Teasergrafik Altpapier vom 29. März 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 29. März 2021 Dokumentarfilme sind Zeitdokumente

29. März 2021, 16:39 Uhr

Aus der "Lovemobil"-Debatte ist die fast so spannende wie alte (und auch jetzt kaum zu lösende) Diskussion geworden, wie viel Inszenierung Dokumentarfilme vertragen. Bemerkenswert pragmatische Vorschläge gibt es aber auch. Außerdem: "Impfotainment" und Themen-Populismus. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die vergessensten Nachrichten?

Am vergangenen Donnerstag veröffentlichte die Initiative Nachrichtenaufklärung e.V. (INA) wieder ihre "Top Ten der Vergessenen Nachrichten". Und tja, der Name trifft's. Dass die gerankte Auswahl im Corona-Jahr unterbeleuchteter Themen die Schlagzeilen-Überblicke und Meistgelesenen-Auswahlen durcheinander wirbelte, lässt sich, trotz Kooperation mit dem Deutschlandfunk, nicht behaupten.

Dabei ließe sich über die Auswahl, wie über alles, natürlich streiten. Platz 1 belegt das in unserer Nische durchaus häufig angesprochene NetzDG. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist schon seit drei Jahren in Kraft, "doch erfüllt bis heute nicht seinen Zweck", moniert die INA. Doch gibt es in Deutschland und in der EU Was-mit-Internet-Gesetze, die die Zwecke erfüllen, die die Gesetzgeber einst hegten? Und wäre überhaupt gut, wenn solche Zwecke erfüllt würden?

Zumindest zeigt die Auswahl gut, wie "viele Themen links und rechts des Nachrichtenmainstreams" es gibt, wie die Pressemitteilung INA-Geschäftsführer Hektor Haarkötter zitiert, die die Berichterstattung bereichern würden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: "Jung, arm, abgehängt: Das übersehene Armutsrisiko ab 18" (Platz 4) und "Blind für Extremismus: Der deutsche Staat und islamistische und rechtsextreme Organisationen unter Türkeistämmigen" (8). Und viele dieser Themen würden nicht einmal von der alles beherrschenden Corona-Aktualität ablenken. Zu den jungen Armen merkt die Top-Ten-Zusammenfassung etwa an, dass "die Corona-Pandemie durch den Wegfall kleiner legaler Jobs gerade die junge Generation noch weiter ins Risiko drängt".

Zum Grad, in dem die Corona-Aktualität alles beherrscht, sagt "Medienhektor" Haarkötter, der begriffliche Zuspitzung durchaus beherrscht, übrigens "Impfotainment". Außerdem spricht er in der Pressemitteilung von "Themen-Populismus". Klar kann man zweifeln, "ob defizitäre Berichterstattung ... gemessen und in ein Ranking verpackt werden kann und muss", wie die FAZ dazu anmerkte. Gerankte Trends-Listen bedienen eindeutig den Populismus, der schon in den Infrastrukturen steckt, in denen die zusammenwachsenden Medien arbeiten, und dem sich viele von ihnen, sofern sie sich über Aufmerksamkeit refinanzieren, kaum entziehen können. Doch ein bisschen mehr Themen-(Setzungs-)Ambition würde vielen Medien gut tun.

Das massenmediale Topthema von Sonntagabend bis Montagabend wurde in der Talkshow nach dem "Tatort" gesetzt: "Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gast bei ANNE WILL". Dazu heute aber noch nichts im Altpapier. Wir sind ja keine Talkshowschau. Und es gibt noch ein großes Thema in der spitzen, aber tiefen große Medien-Nische.

Geübte Augen und falsche Aussagen ("Lovemobil"-Debatte)

Aus dem Knalleffekt, für den vergangene Woche (Altpapier) die Distanzierung des NDR vom Doch-Nicht-Dokumentarfilm "Lovemobil" sorgte, ist eine ungemein umfangreiche Diskussion über Dokumentarfilm an sich geworden. "Die Frage, wie viel Inszenierung ein Dokumentarfilm verträgt, ist so alt wie das Genre selbst", schreibt Sabine Rollberg, die als Kölner Professorin für künstlerische Fernsehformate den Diplom-Film der nun so oft so scharf kritisierten "Lovemobil"-Regisseurin Elke Lehrenkrauss betreute, bei medienkorrespondenz.de. Die Diskussion leidet etwas darunter, dass der Film schwer zu sehen ist (weshalb nochmals das Altpapier von Jenni Zylka, die den Film als Rezensentin gesehen hatte, empfohlen sei). "Lovemobil" wird aber weiterhin nicht in den Mediatheken zu sehen sein, teilt die in dieser Sache auskunftsfreudige Anstalt mit:

"Der NDR hat erwogen, den Film der Öffentlichkeit mit einer Kennzeichnung der inszenierten Szenen zur Verfügung stellen, damit sich jeder ein eigenes Bild machen kann. Jedoch möchten einige der Darsteller*innen aus dem Film nicht mehr gezeigt werden. Wir möchten dem Wunsch der Betroffenen entsprechen und werden den Film daher momentan nicht mehr veröffentlichen."

