Teasergrafik Altpapier vom 18. September 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 18. September 2020 Journalismus ist kein Rhetorikseminar

18. September 2020, 12:25 Uhr

Ist das "Pro und Contra"-Genre noch zeitgemäß? Bräuchten wir für eine "zweite Welle" ein anderes Storytelling? Kann die Förderung journalistischer Innovationen durch die öffentliche Hand in Dänemark ein Vorbild für Deutschland sein? Ein Altpapier von René Martens.

Meinungen liegen nicht einfach so herum

Silke Hasselmanns "Brandstifter gehören nicht auch noch belohnt"-Beitrag im DLF (Altpapier von Montag) ist weiterhin Ausgangspunkt medienjournalistischer Beiträge. Christoph Zensen kritisiert bei piqd.de die Reaktion der Deutschlandfunk-Chefredakteurin Birgit Wentzien (Altpapier) auf die Kritik an dem menschenunfreundlichen Kommentar zu Moria:

"Der Deutschlandfunk solle – laut Wentzien – ein Spiegel der Gesellschaft sein und alle existierenden Meinungen und Kommentierungen abbilden. Kann sie das ernst meinen? Die Welt und die Gesellschaft in allen existierenden Meinungen spiegeln? Etwa auch die dümmsten Stammtischparolen?"

Abgesehen davon, dass Hasselmanns Kommentar "die Logik der deutschen Partisanenbekämpfung im Zweiten Weltkrieg" (Patrick Bahners) in Anschlag bringt und der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter anderem dafür gegründet wurde, damit solche "Logiken" nie wieder Verbreitung finden: Wentzien erweckt den Eindruck, als ginge sie davon aus, "Meinungen" lägen einfach so herum in der Gesellschaft, und die Medien müssten sie bloß aufsammeln bzw. abbilden. Als wären es nicht Medien, die Meinungen herstellen oder sie zumindest in ihrer Wirkung verstärken.

Dass Deutschlandfunk Kultur Hasselmanns Kommentar in der Rubrik "Pro und Contra Flüchtlingsaufnahme" veröffentlichte, nimmt Diemut Roether im "Tagebuch" der neuen Ausgabe von epd medien zum Anlass für einige generelle Überlegungen. "Das Problem an Pro-und-Contra-Formaten", so Roether, sei:

"Es sind Gedankenspielereien, Übungen aus dem Rhetorikseminar, wo man sich mit den Argumenten der Gegenseite vertraut macht, um sie besser entkräften zu können. Solche Gedankenspiele sind legitim, wenn es um Dinge geht wie Fassadenbegrünung oder die Gestaltung eines Spielplatzes. Aber schon bei der Frage 'Pro und Contra Fahrradwege' wird es schwierig, weil es hier um Menschenleben geht. Und kann man über die Frage, ob man Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern hausen lässt, ernsthaft in einem 'Pro und Contra' diskutieren?

Samira El Ouassil fiel im Juli 2019 zu Pro und Contra die hübsche Formulierung "formaljournalistischer Kitsch" ein (Altpapier). Sollten die "Tagesthemen" ihre blöde Idee in die Tat umsetzen, bald irgendetwas mit Pro und Contra zu  veranstalten, wird die Debatte wohl noch an Fahrt aufnehmen.

Roether erinnert auch daran, dass die FAS einst in einer inzwischen leider abgeschafften "Pro- und Contra"-Kolumne "die Sehnsucht des deutschen Journalismus nach eindeutigen Meinungen im Feuilleton (…) sehr verspielt ad absurdum" führte - unter anderem mit Fragen wie "Soll Wolfsburg eine größere Rolle spielen?".

Eine Sammlung dieser Kolumnen ist 2004 übrigens als Buch erschienen: "Der kleine Meinungsführer: 60mal Pro und Contra zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben", herausgegeben vom langjährigen, aber seit kurzem ehemaligen FAS-Feuilletonchef Claudius Seidl.

