Teasergrafik Altpapier vom 11. Februar 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 11. Februar 2022 Im Eifer der Echtzeit

11. Februar 2022, 09:58 Uhr

Die schnelle, ungeprüfte Übernahme von Pressemitteilungen der Polizei steht mal wieder in der Kritik. Die deutsche Digitalpolitik freut sich über den Erfolg, mit Telegram geredet zu haben. Außerdem: die Frage, ob die Deutsche Welle und russische Staatsmedien wie RT DE vergleichbar sind. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Eine Polizei-PM und ihre Verbreitungs-Geschichte

"Pressekritik vom Krankenhausbett" hieß am Mittwoch eines der Altpapier-Themen. Um ein Instagram-Video ging es, in dem eine 17-jährige Deutsche türkischer Abstammung sich wunderte, "warum die Presse, Social Media, die Polizei-Webseiten, die Zeitungen, etc. […] die Wahrheit verdrehen" und einen gewaltsamen und rassistischen Vorfall in einer Berliner Straßenbahn völlig anders darstellten als sie ihn erlebt hatte.

Inzwischen ist die Sache ein großes Thema, auf Buntes/Panorama-Seiten etwa in der "SZ" (€), und in Berliner Medien mit aktuellen Weiterentwicklungen. "Prügel-Attacke auf 17-Jährige: Polizei sucht drei verdächtige Frauen", berichtet die "Berliner Zeitung". Drei tatbeteiligte Männer waren dagegen "bereits kurz nach der Tat" vorübergehend festgenommen worden. Der RBB hat mit der 17-Jährigen ein ausführliches Interview geführt und verschriftlicht.

Unter konkret medialen Aspekten, also mit Blick auf die schnelle und vielkanalige Weiterverbreitung der Pressemitteilung der Berliner Polizei, geht es ebenfalls. Bei Deutschlandfunks "@mediasres" nennt der Journalist Olaf Sundermeyer solch eine ungeprüfte Übernahme von Polizei-PMs "grob fahrlässig", allerdings auch "schon fast die Regel" im Medien-Alltag. Auch oder gerade die Polizei dürfe immer nur eine, nicht aber die einzige Quelle sein. Was im Prinzip ja überall bekannt ist, in der Hitze der Echtzeit, in der die meisten Medien um Klicks, Likes und sonstige Aufmerksamkeit rivalisieren, dennoch oft auf der Strecke bleibt.

Ausführlicher hat sich Andrej Reisin bei uebermedien.de mit dem Thema befasst. Nachdem er die komplizierte Abfolge der Pressemitteilungs-Vermeldung aufgedröselt hat, gelangt er zum differenzierten Urteil "Für eine generelle Empörung über mangelnde Recherche und fehlende Qualität der Medien insgesamt taugt der Berliner Fall ... nicht."

Die Polizei habe den Vorfall in ihrer ersten Pressemitteilung zwar, vermutlich irrtümlich, ganz oben als "Streit über eine fehlende Mund-Nase-Bedeckung" dargestellt, die rassistischen Beleidigungen aber durchaus erwähnt, wie ein bei uebermedien.de verlinktes Memento zeigt. In einigen der darauf basierenden Meldungen, etwa denen der Agentur epd und des RBB, wurde das auch erwähnt. Bloß bei der wichtigsten deutschen Presseagentur wurde er das zunächst nicht:

"Ein anderes Problem ist dagegen die dpa: Auf renommierte Agenturen müssen sich deren mediale Abnehmer in der Tat weitgehend 'blind' verlassen können, denn dafür sind sie nun einmal da. Das sogenannte 'Agenturprivileg' erlaubt es Journalisten ausdrücklich, Informationen von Nachrichtenagenturen ohne weitere Prüfung übernehmen zu dürfen. Kein Medium der Welt kann in Echtzeit auch noch Agenturmeldungen prüfen, wenn es dafür keinen begründeten Anfangsverdacht gibt. Natürlich machen auch Agenturen Fehler, aber auch die kritischsten Kommentator:innen auf Twitter und anderswo sind ihrerseits derart an Nachrichten in Echtzeit interessiert, dass sie diese im Regelfall lieber in Kauf nehmen als erst Stunden später von wichtigen Nachrichten zu erfahren."