Dabei war der NDR "mit weniger als einem Zehntel des Budgets beteiligt", schreibt Rollberg und geht in die (in der Nische bekannten) Gepflogenheiten:

"Die ARD hat in ihrem Ersten Programm gerade einmal acht Sendeplätze für Dokumentarfilm, nämlich dann, wenn die in der Woche ausgestrahlten Talkshows im Sommer Pause machen. Selbst Arte hat nur zwölf Sendeplätze dafür im Jahr. Dann gibt es noch ein paar wenige Dritte Programme mit Slots für den langen Dokumentarfilm, der meist auch davor im Kino läuft. Als Filmemacher den Zuschlag für einen dieser Programmplätze zu bekommen, ist wie ein Sechser im Lotto. Dafür muss man vorher eine Menge Text abliefern: ein Exposé oder ein Treatment, in dem der Filmemacher sehr genau auf rund 20 Seiten beschreibt, was in dem Film zu sehen sein wird und wie er es umsetzt ..."

Und zwar lange bevor gegebenenfalls mit der Umsetzung begonnen werden kann. Kurzum: Rollberg, die beim WDR "in die vorzeitige Pension gemobbt" worden war (wie die Medienkorrespondenz 2018 schrieb), benennt zwar Lehrenkrauss' unstrittige Fehler, ergreift weitgehend Partei für ihre ehemalige Schülerin ("Der NDR opfert eine junge Filmemacherin, indem er die alleinige Schuld auf sie schiebt ... Der hier eingeschlagene Weg schürt die Angst"). Mit einem Aushängeschild des NDR für dokumentarisches Fernsehen, Anja Reschke, sprach dagegen welt.de (€). Dort herrscht ein anderer Sound:

"'Derzeit sind wir noch dabei, die gesamte Korrespondenz zwischen Autorin und Redaktion auszuwerten, um zu prüfen, ob wir Hinweise, die auf eine Inszenierung deuten, übersehen haben könnten', sagt Reschke ... In zahlreichen Interviews habe Lehrenkrauss 'nie auf Inszenierungen hingewiesen'."

Dabei sei "die fünfjährige Zusammenarbeit" eigentlich "konstruktiv" verlaufen. Wobei diese Dauer sich nicht aus der Dauer des Films und zumindest nicht allein der Dreharbeiten erklärt, sondern darauf deutet, wie mühsam und langwierig es ist, Dokumentarfilme zu verwirklichen. Die angeschnittene Frage der Relotius-haftigkeit stellt Olivier David bei uebermedien.de, mit Bezug u.a. auf Rollberg (die im uebermedien.de-Podcast zu hören ist), und argumentiert mit Bezug auf "das Offensichtliche", dass "'Lovemobil' kein zweiter Fall Relotius ist":

"Wenn man 'Lovemobil' mit dem Wissen sieht, dass dort Darsteller Rollen spielen, dann schreit einen das Offensichtliche an: Männer, die sich dabei filmen lassen, wie sie mit Sexarbeiterinnen intim werden – wer bitteschön würde sich dabei filmen lassen? Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Klar. Doch nicht nur wer schon einmal versucht hat, im Milieu von Sexarbeiter*innen zu recherchieren, muss bei solchen Szenen unbedingt stutzig werden."

Welt-Redakteur Christian Meier streut übrigens in seinen eben erwähnten Beitrag den aus "der Szene der Dokumentarfilmer" zu hörenden Einwand ein, dass "der inszenierte Charakter des Films ... für geübte Augen durchaus zu erkennen" sei, beispielsweise am eingesetzten Licht, an der Kameraführung ...". Michael Hanfeld belegt dagegen in der Samstags-FAZ Reschkes Argument, dass Lehrenkrauss häufig die Unwahrheit gesagt habe:

"Im Interview mit der Deutschen Welle vor rund einem Jahr, in dem sie nach ihrer Herangehensweise gefragt worden war, hatte das anders geklungen. 'Zum Schutz unserer Protagonistinnen haben wir nicht an dem Ort, wo sie eigentlich arbeiten, gedreht', sagte Lehrenkrauss. 'Wir sind immer in ein anderes Wohnmobil 'umgezogen'. Die Freier hatten keine Probleme damit, vor der Kamera zu agieren.'"