Trolle gab es schon vor Facebook

In der neuen Ausgabe des Magazins Cargo rezensiert Johannes Paßmann das Buch "Sozialmaschine Facebook. Dialog über das politisch Unverbindliche" von Roberto Simanowski und Ramón Reichert. Darauf einzugehen, wenn ein Medienwissenschaftler ein Buch zweier anderer Medienwissenschaftlers rezensiert, gehört nicht unbedingt zum klassischen Tagesgeschäft des Altpapiers, aber da es in Paßmanns Artikel unter anderem um Fragen geht, die zumindest meiner (natürlich voreingenommenen) Wahrnehmung nach in dieser Kolumne zumindest touchiert werden, bietet es sich an, eine Ausnahme zu machen. Paßmann schreibt:

"Die Autoren denken die Praktiken, an denen Facebook beteiligt ist, stets vom technischen Medium her und fragen dann, welche Folgen dies in der Gesellschaft hat. Deshalb können sie kaum anders, als die Dynamiken der verschiedenen Populismen und Rassismen auszulassen, denn die lassen sich nicht auf Facebook und dessen Agency allein reduzieren: Sie sind vor allem auch Transformationen älterer Medienpraktiken, die auf Facebook weder ganz neu waren, noch ganz die alten blieben, weil ihre Reproduktion im neuen Medium eine neue Dynamik entfaltete. Whitney Phillips zeigt etwa in ihrer Ethnografie 'This Is Why We Can’t Have Nice Things', wie die Trolling-Praktiken der Anonymous-Bewegung auf Facebook vor allem auch Wurzeln im Fernseh-Sensationalismus von Fox News haben.

Während Trolling-Praktiken in Deutschland - nicht die der Anonymous-Bewegung (die hier ja eine vergleichsweise geringe Rolle spielt), sondern eher in einem allgemeinen Sinne - ja vor allem auch Wurzeln im Journalismus der Bild-Zeitung haben.

Was Paßmann darüber hinaus schreibt, könnte auch als Futter in der Debatte dienen, die DLF-Chefredakteurin Wentzien mit ihren bestenfalls naiven Aussagen ausgelöst hat:

"Ähnlich wie auch Andrew Chadwick die immer schon konstitutive Verflechtung alter Medienorganisationen (Fernsehen, Zeitung etc.) und neuer digitaler Phänomene aufzeigt, demonstriert Phillips, wie die Anonymous-Bewegung vor allem deshalb ihre Identität und Popularität gewann, weil Fox über jede ihrer Normverletzungen berichtet hat. Anonymous hat sich deshalb in weiten Teilen durch eine Spiegelung der Wünsche ihrer Beobachter konstituiert – also in dem Fall die Sensationsgeilheit des Fernsehsenders, dessen Erwartungen sie immer wieder gespiegelt und übertroffen haben. Facebook spielte dabei ohne Zweifel eine große Rolle. Solche Dynamiken lassen sich aber weder nur mit Facebook erklären noch nur durch den kulturhistorischen Nachweis, dass es all das immer schon irgendwie gab. Vielmehr funktioniert dies nur, indem man sie medientheoretisch ernst nimmt: Neue Medienpraktiken sind immer nur als Übersetzungen älterer Medienpraktiken in einen neuen Kontext zu verstehen – in dem sie dann eine neue Identität gewinnen."

"Nicht jeder Artikel braucht einen 'Coronadreh'"

Die häufig aufgegriffene Studie "Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate 'ARD Extra - Die Coronalage' und 'ZDF Spezial'" (Altpapier) findet nun (mit eher positivem Tenor) Erwähnung in einem taz-Artikel, in dem sich Marlene Knobloch Gedanken darüber macht, was sich aus der bisherigen Berichterstattung über die Pandemie lernen ließe:

"Wie ließe sich, mit Blick auf eine 'zweite Welle', die Geschichte der Pandemie narrativ anders gestalten? (…) (D)as Storytelling könnte besser sein. Erstens: Nicht jeder Artikel braucht einen 'Coronadreh'. Porträts und Reportagen zu anderen Themen funktionieren gut ohne den Hinweis auf die schreckliche Zeit, in der wir aktuell leben (…) Mit dem pflichtbewussten Einflechten der Maskenpflicht, dem Abstand, den Digitalkonferenzen, den Rückverweisen auf den Lockdown gehört das C-Wort schleichend zum Leben wie die Bauarbeiten vor dem Fenster – es nervt, es ist laut, man ignoriert es."

