Teasergrafik Altpapier vom 26. Januar 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens.
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Das Altpapier am 26. Januar 2022 Wirtschaftsfreundlichkeit und Entlastungsrhetorik

26. Januar 2022, 14:51 Uhr

Auf Krawall gebürstete Tweets von Leuten zu ignorieren, die jenseits von Twitter keine Rolle spielen, ist meistens die beste Lösung, aber auch nicht immer. Außerdem auf der Agenda: In der Pandemie fand keine Massenradikalisierung statt, die Pandemie verstärkt nur vorhandene Tendenzen. Ein Altpapier von René Martens.

Baader, Meinhof, Poschardt

Wie man mit Internet-Trollen umgeht und ob nicht jeder noch so kluge oder witzige Kommentar eines Troll-Postings kontraproduktiv ist und vielmehr Ignorieren die beste Lösung - diese Frage poppt seit Jahren immer mal wieder auf. Am vergangenen Wochenende zum Beispiel, weil "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt da in der "Berliner Zeitung" seine Twitter-Strategie erklärt hatte. Anlass war eine Frage zum Thema Böllern - konkret zu einer bei Twitter Ende des Jahres allerlei Widerwillen hervorrufenden Ankündigung des bayerischen FDP-Vorsitzende Martin Hagen, trotz Böllerverkaufsverbot Silvester pyromanisch tätig zu werden. Poschardt sagt dazu in einem derzeit nicht online abrufbaren Interview:

"Da gab es eine Berliner Grüne, (…) die eine Strafanzeige ins Spiel brachte, dazu dann auch noch Journalisten, die am liebsten applaudiert hätten. Das war erbärmlich. Ich bespiele das mit einer heiteren, kindlichen Freude. Ich muss nur schreiben: 'Ich freue mich aufs Böllern!' Das dauert eine Sekunde, damit halte ich aber eine Kohorte von politisch korrekten Aktivisten, Medienleuten und den zugehörigen politischen und vorpolitischen Raum für 24 Stunden auf Trab. Das ist kulturkämpferisch ein großer Vorteil, wenn man diese Leute mit solchen Miniaktionen beschäftigen kann - und so Kräfte bindet."

Die darauf folgende Nonsens-Anmerkung des Interviewers ("Das klingt ein wenig nach Stadtguerilla mit anderen Mitteln") weiß ein Quatsch-mit-Soßen-Meister wie Poschardt natürlich noch zu toppen mit:

"Absolut. Heinrich Böll würde über unsere Redaktion schreiben: 6 gegen 60 Millionen". (lacht)

Hahaha, wenn das der Axel wüsste! Dass der Poschardt hier die "Welt"-Redaktion heiter-spielerisch zu einer Art Nachfolger der Baader-Meinhof-Gruppe stilisiert. "Es ist inzwischen ein Krieg von 6 gegen 60 000 000" lautet übrigens das vollständige Böll-Zitat, das Poschardt hier verwurstet, und es stammt aus einem ziemlich genau 50 Jahre alten "Spiegel"-Artikel.

Spätestens nach diesem Interview sollte sich nun niemand mehr 24 Stunden von einem Poschardt-Tweet auf Trab halten lassen - auch wenn man mir an dieser Stelle natürlich vorwerfen kann, dass ich mir von Poschardts Ulkereien zur Fortsetzung des bewaffneten Kampfs mit anderen Mitteln gerade meine Kräfte haben binden lassen.

Ob es immer die beste Lösung ist, auf Krawall gebürstete Tweets von Leuten, die jenseits von Twitter keine Rolle spielen, zu ignorieren (siehe dazu auch diesen @agitpopblog-Thread), ist aber auch nicht ausgemacht. Am Dienstagabend jedenfalls gab es großen Protest, als die österreichische Journalistin und "Welt"-Autorin Anna Dobler anlässlich der Ausstrahlung des Spielfilms "Die Wannseekonferenz" mit "Argumenten von Rechtsextremen" (der Historiker Florian Bieber laut FR) hantierte. Die Reaktionen dürften dazu beigetragen haben, dass sich am Mittwoch dann der "Exxpress" von ihr trennte, wo sie bis dato als stellvertretende Chefredakteurin amtierte (siehe etwa Standard).

Was ist denn nun noch mal der "Exxpress"? "Eine rechte PR-Plattform" (ORF-Moderator Armin Wolf) mit teilweise postillonesken Einsprengseln ("Fake News zur wachsenden Armut: Immer mehr Menschen leben in Wohlstand"). Wer es geschafft hat, zu rechts für einen rechten Laden zu sein, hat auf dem Markt heute natürlich die allerbesten Chancen. 