Dieses DW-Interview steht weiterhin online; in der Onlinefassung seines Artikels hat Hanfeld es verlinkt. "Es wurde mir verschwiegen" sagt Timo Großpietsch, der "Lovemobil" als NDR-Redakteur betreute, im RBB-"Medienmagazin" (in dem die AG DOK-Vorsitzende Susanne Binninger aber auch den "erheblichen Druck", unter dem Lehrenkrauss als selbstproduzierende Regisseurin stand, nachvollzieht). "Gibt es überhaupt eine objektive Abbildung der Wirklichkeit?", fragte dann noch Susan Vahabzadeh in der Samstags-SZ mit Bezug auf "die älteste Dokumentarfilm-Kontroverse von allen" aus dem Jahre 1922.

Zwei Prozent der Rundfunkbeitrags-Einnahmen für Dokumentarfilme?

Kurzum: komplexe Gemengelage, vielstimmige Diskussion. Falls Ihnen das insgesamt zu sehr pro Lehrenkrauss ist, wären etwa noch scharfe Rollberg-Kritik auf Twitter ("... Die Regisseurin hat Menschen willentlich stigmatisiert, um ihre eigenen Wünsche zu realisieren. Filmpreise kann man zurückgeben, Stigmata nicht") erwähnbar. Falls Ihnen wiederum der NDR zu gut weg käme, wäre noch Steffen Grimberg aus der taz nachzutragen ("'STRG_F' ist großartig, stößt hier aber ein bisschen an seine Grenzen, weil es um einen Fall in eigener Sache geht. Weshalb das Ganze Enttäuschung atmet und 'Betrug' ruft"). "StTRG_F" ist das NDR-eigene Funk/Youtube-Format, das die Diskussion ins Rollen brachte (und dass sich über die Großartigkeit von "STRG_F" seit vergangenem Sommer auch streiten lässt, wurde ja neulich hier schon mal erwähnt.)

Was für meinen Geschmack ein bisschen kurz kommt: Das, was jetzt gern als "künstlerischer Dokumentarfilm" bezeichnet wird, spielt in öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen längst nur noch eine Nebenrolle. Auch damit dürften die auffällig vielen Unklarheiten auf vielen Seiten zu tun haben. Eine ziemlich große Rolle spielen dagegen die viel häufigeren kurzen Doku-Formen. Dort wird häufig mit Reenactments oder "nachgestellte Szenen" gearbeitet – die oft per kleinem Textinsert so bezeichnet werden, oft auch nicht, weil sie für geübte Augen ja erkennbar sind, und die nahezu immer inhaltlich verzichtbar wären. Eingesetzt werden sie vor allem, weil dem Publikum unterstellt wird, wegzuschalten, falls mal ein paar Sekunden lang weniger attraktive, zum Beispiel unbewegte Bilder gesendet würden. Zumindest bei Fernseh-Ausstrahlungen einfach immer, in allen dokumentarischen Genres, eine deutliche Kenntlichmachung des eingesetzten Bildmaterials zu vereinbaren, könnte konstruktiv sein.

"Dokumentarfilme sind immer auch Zeitdokumente. Sie sind Teil unserer Geschichte und dürfen nicht, zum Beispiel aus finanziellen Gründen, in den Untiefen der Archive verschwinden."

sagt in einem aus anderen Gründen erschienenen, ebenfalls konstruktiven Interview eine andere Dokumentarfilmerin, Sandra Trostel. In diesem Sinne ist die Diskussion um "Lovemobil" das Dokument einer Zeit, in der einerseits "Authentizität" hoher Wert beigemessen wird, andererseits so viele filmische und weitere mediale Mittel Authentizität und/oder den Eindruck davon erzeugen können, dass eine halbwegs konkrete Definition verdammt schwierig wäre. Womit ich nicht sagen will, dass ausgerechnet "Lovemobil" langfristig in Archiven zugänglich sein sollte. Das hinge von der in diesem Fall auch schwierigen Frage der Persönlichkeitsrechte ab, wie Trostel übrigens auch, grundsätzlich, meint. Was sie fordert:

"dass öffentlich finanzierte Dokumentarfilme unter freier Lizenz langfristig verfügbar gemacht werden",

dass die Filmemacher für diese Werke aber auch entsprechend bezahlt werden. Auch das Interview mit ihr ist unter solch einer Lizenz erschienen. Das heißt, wikimedia.de hat es geführt und Leonhard Dobusch, der ZDF-Fernsehrat, hat es nicht selbst geführt, sondern in der 75. Folge seiner Rubrik "Neues aus dem Fernsehrat" veröffentlicht (und mit zahlreichen weiterführenden Links versehen, darunter zu Trostels Hacker-Dokumentarfilm "All Creatures Welcome"). Es geht wie gesagt gar nicht um "Lovemobil", aber pragmatisch um die aktuelle Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Filmemacherin beklagt, dass dieser "zu viel Geld in Fußball und disproportional teure Talkshows, Intendantengehälter und Renten, die weit über den Einkünften der heutigen Programmmacher*innen liegen" steckt, ohne damit grundlegende, unrealistische Reformideen zu verknüpfen, außer dass "zwei Prozent der Haushaltsabgabe ...pro Jahr für dokumentarische Produktionen" verwendet werden sollten.

In sinnvolle und aktuell notwendige Dokumentarfilm-Diskussionen sollte diese Idee jedenfalls einfließen.

Altpapierkorb (Buhrow-Interview, Singelnstein-Abschied, Medienfreiheit in Slowenien, Tesla-PR-Öffentlichkeitsarbeit)

+++ Seit Mitternacht auf dwdl.de: der nächste Teil der großen Tom-Buhrow-Medienoffensive in Form eines Lückerath-Interviews. "Wenn jede Person zu jeder Zeit auf jedem Gerät Informationen oder Zerstreuung sucht, müssen wir eine Klammer sein, die zusammenhält", sagt der Intendant unter anderem und wirkt in der direkten Interaktion überzeugender als neulich in der FAZ.

+++ "Damit endet eine der interessantesten ost-westdeutschen Medienbiografien der jüngeren Vergangenheit, mit allen Höhen und Tiefen, den so ein Transformationsprozess vom studierten Theaterwissenschaftler über DDR-Rundfunk und ORB hin zum RBB mit sich bringt", schreibt der Tagesspiegel zum  Ruhestand, in den RBB-Chefredakteur Christoph Singelnstein nun (mit einem Fernsehinterview morgen spätabends) geht. Dabei enden ja längst nicht alle Medienbiografien mit dem öffentlich-rechtlichen Ruhestand, wie, nur zum Beispiel, Jan Hofer demonstriert.

+++ Immer noch angegriffener: die Medienfreiheit innerhalb der EU. Inzwischen auch in Slowenien, wie Cathrin Kahlweit auf der SZ-Medienseite anhand eines "Eklats" im Europaparlament und auf Twitter beschreibt.

+++ "Die älteste Tageszeitung der Welt", die noch erscheint, ist die 318 Jahre alte Wiener Zeitung, schreibt spiegel.de, und zwar aus dem aktuellen Grund, dass ihr Überleben bedroht scheint.

+++  "In den Jahren nach 1968 entstand auch die taz, als ein Versuch, dem Springer’schen Meinungsmonopol etwas entgegen zu stellen. 'Die TAZ wird Säure werden müssen, um gesellschaftliche, politische und persönliche Verkrustungen wegätzen zu können', stand in der ersten Ausgabe im April 1979 – ein Duktus, den man heute eher auf den Blogs und in den Chats von Rechten und organisierten Neonazis findet. Die Gewalt gegen Medienschaffende heute ist anders als die der 68er Bewegung. Sie richtet sich nicht mehr gegen ein konkretes Medium, einen Verlag oder Sender. Sie kann alle treffen, die mit Kamera oder Mikro als Journalist:innen erkennbar am Rande einer Demo stehen": In der Wochenend-taz unternahmen Anne Fromm und Sarah Ulrich einen großen Anlauf, die aktuell massiv steigende "Gewalt gegen Journalist:innen" in Deutschland einzuordnen.

+++  Und zum, wie jeder Elon Musk-Tweet, viel zitierten Elon Musk-Tweet "Wow, shame on ZDF Info!" führte Deutschlandfunks "@mediasres" ein Interview mit Manka Heise, einer Co-Autorin des ZDF-Films, den Musk meinte, zur PR-Abteilungs-freien Öffentlichkeitsarbeit des Tesla-Konzerns.

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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