So weit gehe ich mit. Knobloch kritisiert des weiteren:

"Sind Corona-News immer Titelgeschichten? Wie viele Masken müssen auf eine Seite? Welcher Aspekt muss in die Überschrift? Dass Norwegen Deutschland als Risikogebiet einstuft, sagt natürlich etwas über die Dramatik der Fallzahlen, es sagt aber auch, dass Norwegen eventuell eine sehr vorsichtige Politik verfolgt und schlicht weniger Fallzahlen hat."

Worauf sich die Kritik bezieht? Unter anderem wohl auf tagesschau.de und auf rtl.de. Ich kann die Corona-Maßnahmen in Norwegen nicht beurteilen, aber die Position, die in der beschriebenen Risikogebietseinstufung zum Ausdruck kommt, finde ich so bemerkenswert, dass sie Schlagzeilen rechtfertigt - weil es ja hilfreich ist zu wissen, dass andere Länder ein etwas anderes Bild von der Corona-Situation in Deutschland haben als das, welches hiesige Medien zu verbreiten pflegen. 

Die Erde ist keine Scheibe

Das Wisssenschaftsmagazin Spektrum hat mit Dirk Steffens unter anderem über Fehler in der Wissenschaftsberichterstattung gesprochen (siehe Altpapier):

"Was die Medien falsch gemacht haben, kann man gut an vergangenen Diskussionen um die Klimakrise aufzeigen. Ich habe selbst bis vor wenigen Jahren als Gast in Talkshows erlebt, dass Journalistinnen und Journalisten von ‚abweichenden wissenschaftlichen Meinungen' zum Thema menschengemachter Klimawandel sprachen. Wie im Politikjournalismus glaubte man, das gesamte Spektrum abbilden zu müssen und die Wahrheit irgendwo in der Mitte zu finden. Aber für die Wissenschaft gilt: Die Wahrheit liegt allein in der Wahrheit. Es kommt nur Unsinn dabei heraus, wenn man die Mitte sucht zwischen einer kugelförmigen und einer scheibenförmigen Erde. Zu glauben, man müsse auch abseitigen Ansichten eine Plattform bieten, ist ein journalistischer Kernfehler. Das schafft den Eindruck, dass der Unsinn eine Berechtigung hat."

Wobei sich natürlich unter anderem die Frage stellt, ob der Politikjournalismus nicht auch etwas aus den Fehlern lernen sollte, die in der Berichterstattung über die Klimakrise bisher gemacht worden sind. Auch im Politikjournalismus liegt die Wahrheit ja nie "in der Mitte". Zu den Folgen jener Fehler, zu denen die Klimaberichterstattung zumindest einen kleinen Teil beigetragen hat, zitiert John Schwartz im "Climate Fwd:"-Newsletter der New York Times Camilo Mora, "associate professor in the department of geography and environment at the University of Hawaii at Manoa":

"Somebody asked me if there is a good ending to the horror movie. The good ending was 20 years ago. Now, the choices for the ending are 'bad' and 'terrible'.”

Samstag ist Dokumentarfilmtag

Aktualisiert und weitergedreht hat Eva-Maria Magel für die FAZ (55 Cent bei Blendle) ihre Berichterstattung über die aktuellen Aktionen der AG dok (Altpapier von Donnerstag). Neben der Protestaktion vor dem HR-Gebäude in Frankfurt findet auch "Let’s Dok" Erwähnung "der erste bundesweite Dokumentarfilmtag", der am morgigen Samstag anlässlich der 40-jährigen Jubiläums der AG dok stattfindet und ein bisschen dazu beitragen soll, dem Genre Dokumentarfilm die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zur Kritik der Dokumentarfilmmacher am HR führt Magel weiter aus:

"Dem Sender fehle der Sinn für individuelle Handschriften und die Themen hessischer Filmemacher, die oft auf internationalen Festivals und in Wettbewerben reüssierten."