Woraus sich schwerlich gut anwendbare Faustregeln ableiten lassen. Heißt: Mittelfristig funktioniert das System zwar. Auf Kritikwellen, wie die 17-Jährige via Instagram eine in Gang setzte, folgen dann Richtigstellungen und Entschuldigungen. Allerdings erzielt im Eifer der Echtzeit schnelle, emotionale Aufregung oft höhere Reichweiten als die später differenzierende Nachbereitung. Schön wäre, wenn dieser Fall ein Beispiel dafür darstellte, dass es sich andersherum verhalten zu beginnt.

Das Bundesinnenministerium und Telegram

Oh, ein Erfolg für die deutsche Bundes-Digital/Netzpolitik, wie zuerst, am Mittwoch, das "Center für Monitoring, Analyse und Strategie" (CeMAS) in einem Thread auf Twitter kundtat:

"Gestern Abend wurde #AttilaHildmann|s #Telegram|kanal gesperrt."

Neu ist insbesonders, wie es im vierten Tweet heißt, der von Telegram genannte "Einschränkungsgrund 'law'", der also auf Anerkennung deutscher Gesetze durch Telegram deutet.

Die Bundesregierung, in der sich ja mehrere Ministerien um diese als prioritär betrachtete Sache kümmern, hat nun also tatsächlich über eine "ladungsfähige Anschrift" Kontakt zur Messengerdienst-Netzwerk-Mischform Telegram erlangt, ob dank eines Tipps von Apple (AP neulich) oder doch von Google, wie nun netzpolitik.org (mit vielen weiteren Links im Beitrag) zusammenfasst:

"Zuletzt waren auf den über Apple und Google heruntergeladenen Apps einige Kanäle aus der Querdenkerszene eingeschränkt worden – möglicherweise ein erstes Signal des Einlenkens von Telegram. Vor einigen Tagen gab es das Gespräch des Innenstaatssekretärs Markus Richter mit Verantwortlichen bei Telegram. Laut Informationen des SPIEGEL hatte Google der Bundesregierung eine E-Mailadresse zur Kontraktaufnahme zu Telegram verraten. Bundesinnenministerin Faeser betrachtete den Kontakt als 'guten Erfolg'. Laut dem Innenministerium habe Telegram dabei 'größtmögliche Kooperationsbereitschaft' signalisiert."

In ihrem Tweet schrieb Faeser auch von "Kontakt zur Konzernspitze von #Telegram". Angesichts der Umstände, dass weder Telegrams Sitz genau bekannt ist, noch, wie es sich finanziert, kann die Formulierung leicht wunderlich wirken. Andererseits, gegenüber gigantischen Konzernen wie eben Google und Apple treten nationalstaatliche Ministerien ja auch eher bescheiden als Bittsteller auf. Was sich aus dieser neuen "Kooperation" von Innenministerium und Telegram entwickelt, muss abgewartet werden, meint der "Standard":

"Ob es einen Zusammenhang zwischen dem Treffen Faesers mit den Telegram-Vertretern und den jüngsten Sperren gibt, kann nicht gesagt werden. Die Bemühungen der deutschen Bundesregierung verdeutlichen jedoch, dass der Druck auf den Messenger auch von politischer Seite zunimmt. Zunächst muss man allerdings abwarten, ob es sich beim Vorgehen gegenüber Attila Hildmann um einen Einzelfall – oder gar den Beginn eines Richtungswechsels handelt."

Wobei der "Standard"-Artikel übrigens mit dem Satz "Telegram ist die Lieblingsplattform vieler Verschwörungserzähler und Rechtsextremer" beginnt. Je nach dem, gehört da unbedingt ergänzt. Nur z.B. erwähnt der gestern hier empfohlene, lesenswerte Gemma Pörzgen-Artikel über Geschichte und Gegenwart der Deutschen Welle in Russland, dass dort Telegram zu den Kanälen gehört, auf denen die DW relativ erfolgreich agiert. Telegram zählt zwar noch nicht wie Facebook, Insta, Pipapo zu den Milliarden-Netzwerken, sondern dürfte eher bloß eine halbe Milliarde Nutzer haben, das aber in sehr vielen, vor allem osteuropäischen Ländern. Es pauschal als "Verschwörungserzähler"-Plattform vorzustellen, ist daneben, wenn es nicht gar Regimes wie denen in Belarus und im Iran in die Hände spielt.

