnehmenden zu Verbesserungen kommen könnte, bei denen jedoch, die besonders gut in ihrem Fach sind, zu schlechteren Entscheidungen. Doch das sei nicht der Fall gewesen. Es sei ausschließlich eine Verbesserung zu beobachten gewesen.
Die schlechtesten Ärzte werden besser, während die besten nicht schlechter werden.
Das Forschungsteam rät dazu, dass die klinische Entscheidungsfindung mehr und mehr als Teamarbeit betrachtet werden sollte, an der auch der Patient beteiligt werden müsse. Es sei immer besser, wenn für die Entscheidungsfindung weitere Ärztinnen und Ärzte zur Beratung zur Verfügung stünden.
Die Weisheit der Vielen per App
Für ihre Untersuchung haben die Forschenden eine spezielle App entwickelt. Dort wurden Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, einen klinischen Fall über jeweils drei Runden zu bewerten. Dabei sollten sie zunächst das diagnostische Risiko einschätzen - etwa die Wahrscheinlichkeit eines Patienten mit Brustschmerzen für einen Herzinfarkt in den kommenden Tagen - und anschließend unter mehreren Optionen die korrekte Behandlungsempfehlung herauszusuchen.
In der ersten Runde waren alle auf sich gestellt. Ab der zweiten Runde wurde ein Teil der Teilnehmenden dann mit anderen vernetzt. Das heißt, sie konnten die durchschnittlichen Risikoschätzungen sehen, die ihre Kolleginnen und Kollegen im sozialen Netzwerk während der vorherigen Runde vorgenommen hatten. Alle konnten ihre Antworten von Runde zu Runde überarbeiten.
Vor allem die Steigerung bei den anfänglich schlechtesten Ärztinnen und Ärzten betonen die Forschenden: Bei denen konnte der Anteil derjenigen, die letztendlich die richtige Empfehlung gegeben hatten, im Vergleich zur Kontrollgruppe um 15 Prozent gesteigert werden. "Wir können Ärztenetzwerke nutzen, um ihre Leistung zu verbessern", bilanziert Centola. "Ärzte reden miteinander, das wissen wir schon lange. Die eigentliche Entdeckung besteht darin, dass wir die Netzwerke zum Informationsaustausch zwischen Ärzten so strukturieren können, dass ihre klinische Intelligenz erheblich gesteigert wird."
Weniger Hierarchie - bessere Entscheidungen
Das Forschungsteam ist davon überzeugt, dass das digitale Beratungs-Netzwerk auch einen Vorteil gegenüber persönlichen Konsultationen in Kliniken habe. Die seien nämlich in der Regel hierarchisch aufgebaut, mit erfahrenen Ärzten an der Spitze und jüngeren Ärzten, die von ihnen lernen sollen. Wissenschaftler Centola spricht von "Top-Down-Netzwerken" und ergänzt: "Auf diese Weise schleichen sich hartnäckige Vorurteile in die medizinische Gemeinschaft ein."
Deshalb hatte das Forschungsteam sich auch bemüht, für die Studie möglichst Ärztinnen und Ärzte unterschiedlichen Alters, verschiedener Fachrichtungen, Fachkenntnisse und geografischer Standorte zu rekrutieren. Das Ergebnis war ein egalitäres Netzwerk, bei dem Barrieren wie Status und Dienstalter keine Rolle spielten. "Egalitäre Online-Netzwerke erhöhen die Vielfalt der Stimmen, die klinische Entscheidungen beeinflussen", sagt Centola. Und tatsächlich habe die Untersuchung gezeigt, dass sich die Entscheidungsfindung in einer Vielzahl von Fachgebieten auf ganzer Linie verbessere.
Die Netzwerke müssten auch nicht riesig sein, fasst das Forschungsteam seine Erkenntnisse zusammen. Ideal seien genau 40 Mitglieder. Diese Personenzahl verschaffe den steilen Sprung "in der kollektiven Intelligenz der Ärzte", so der Forscher. Bei mehr Menschen sei der Effekt nur noch minimal.
Die Forschenden wollen nun in die Praxis: Sie arbeiten bereits daran, ihre Netzwerktechnologie in Arztpraxen zu implementieren. Dabei haben sie im eigenen Haus begonnen, das Krankenhaus der University of Pennsylvania hat bereits die Pilotphase dieses Programms finanziert, die noch in diesem Jahr starten soll.
Links zur Studie
Centola, Damon et. al.: Experimental Evidence for Structured Information-Sharing Networks Reducing Medical Errors. In: Proceedings of the National Academy of Sciences.
(kie)
Dieses Thema im Programm: Das Erste | BRISANT | 25. Januar 2023 | 17:15 Uhr