Damit hat die Autorin HR-Programmchefin Gabriele Holzner konfrontiert, die recht putzig antwortete. Magel schreibt dazu:

"Der HR teilte auf Anfrage mit, er sende und produziere 'hauptsächlich populäre regionale Doku-Reihen' wie 'Herrliches Hessen' und beteilige sich an ein bis zwei klassischen Dokumentarfilmen im Jahr."

Ein bis zwei im Jahr? Potztausend! Und wie herrlich der Hessische Rundfunk Hessen findet, kann man einer instruktiven Liste entnehmen, die die Medienkorrespondenz 2017 zusammengestellt hat.

Von Dänemark lernen?

Die Landesanstalt für Medien in NRW hat ein wissenschaftliches Gutachten veröffentlicht, das sich damit befasst, wie mit öffentlichen Geldern Innovationsprojekte im Journalismus unterstützt werden können. In einem Statement für den DJV Thüringen sagt Christopher Buschow, der die Studie mit Christian-Mathias Wellbrock erstellt hat:

"Wie genau (…) Journalismus durch die öffentliche Hand gestärkt werden kann, ist aktuell Gegenstand zahlreicher Diskussionen auf Landes- und Bundesebene. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Förderung privatwirtschaftlich organisierter Presseunternehmen in Deutschland – im Gegensatz zu unseren europäischen Nachbarn – keine Tradition hat."

Unter anderem diese, wenn man so will: Tradition beschreiben Buschow und Wellbrock:

"Beachtenswert sind insbesondere die dänische und die holländische Projektförderung (…) In Dänemark werden seit 2014 in zwei Förderlinien sowohl die Innovationsentwicklung durch bestehende Medienhäuser ('Udviklingstilskud', z. B. die Weiterentwicklung, Modernisierung, Umstrukturierung von Print zu Online) als auch die vormarktliche Erprobung journalistischer Gründungsideen (…) unterstützt (…) Die Niederlande stellen mit dem Dutch Journalism Fund (…) bereits seit dem Jahr 2010 Mittel zur Anschubfinanzierung von innovativen Projekten im Journalismus bereit (…) Heute wird in den Niederlanden auch der SVDJ Accelerator betrieben, ein straffes, siebenmonatiges Förderprogramm, in welchem innovative Medienprojekte gecoacht und finanziell unterstützt werden."


Altpapierkorb (Ernst Elitz, die angebliche Kneipentour einer angeblichen Superspreaderin, Max ist wieder da)

+++ Was macht eigentlich Ernst Elitz, der vielseitigste Medien-Veteran wo gibt? Der 79-jährige verjüngt das Kuratorium der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH Berlin. Elitz folge dort "als Vorsitzender auf Rudi Sölch, 88", berichtet die Medienkorrespondenz. Die nahm Elitz’ neuen Job als Anlass, um zu fragen, wer denn eigentlich den Posten als Ombudsmann bei der Bild-Zeitung, den Elitz Anfang des Jahres abgegeben hat, übernommen hat oder übernehmen wird. Antwort des Verlages: Bisher niemand. Und die Reaktion erweckt auch nicht zwingend den Eindruck, dass der Posten wieder besetzt wird.

+++ Die derzeit in vielen Medien attackierte "Superspreaderin" aus Garmisch scheint gar keine zu sein. Jedenfalls "ist bislang keine Infektion in Garmisch-Partenkirchen nachweislich auf die Frau zurückzuführen", schreiben Patrick Gensing und Andrej Reisin ("Faktenfinder"). "Fragwürdig erscheint in diesem Zusammenhang das Verhalten des Landrats und einiger Medien, die die Verantwortung für den Anstieg der Zahlen eines ganzen Landkreises ohne Beweise dem Verhalten einer jungen Frau anlasten (…) Bekannt wurde außerdem, dass die Frau am Dienstagabend keineswegs auf 'Kneipentour' war, wie Behörden, Politiker und Medien bis heute schreiben, sondern in einem Lokal."

+++ Bald wieder am Kiosk: die 2008 eingestellte Zeitschrift Max. Das berichtet W&V. Chefredakteur wird demnach Andreas Wrede, der auch bei der Gründung vor 30 Jahre an der Spitze gestanden hatte. Das revitalisierte Magazin soll viermal im Jahr erscheinen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende.

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