Die DW in Russland und RT-Medien in Deutschland

Kurz zwischendurch: Was machen eigentlich die ehemalige "Medienkorrespondenz", die Ende 2021 eingestellt wurde, und ihr Nachfolger, der "KNA Mediendienst" der Katholischen Nachrichtenagentur?

Der Internetauftritt der MK ist, eingefroren auf den Stand vom Ende Dezember, doch immer noch erreichbar. Das Nachfolge-Dings bietet ein anders strukturiertes, aber nicht unvielfältiges Angebot, allerdings ausschließlich für eingeloggte (zahlende oder testende) Nutzer. Volker Nünning, der in den föderalistischen deutschen Medien-Biotopen so bewanderte MK-Redakteur, ist offenbar nicht mehr dabei. Dafür schreibt über Medienpolitisches regelmäßig Steffen Grimberg, just etwa über die aktuelle Situation des deutschen Auslandssenders Deutsche Welle in Russland. Die zuletzt ja gestern hier Thema war.

Bei einem offiziellen Termin in Moskau am Mittwoch habe "die russische Seite ... kein Entgegenkommen gezeigt. Immerhin dürften auch die nicht-russischen Mitarbeitenden des Moskauer DW-Büros weiter im Land bleiben, was ungewöhnlich sei", heißt es im KNA-Dienst. Außerdem äußert sich der DW-Rundfunkratsvorsitzende, "Prälat" Karl Jüsten, im Hauptberuf Leiter des Katholischen Büros, der Verbindungsstelle zwischen Kirche und Bundespolitik in Berlin" ("Was wir hier erleben, ist ein unglaublicher Schlag gegen die Pressefreiheit"). Und um die gute Frage, ob die DW in Russland und das staatlich russische Auslandsmedium RT DE in Deutschland vergleichbar sind, geht es:

"'Die Gleichsetzung von RT DE und Deutscher Welle ist schlicht nicht zulässig', sagt Lutz Kinkel vom European Centre for Press & Media Freedom (ECPMF) in Leipzig. 'Beide Sender werden aus Steuergeldern finanziert, das ist dann aber auch schon die einzige Parallele'".

Während RT sich selber etwa als "Verteidigungsministerium Russlands" bezeichne, sei die DW eigentlich "ein klassisches öffentlich-rechtliches Angebot", argumentiert Kinkel. Stimmt einerseits natürlich, wenn man die über Jahrzehnte gewachsenen Staatsverträge und sonstigen Was-mit-Medien-Regeln betrachtet. Eine andere Frage wäre, wie große internationale Strahlkraft die in der deutschen Medienpolitik gern gepflegte Sichtweise von der grundsätzlichen Staatsferne der Landesmedien- und Rundfunkanstalten entfaltet. Die Berlin-Brandenburger MABB ist es ja, die ein Verfahren gegen RT DE wegen des Fehlens einer gültigen Rundfunkzulassung eingeleitet hat.

Diese Strahlkraft wirkt nicht uneingeschränkt, fürchte ich. Nicht nur, aber gerade auch bei den (nicht für öffentlich-rechtliche, sondern nur für private Medienangebote zuständigen) Landesmedienanstalten lässt sich ja durchaus "Staatsnähe der Medienpolitik" beobachten, zum Beispiel oft, wenn Chefposten nach parteipolitischem Gusto der jeweiligen Bundesländer-Regierungen besetzt werden.

Insofern könnte eine weitere Frage lauten: Sollte eine so breite und (insgesamt nicht zu Unrecht) von sich selbst überzeugte Medienlandschaft wie die deutsche, die im Prinzip auf Pluralismus setzt, nicht so etwas wie RT DE einfach aushalten? Die dualen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien könnten doch durch differenziertere Berichterstattung überzeugen (wie es ihnen nicht selten gelingt), und die zahlreichen föderalistischen Medienaufsichts-Behörden könnten in konkreten Fällen Verfahren einleiten (wie es in Frankreich gerade geschieht, berichtet die "FAZ"). Das würde jedenfalls souverän wirken und den Staatsferne-Anspruch gegenüber autokratischen Regimes wie in Russland stärken. Und der Deutschen Welle würde es wohl eher helfen als wohlklingende Appelle des Prälaten, der gerade ihrem Rundfunkrat vorsitzt.