Und die ARD bewegt sich doch!

Zu den PR-Desastern der ARD gehörte im vergangenen Jahr die Entscheidung, die Idee der Initiative "Klima vor acht" zu ignorieren, eine entsprechend betitelte Sendung ins Programm zu nehmen. Die abgeblitzten Aktivistinnen und Aktivisten wurden schließlich mit der RTL-Wetterredaktion handelseinig und liefern nun Input für das "Klima Update" (siehe etwa diesen Altpapier-Jahresrückblick).

"Klima vor acht" statt "Börse vor acht", lautete eine der Forderungen des Vereins gegenüber der ARD, und in einer Hinsicht hat er nun Erfolg gehabt: "Börse vor acht" wird eingestellt - und ersetzt durch eine Sendung namens "Wirtschaft vor acht" (siehe etwa dwdl.de). Michael Flammer, der Vorsitzende von "Klima vor acht", twittert dazu:

"Ich behaupte mal: Ohne den Druck durch @KlimaVorAcht wäre das nicht passiert."

Laut ARD-Pressemitteilung soll "ein Schwerpunkt das Themengebiet Ökonomie/Ökologie" sein, und man kann zumindest hoffen, dass es diesbezüglich künftig Substanzielleres zu hören gibt als bisher bei "Börse vor acht". Und dass sich die ARD zumindest ein bisschen bewegt, soll natürlich auch lobend erwähnt werden.

"ZDF Spezial" besser als "ARD extra"

Auf einen Bereich, in dem der ARD mehr als nur ein bisschen Bewegung gut täte, müssen wir heute noch eingehen. Am Montagabend war das "ZDF Spezial" zur Corona-Lage um Lichtjahre besser als das "ARD extra" - und das nicht nur wegen des Umfangs der Sendungen (ARD 15 Minuten, ZDF 41), sondern wegen der Prioritäten.

Wenn man nur 15 Minuten hat, dann sollte man vielleicht nicht den zweiten Beitrag in der 2. Eishockey-Liga beginnen lassen und Karl Lauterbach mit der Einstiegsfrage "Gibt es auf absehbare Zeit überhaupt eine Chance auf zum Beispiel volle Fußballstadien?" verschonen. Die Eltern, der derzeit unter anderem unter den Hashtags #LeiseWirdSichtbar und #LeiseWirdLaut für sichere Bildung und gegen die Durchseuchung von Schulen und Kitas protestieren, kamen dagegen nicht vor - anders als beim ZDF, wo das gleich nach drei Minuten Thema war.

"Die Priorität" der Politik liege nicht auf "Gesundheitsschutz", sondern darauf, dass die Beschäftigten zur Arbeit gehen können, also auf der Wirtschaft - das sagt ein Familienvater aus Berlin in dem ZDF-Beitrag.

Im deutschen Journalismus ist diese Position unterrepräsentiert, denn der deutsche Journalismus ist ja tendenziell eher wirtschafts- als menschenfreundlich. Eine Ausnahme ist da Karin Christmann, die beim "Tagesspiegel" für das Ressort "Meinung" verantwortlich ist - und in einem Video sagt:

"Ich finde es unerträglich, dass die Kultusministerinnen und -minister mit der Legende durchkommen, ihnen ginge es zuvörderst um das Wohl der Kinder."

Und:

"Ich finde es unerträglich, dass derzeit täglich eine dreistellige Zahl von Menschen an einer Corona-Infektion verstirbt und das für die öffentliche Debatte kaum noch von Belang ist."

"Eine Tyrannei des bloß zeitlich Neuen"

Wann schläft eigentlich Bernhard Pörksen? Eigentlich schuftet der gute Mann ja an der Uni Tübingen, aber er haut bekanntlich auch noch schwergewichtige Artikel zu den großen Journalismusfragen raus - zum Beispiel am Samstag vor einer Woche im "Spiegel" (Altpapier) und am vergangenen Samstag auf der SZ-Medienseite (Altpapier). Nun hat Imre Grimm für das RND ein sehr langes Gespräch mit ihm geführt. Eines der vielen Themen: die zu verbessernde Medienkompetenz. Pörksen sagt:

"Es braucht ein eigenes Schulfach, das auf drei Säulen ruht. Zum einen auf der Medien- und Machtanalyse. Zum anderen braucht es die Medienpraxis, es gilt also, die Kunst der Rhetorik an die Schulen zurückzuholen und die Auseinandersetzung mit dem Wert des seriösen Arguments und die Auswahl von vertrauenswürdigen Quellen einzuüben. Und schließlich wäre eine Disziplin zu trainieren, die man 'angewandte Irrtumswissenschaft' nennen könnte. Hier ginge es darum, sich mit der ungeheuren Irrtumsanfälligkeit des Menschen zu befassen, um sich der Verführbarkeit durch Gerüchte, Falschnachrichten und Desinformation bewusst zu werden. – Aber ob ein solches Schulfach jemals kommt (…)? Je länger ich darüber spreche, desto skeptischer werde ich."

