Teasergrafik Altpapier vom 17. Februar 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 17. Februar 2021 Bild dir deine Meinung

17. Februar 2021, 11:26 Uhr

Die "Tagesthemen" setzen Tiefpunkte im Meinungsjournalismus. Die Zivilgesellschaft ist auf Zack. Die schulöffnungs-lobbyistische Gruppe "Familien in der Krise" ist in den Medien überpräsent. Die SZ bespricht ein Buch gleich zweimal. Ein Altpapier von René Martens.

Die Schablonen der Kommentatoren

Die Beiträge in der "Meinungs"-Rubrik der "Tagesthemen" seien "nicht der stärkste Programmpunkt in der Sendung", schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel gerade aus aktuellem Anlass. "Zu oft im Sowohl-als-auch-Modus gehalten, gelingt den beauftragten Journalistinnen und Journalisten nur das zarteste aller Meinungsrülpserchen."

Da ist sicher was dran. Am gestrigen Abend war in der "Meinungs"-Rubrik, die bis vor kurzem noch "Kommentar" hieß, allerdings ein Beitrag zu hören, der in eine andere Kategorie fällt: viel Meinung, wenig Ahnung. Da erzählte Sabina Fritz vom SWR:

"Niemand kann mir erklären, warum es gefährlicher ist, eine Bluse zu kaufen als einen Blumenkohl."

Witzig sollte es auch dann noch sein, jedenfalls klagte Fritz über "Hilfspakete, die an vollgestopfte Kleiderschränke erinnern: gut gefüllt, aber niemand findet etwas". Nicht zu vergessen dieser Schlenker, auf den ich bei Twitter schon eingegangen bin.

Eigentlicher Anlass des zitierten Huber-Textes ist die Premiere eines Pro-und-Contra-Modells am Montagabend. Es ging um das Thema Schulöffnung, und auch hier war das für den "Tagesthemen"-Kommentar recht typische Flair des Karo-einfach-Journalismus präsent. Die Pro-Schulöfffnungs-Vertreterin Kristin Schwietzer sagte:

"Lesen und Schreiben, das muss von Anfang an sitzen. Und viele Schüler haben seit Monaten keine Chance, das zu lernen. Wir alle können es uns nicht leisten, eine Generation zu verlieren."

Mal abgesehen davon, wie man angesichts dessen, was wir beispielsweise seit Ende Januar aus Israel, seit Anfang Februar aus Italien und seit dem Sendetag von "Pro und Contra" aus Schweden wissen, mit einer Pro-Schulöffnungs-Position in die Bütt gehen kann, ließe sich auch fragen:

Eine "Generation"? Hallo? Wird die Rubrik "Meinung" bald in "Bild dir deine Meinung" umbenannt?

Um ein Zitat aus einem Johannes-Schneider-Textes für Zeit Online aus dem Zusammenhang zu reißen: Schwietzer vertritt hier

"eine erratische Politik, die eine prognostizierbare Zukunft aufgrund von gegenwärtiger Machbarkeit ausblendet".

Schwietzer wendet sich zwar an die Politik, wenn sie zum Beispiel "Die Politik muss liefern" sagt. Aber "muss liefern" ist ja auch Politiker-Jargon - wie "Wir alle können es uns nicht leisten, eine Generation zu verlieren". Und vielleicht ist das ja ein besonders großen Problem bei jenen, die Meinung machen in den "Tagesthemen": Dass sie auf Sprachschablonen aus Politik und Wirtschaft setzen, die im Journalismus eigentlich nichts zu suchen haben sollten. Um in diesem Zusammenhang noch einmal auf die schon zitierte Sabrina Fritz zurückzukommen: In einem ganz anderen Kontext kommentierte sie im September 2020:

"Deutschland muss Mobilitätsweltmeister werden (…). Ob Kohle oder Stahl: Wir haben Erfahrung, solche Veränderungen zu steuern. Darum braucht die Autoindustrie jetzt die volle Unterstützung aus Berlin."

Die Gegenposition zu Schwietzer formulierte am Montag übrigens Tom Schneider vom HR, er sagt, er finde Schulöffnungen "fahrlässig", spricht davon, dass es "längst überholt" sei, "dass Kinder und Jugendliche keine Infektionstreiber seien" und erwähnt in dem Zusammenhang aktuelle Erhebungen.

Dirk von Gehlen kommt zu dem Schluss, das erste "Pro und Contra" in den "Tagesthemen" lege "erstaunlich offen, wer wirklich argumentiert und wer nur allgemein ein paar Floskeln zu einem Gefühl zusammenfügt".

Ergänzung für die bestenfalls sporadischen Rezipienten der Kommentare in den "Tagesthemen": Schwietzer, die bei unserem MDR beheimatet ist, ist eine Art Star in diesem Genre, 2020 sprach sie neun Kommentare und war damit eine der drei am häufigsten in den Sendung auftretenden Meinungs-Performer. Und 2019 versuchte sie in den "Tagesthemen" (Timecode: 8:35) im Rahmen eines großen medialen Kevin-Kühnert-Fehlinterpretations-Spektakels sogar "die Bild-Zeitung zu toppen" (Altpapier).