Medien-"Erdbeben" und Mut-Appell an die Verlage

Huch, geht von Belgien ein "Erdbeben, das derzeit das Ökosystem der Online-Werbung erschüttert", aus? Zumindest stellt ein Beschluss der dortigen Datenschutzbehörde die Tracking-basierten Prinzipien derart grundsätzlich in Frage, dass Ingo Dachwitz bei netzpolitik.org an Verlage und Medienhäuser appelliert, doch bitte endlich den Übergang von "überwachungsintensiver" zu kontextbasierter Werbung zu wagen. Doch, ach:

"Eisern halten die Verlage an einem Geschäftsmodell fest, von dem längst klar ist, dass auch zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Nachteil funktioniert. Die Schätzungen, wieviel Cent von einem Werbeeuro bei ihnen hängen bleiben, gehen auseinander. Der britische Guardian etwa spricht von 30 Prozent oder weniger. Google behauptet, es seien 70 Prozent und mehr. Für viele Medien dürfte die Zahl irgendwo dazwischen liegen. Klar ist jedoch, dass ein sehr relevanter Teil des Geldes an die zwischengeschalteten Online-Werbeunternehmen geht. Allen voran Google und Facebook, die sich offenbar mit geheimen Absprachen den Markt aufgeteilt und die Konkurrenz vom Leib gehalten haben. Die Verlage hätten sich deshalb schon längst von dieser Werbeform verabschieden sollen. Dass sie es nicht getan haben, ist kein Grund, das Projekt nicht heute anzugehen ..."


Altpapierkorb (... noch ein Prälat, Springers "comedy suspects", Böhmermann, Mediensubventions-Volksabstimmung, "Medienphänomen Zemmour")

+++ Wenn Steffen Grimberg, nun in der "taz", scherzt: "Medien sind genauso schlimm wie die Kirche", meint er erstens den Springer-Konzern und zweitens Prälat Wolf, der seinen Vorsitz im BR-Rundfunkrat derzeit ja ruhen lässt.

+++ Die "Financial Times" (€) setzt die Veröffentlichung ihrer Recherchen zu Springer, das die Briten ja auch als internationalen Wettbewerber betrachten, natürlich fort, etwa unter der attraktiven Überschrift "Who was on Axel Springer’s list of comedy suspects?". Was meedia.de mit Hilfe von Tweets des üblichen Verdächtigen Jan Böhmermann frei online nachbereitet.

+++ ZDF-Kanone Jan Böhmermann macht hochprofessionell stets viele Schlagzeilen, aktuell v.a. durch die Ablehnung seiner Verfassungsbeschwerde gegen das weitgehende Verbot seines Erdogan-Schmähgedichts. Das dürfte Böhmermann "angesichts der Bedeutung, die er sich seinem megalomanen Auftreten nach selbst zumisst, besonders hart treffen", freut sich Michael Hanfeld in der "FAZ" (oder spendet tröstende Ersatzaufmerksamkeit). "Böhmermann kann nun nur noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anrufen. Ob dies geplant ist, beantwortete die Kanzlei Schertz Bergmann bis Redaktionsschluss nicht", schreibt Christian Rath in der "taz".

+++ Die Schweiz stimmt am kommenden Sonntag über ein Mediensubventions-Gesetz ab, also über staatliche Zahlungen an privatwirtschaftliche Medien. Darüber berichten Isabel Pfaff aus Bern für die "SZ" und Anina Ritscher aus Basel für uebermedien.de.

+++ Und "das Medienphänomen Éric Zemmour", das sie anno 2010 bei einem Pressetermin des damaligen Präsidenten-Vaters Pal Sarkozy kennenlernte, umreißt Frankreich-Korrespondentin Martina Zimmermann bei "epd medien".

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag. Schönes Wochenende!

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