Nicht in der Rolle des Interviewten, sondern des Interviewers findet man Pörksen aktuell auch, nämlich in der in diesen Tagen in den Briefkästen gelandeten Januar/Februar-Ausgabe des Magazins "journalist". Für die hat er den US-Journalisten Andrew Revkin interviewt, der "seit mehr als 30 Jahren über die Veränderung der Erde berichtet", wie die Zeitschrift schreibt. Gegenüber Pörksen konstatiert er:

"Es gibt eine Tyrannei des bloß zeitlich Neuen im Nachrichtengeschäft. Was wird zum Aufmacher, was kommt auf den Titel? Die Antwort: die gerade aktuelle Geschichte, das Hier-und-jetzt-Ereignis, das Detail des Moments - und nicht ein womöglich allmählich dahinschleichendes Geschehen, das die allergrößte Bedeutung für unsere globale Zukunft besitzt. Ist der Vulkan auf La Palma wieder mal ausgebrochen, rollt ein Lavastrom über die Insel? Das ist titelfähiger Stoff. Schreitet die globale Erderwärmung weiter voran? Das scheint demgegenüber kaum gesellschaftsfähig (…) Können Sie sich vorstellen, dass auch nun ein einziges Mal auf der Titelseite der New York Times zu lesen wäre: 'Was jetzt folgt, liest sich ganz und gar nicht wie ein klassischer Aufmacher. Es geht nicht um ein Erdbeben, nicht um den Streit zwischen Joe Biden und den Republikanern, aber doch um ein Geschehen, das de Menschheit in den kommenden Jahrhunderten betrifft: die Erderwärmung.'"

Es gab keine Massenradikalisierung aus dem Nichts

"Wie hält man Kontakt zu Menschen, die in politische Parallelwelten abgedriftet sind?" - so lautet der Teaser für ein Deutschlandfunk-Kultur-Interview mit Dana Buchzik, die am Dienstag ein Buch veröffentlicht hat, das sich genau mit dieser Frage beschäftigt.

Gegenüber der FAZ, die Buchzik ebenfalls interviewt hat, sagt die Autorin, dass jene, die sich nun fragen, wie man mit abgedrifteten Verwandten und Freunden umgeht, "Warnzeichen ignoriert" hätten:

"Viele Politiker und Journalisten haben ja hartnäckig behauptet, dass in der Pandemie wie aus dem Nichts eine Massenradikalisierung stattgefunden hätte. In meinen Augen ist das Entlastungsrhetorik. Wenn etwas plötzlich und unerwartet passiert, hat nämlich niemand einen Fehler gemacht: Niemand hat weggeschaut, niemand hat zu spät reagiert, niemand hat es sich im Alltag zu leicht gemacht (…) Die Pandemie wirkt als Beschleuniger, sie verstärkt das, was längst vorhanden ist."

In ähnlichen Worten äußert sich Buchzik in einem "Spiegel"-Gastbeitrag (€) zu diesem Aspekt:

"Auch wenn der Verfassungsschutz und weite Teile der Politik und des Journalismus bis ins Jahr 2021 hinein lieber an eine neue Massenradikalisierung aus dem Nichts glaubten, trotz aller Reichsbürger undRechtsextremer, trotz Reichskriegsflaggen, Hitler-Gruß und antisemitischer Verschwörungsparolen bei Querdenken-Demonstrationen – die Pandemie hat nicht auf magischem Wege Bürger in ideologische Geiselhaft genommen, sondern die Radikalisierung all jener beschleunigt, die schon lange menschenfeindliche Überzeugungen hegten."

In einem kürzlich bei "epd medien" erschienenen Artikel habe ich versucht, zu skizzieren, warum Journalistinnen und Journalisten auf "Entlastungsrhetorik" (Buchik) setzen (siehe auch Altpapier). Viele von ihnen jedenfalls, weil sie die Forschung zum Rechtsextremismus nur unzureichend wahrgenommen haben. Hätten sie in den vergangenen Jahren regelmäßig in die "Mitte-Studie" des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld oder die "Leipziger Autoritarismus-Studie (Altpapier) hineingeschaut - neue Ausgaben der Studien erscheinen jeweils alle zwei Jahre -, wären sie nicht überrascht gewesen über das, was sich derzeit fast jeden Abend auf den Straßen in vielen deutschen Städten abspielt.