Ein Lob für die "schweigende Mehrheit"

Der aktuellen Pandemie-Debattenlage etwas Positives abgewinnen kann Moritz Wichmann in einem ND-Kommentar. Wie kommt’s? Es ist "die linke und liberale Zivilgesellschaft in Deutschland", die Wichmann lobt, weil sie Christian Drosten und Karl Lauterbach bei Angriffen von Leerdenkern "schnell zur Hilfe" komme. Der ND-Mann meint:

"Es ist gut, dass die Zivilgesellschaft im Netz zunehmend aktiv wird und dass die sonst schweigende Mehrheit sich äußert, wenn nötig. Anders als es leider viele Medien, Boulevard-Zeitungen und FDP-Politiker suggerieren: Die Zustimmung zu den Corona-Maßnahmen ist laut Umfragen weiterhin hoch. 72 Prozent tragen laut aktueller Forsa-Umfrage die Verlängerung des Shutdowns bis zum 7. März mit."

Dass zu jenen, die eine Minderheit groß machen, auch die "Ich will wieder Blusen kaufen"-Kommentatorin aus den "Tagesthemen" gehört, kann man in diesem Kontext natürlich auch noch einmal betonen.

Überrepräsentierte Öffnungs-Lobbyisten

Mit einem anderen Missverhältnis in der Berichterstattung befasst sich Annette Bulut bei Übermedien. "Lobby für Schul- und Kitaöffnungen" lautet die die Dachzeile, und es geht dabei um eine Gruppierung namens "Familien in der Krise" (FidK). Es "ist eigentlich eine kleine Gruppe. Die Initiative hat rund 250 Mitglieder", schreibt Bulut. Aber:

"In den Medien ist sie ein Goliath."

Was auch daran liegt, dass sie "ungewöhnlich gute Verbindungen zur Politik" hat, etwa zu Ex-Ministerin Kristina Schröder. Die Penetranz, mit der Journalisten die nicht zwingend wissenschaftsnahen Positionen des Grüppchens verbreiten, trägt auch dazu bei, dass einem bei Twitter hin und wieder der Hashtag #NoFidK begegnet.

"Initiativen anderer Eltern scheinen derweil bei den vielen 'Familien in der Krise'-Beiträgen unterzugehen. Beispielsweise die Elternorganisation 'Sichere Bildung Jetzt' (SBJ)",

schreibt Bulut weiter. Der SBJ, so deren Sprecher Bruno Capra, sei "bis jetzt der Zugang zu den größeren Medien verwehrt" geblieben. Sein Vorwurf:

"Relativierern, Verharmlosern bis hin zu Leugnern wird immer wieder eine Bühne geboten. Wir, und wir meinen damit alle, die für eine langfristige, bedachte und wissenschaftlich basierte Strategie im Umgang mit dem Virus plädieren, bleiben außen vor."

Das Phänomen der False Balance kennen wir ja aus vielen verschiedenen Kontexten, hier scheinen wir es aber mit einer besonders gravierenden Ausprägung zu tun zu haben.

Öffentlich-rechtliche Jingle-Manie

In den vergangenen zweieinhalb Wochen haben wir an dieser Stelle ausführlich über die drohende weitere Verflachung des öffentlich-rechtlichen Hörfunks am Beispiel des WDR gesprochen (etwa Anfang des Monats und gestern)

Der ausgleichenden Gerechtigkeit wegen könnte man aber auch mal ein Programm einer anderen Landesrundfunkanstalt genauer in den Blick nehmen. Das bietet sich mit einem Verweis auf die Medienkorrespondenz an. Die hat die Wortanteilproduktion in einer Vormittagsprogrammstunde bei SWR 1 Rheinland-Pfalz protokolliert, um einen Eindruck von der dort herrschenden "Jingle-Manie" zu vermitteln. Anlass der Veröffentlichung war der World Radio Day am vergangenen Samstag.

Das Ergebnis der Auswertung laut MK: In den 18 Minuten dieser Programmstunde, in denen Zeit für Wörter bleibt, fällt 28-mal der Begriff "SWR 1" und 17-mal der Begriff "SWR 1 Rheinland-Pfalz" Ergänzt sei noch: Gleich viermal kommt in Sachen Eigenwerbung auch noch der Claim "Eins gehört gehört" zum Einsatz. Man kann das alles mit einer leicht gereiztem Erheiterung zur Kenntnis nehmen, aber auch pathetisch fragen: Was für ein Menschenbild haben Menschen, die so ein Programm verantworten?