Bei der Erzählung in der "Massenradikalisierung aus dem Nichts" spielen neben der "Entlastungsrhetorik" auch strukturelle Gründe eine Rolle. Um die geht es in meinem epd-medien-Artikel ebenfalls:

"Von einer wachsenden Gefahr zu schreiben, einer neuen Radikalisierung, einer dramatischen Entwicklung oder einer bisher nicht gekannten Qualität der Gewaltbereitschaft, die niemand vorhersehen konnte - das funktioniert aufmerksamkeitsökonomisch besser als ein Text, dessen Kernbotschaft sinngemäß lautet: 'Wir haben es seit Jahren mit einem gravierenden Problem zu tun.’"

Auch in diesem Kontext kann man also, wenn auch aus etwas anderen Gründen, von einer "Tyrannei des bloß zeitlich Neuen im Nachrichtengeschäft" (Revkin) sprechen.


Altpapierkorb (Spekulationsfernsehen im ZDF, teilweise unzufriedener Deniz Yücel, Kritik an transfeindlicher "Emma", System Misogynie)

 +++ Für ausgiebige "Wie Sie sehen, wissen wir nichts"-Berichterstattung zu Amokläufen und ähnlich deprimierenden Breaking-News-Ereignissen war bisher das Privatfernsehen bekannt. Aber auch das ZDF beherrscht das Genre des "Spekulationsfernsehens", wie Boris Rosenkranz (Übermedien) anhand einer Sendung in Sachen #Heidelberg (Altpapier von Dienstag) aufgefallen ist.

+++ Deniz Yücel hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Erfolg gegen die Türkei errungen (siehe zum Beispiel "Spiegel"/dpa), aber mit dem Urteil ist er nur teilweise zufrieden. In einem Twitter-Thread schreibt der "Welt"-Journalist: "Enttäuschend" sei zum Beispiel, "dass der EGMR keinen Verstoß gegen das Folterverbot festgestellt hat – trotz der neunmonatigen Isolationshaft, trotz der körperlichen und psychologischen Misshandlung, der ich im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 drei Tage lang ausgesetzt war". Siehe dazu auch ein Interview mit ihm im "Heute-Journal".

+++ Die Attacken eines Springer-Rüpels auf die unter anderem auf das Thema religiöse Rechte in den USA spezialisierten Historikerin und Journalistin Annika Brockschmidt ordnet Veronika Kracher für das ND ein: "Die Angriffe etablierter Männer gegen junge, erfolgreiche – und oftmals linke – Frauen sind kein Ausrutscher, sondern haben System. Das heißt Misogynie und muss nach der Philosophin Kate Manne als Straf- und Kontrollsystem des Patriarchats verstanden werden. Misogynie wird gegen Frauen angewandt, die sich patriarchalen Anforderungen von Weiblichkeit verweigern. Hierzu zählt laut Manne auch das Einfordern 'männlich codierter Güter' wie politische und wissenschaftliche Anerkennung oder eine Präsenz in der Öffentlichkeit."

+++ Dass sich die Zeitschrift "Emma" den Beinamen "Schwarzers Einblick" verdient hat, zeigt ein Text des Magazins über die trans Politikerin Tessa Ganserer. Sibel Schick kommentiert in der taz: "In dem Text wird tatsächlich über Ganserers Genitalien spekuliert, sie wird als Mann in Frauenkleidung bezeichnet und mit ihrem abgelegten Geburtsnamen (oder 'Deadname') angesprochen. Diese gängige transfeindliche Praxis signalisiert trans Menschen, dass ihre Lebensrealität nicht zähle." Außerdem übe sich "Emma" "in einer verschwörungsideologischen Dämonisierung, die vor allem dazu da ist, um transfeindliche Gewalt als feministische Selbstverteidigung verkaufen zu können". Und Felicia Ewert kommentiert für die "Siegessäule" aus Berlin: "Wir könnten dies nun einfach abtun, wie es cis Personen zu häufig machen, wenn es um gezielt transmisogyne Kampagnen geht. Einfach davon ausgehen, dass dies lediglich von offen feindlichen Einzelpersonen ausginge... und sich selbst einreden 'zu den Guten' zu gehören und die eigene Verantwortung wegwischen. Das wäre zu einfach. Wir müssen uns selbst immer wieder die Frage stellen, wie weit unsere Solidarität mit transgeschlechtlichen Menschen reicht. Wie oft und weshalb wir Geschlecht immer wieder mit Körpern, Körperfunktionen, Hormonen, Chromosomen und Verhaltensweisen gleichsetzen."

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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