Das doppelt besprochene Buch

Dass das öffentlich-rechtliche Radio auch mal eine ganz andere Funktion hatte - daran, dies zu betonen, liegt offenbar der SZ sehr viel. Im Dezember hat Tanjev Schultz dort "Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik" besprochen, laut Vorspann "ein fulminantes Werk über Medien und Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik", und an diesem Dienstag ist nun eine Willi-Winkler-Rezension dieses "großen Buchs über die deutschen Radio- und Zeitschriftenintellektuellen der Fünfziger und Sechziger" erschienen", das der 2019 verstorbene Historiker Schildt hinterlassen hat.

Gut, wir wollten wir ja über Radio reden. Schultz schrieb neulich:

"Neben Zeitungen und Zeitschriften entwickelte sich das Radio in der frühen Phase der Bundesrepublik zum Leitmedium des intellektuellen Gesprächs. Kaum zu überschätzen ist dabei der Einfluss, den der Schriftsteller Alfred Andersch hatte."

Und Winkler schreibt jetzt:

"Der große Mäzen der Intellektuellen war der Rundfunk. In Sendungen, die Abend- oder Nachtstudio hießen, fanden 'alle wesentlichen intellektuellen Diskurse zur bildungsbürgerlichen Selbstverständigung ihren Ausdruck' (…) Alfred Andersch, Autor und Redakteur gleich bei mehreren Anstalten, konnte den Hessischen Rundfunk dazu bewegen, ihn beim Kauf eines Eigenheims mit einem Darlehen von 10 000 Mark zu unterstützen."

Doppelt hält besser? Ironischerweise in der SZ hatte die Wagenbach-Verlegerin Susanne Schüssler im Zuge der Debatte über den Wegfall von Rezensionen bei WDR 3 (siehe erneut dieses Altpapier von Anfang Februar) gesagt:

"In Deutschland (…) wird der Raum, der der Literaturkritik eingeräumt wird, kleiner und kleiner - ob im Fernsehen, Hörfunk oder in den Zeitungen, es scheint vor allem die klassische Rezension zu sein, die dem Mix aus Geldnot, Quotendruck und Mutlosigkeit zum Opfer fällt."

Aber wenigstens werden die richtig guten Bücher gleich zweimal rezensiert.


Altpapierkorb (der mangelnde Wille beim Kampf gegen Hassrede, Landesmedienanstalten gegen Desinformation, Saarland und Gomorrha)

+++ Gewissermaßen als Ergänzung zur aktuellen Heft-Titelstory "Feindbild Frau" (€) kritisiert Eva Horn in einem Kommentar für den Spiegel den immer noch mangelnden Willen der Behörden, in ausreichendem Maße gegen digitaler Hassrede vorzugehen. Horn schreibt: "Ich kenne keine Frau, die sich in den sozialen Netzwerken zu Wort meldet, die noch nie beleidigt oder bedroht oder mit einem ungewollten Penisbild bedacht wurde. Einige Hassmailer brauchen gar keinen inhaltlichen Anlass, es scheint für sie schon zu reichen, dass man überhaupt existiert. Seit Jahren weisen Feministinnen darauf hin, wie eng Frauenhass und Rechtsextremismus miteinander verwoben sind. Doch die Behörden unterschätzen das Problem immer noch." Und das, obwohl es mittlerweile "nicht mehr nur Aktivistinnen oder Politikerinnen (trifft), sondern auch Wissenschaftler, Professorinnen oder Virologen."

+++ Die noch rund einen Monat lang als Direktorin der Medienanstalt Berlin-Brandenburg amtierende Anja Zimmer begründet auf der FAZ-Medienseite (€), warum es aus ihrer Sicht gut ist, dass die Landesmedienanstalten sich neuerdings um "die Einhaltung journalistischer Sorgfaltspflichten" im Netz kümmern (siehe Altpapier von Dienstag): "Wird das einen Kahlschlag zur Folge haben? Natürlich nicht. Zunächst hat auch hier die Selbstregulierung Vorrang: Online-Medien können sich einer anerkannten Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle anschließen (…) Es geht nicht darum, kleine Ungenauigkeiten zu sanktionieren oder gar Meinungen zu zensieren. Auch für Online-Medien besteht keine Pflicht zur Neutralität. Im Zweifel hat die Presse- und Meinungsfreiheit immer Vorrang. Wenn aber der Dialog durch gezielte Desinformation ersetzt wird und sämtliche Regeln des journalistischen Handwerks über Bord geworfen werden, wenn auch Selbstregulierung versagt, dann kommt der Moment, an dem Rechtspflichten durchgesetzt werden, mittels förmlicher Beanstandungen, Untersagungen oder sogar Zwangsgeldern."

+++ Mittlerweile frei online: der ebenfalls gestern an dieser Stelle erwähnte Medienkorrespondenz-Artikel, der die vielfältigen Abgründe der saarländischen Medienpolitik zum Thema hat. "Die derzeitige Zusammensetzung" des Verwaltungsrats des Saarländischen Rundfunks etwa, sagt dort der Rundfunkrechtler Helge Rossen-Stadtfeld entspreche "nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot hinreicher Staatsferne", vielmehr sei "eine erstaunlich dichte parteipolitisch-etatistische Vernetzung des Kontrollorgans" festzustellen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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