Das Altpapier am 7. Oktober 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 7. Oktober 2022 Die sichtbarste Kriseninnovation

07. Oktober 2022, 10:58 Uhr

Eine Innovation hat die ARD-Krise schon bewirkt: das neue Genre "Sendung in eigener Sache". Dennoch steht die Frage im Raum: Sind die Öffentlich-Rechtlichen hart genug gegen sich selbst? Und: Aufatmen bei den Literaturredaktionen – die Nobelpreisträgerin ist eine Bekannte. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Redakteur heureux, weil Annie Ernaux

Die Tage, an denen die Nobelpreise vergeben werden, sind – man unterschätzt das womöglich als Leserin und Leser – besonders intensive Arbeitstage für die zuständigen Redakteurinnen und Redakteure. Sie sind vielleicht den Tagen vergleichbar, an denen man mit dem Wissen zur Schule fuhr, dass eine wichtige Klausur ansteht; bei einer Lehrkraft, deren Prüfungen mal machbar ausfallen, mal aber auch sehr schwer sind.

Der Nobelpreisvergabe-Test besteht darin, dass man als Journalist vorher zwar das Fach weiß – am Donnerstag war’s die Literatur –, aber sonst nichts. Alles kann drankommen, der ganze Stoff: eine kanadische Lyrikerin, ein usbekischer Romancier, ein nigerianischer Dramatiker oder Bob Dylan. Die Aufgabe muss außerdem nicht nur gelöst werden, sondern auch noch möglichst flott; denn man arbeitet ja nicht nur an einem Text über das Werk der Preisträgerin oder des Preisträgers, sondern auch gegen die Uhr – übermorgen kräht ja dann schon wieder kein Hahn mehr – und die publizistische Konkurrenz, die zudem bei Nischenfachthemen aus demselben Repertoire der freien Auskennerautorinnen und -autoren schöpft.

Nachdem die deutschen Literaturredaktionen im vergangenen Jahr ein ziemliches Brett von Prüfungen erwischt hatten – den Preis bekam Abdulrazak Gurnah, ein in Sansibar geborener tansanisch-britischer Schriftsteller, der wie kein anderer über die deutsche Kolonialzeit in Ostafrika geschrieben hat, und wie, pardon my Polemik, hätte man als deutscher Literaturredakteur von so jemandem etwas gelesen haben können (Altpapier) –, war dieses Jahr das große Aufatmen dran. Annie Ernaux bekommt den Preis. Die nicht nur bei den Buchmachern zu den Favoritinnen gehörte. Sondern die man halt einfach kennt. Ernaux, schrieb zum Beispiel der ORF online am Vortag,

"erlebt in den letzten Jahren weltweite Übersetzungen und begeisterte Reaktionen für ihre auf Französisch schon länger vorliegenden Romane, ihre autofiktionale Beschäftigung mit Geschlechter- und Klassenverhältnissen trifft einen Nerv der Zeit, wie auch der Goldene Löwe für die Verfilmung ihres Abtreibungsromans 'Das Ereignis' bei den Filmfestspielen in Venedig letztes Jahr bewies".

Auf der Liste der möglichen Preisträgerinnen und -träger, die die "Süddeutsche Zeitung" kurz vor der Vergabe zusammengestellt hatte, war sie sogar tatsächlich gleich die Erstgenannte. Also dann puh. Und herzlichen Glückwunsch an alle Literaturredaktionen!

Ein neues öffentlich-rechtliches Genre: "Sendung in eigener Sache"

Die ARD-Krise, die sich aus verschiedenen Skandalen, vermeintlichen Skandalen, Enthüllungen, Affären und natürlich auch Causae zusammensetzt, ist gewiss nicht preisverdächtig. Aber sie wirkt innovationsfördernd, wie es die "Süddeutsche Zeitung" heute entspannt zuspitzt. Dank ihr nämlich gibt es nun "das neue öffentlich-rechtliche Genre 'Sendung in eigener Sache'". Die vielleicht nicht einzige, aber sichtbarste Kriseninnovation ist das bislang zumindest. Und dieses Genre ist seit Mittwochabend um einen Beitrag reicher. Ausgestrahlt wurde er bei "Zapp" vom NDR (Altpapierkorb von Donnerstag), wo es unter anderem um die Frage ging, was bleibe von den Vorwürfen gegen den NDR Kiel (über die es auch schon eine "Zapp"-Sondersendung gegeben hatte, als sie veröffentlicht wurden).

Zentral dabei ist die Prüfung der Vorwürfe, bei einer Recherche über Verschickungskinder seien durch die Redaktionsleitung journalistische Prinzipien verletzt worden, und es gebe gar einen "politischen Filter". Darüber, was von den Enthüllungen zu halten ist oder sein dürfte, wurde schon berichtet, etwa in der "SZ", die zum 41-seitigen Prüfbericht des NDR (um den es auch an dieser Stelle schon ging) noch Fragen hatte, oder zuvor – zusammengefasst in diesem Altpapier – im "Spiegel" und in der "Zeit" (die schrieb: "Wut und Frustration in großen Teilen der Belegschaft sind echt, aber die bisherige Begründung trägt nicht"). Exklusiv, wenn man so will, hat "Zapp" nun etwa Interviews mit Julia Stein und Norbert Lorenzen, "die ihre Posten als Redaktionsleiterin und Chefredakteur nun räumen müssen".

"Auf die Frage, warum nach dem Bericht des Redaktionsausschusses, der im Dezember 2021 Beschwerden zum Thema machte, nicht ausreichend reagiert wurde, kommt auch Zapp kaum über selbstkritische Bekenntnisse von Intendant Joachim Knuth und Funkhauschef Volker Thormählen hinaus, sie hätten besser hinschauen müssen", kritisiert die "Süddeutsche" heute. Was aber nichts daran ändert, dass die Berichterstattung in eigener Sache wertvoll ist. Nicht nur weil sie der Aufklärung dienlich ist oder zumindest sein kann. Sondern auch weil der womöglich hier und da verbreitete Eindruck zerstreut wird, "die Öffentlich-Rechtlichen" seien eine ganz eigene Zivilisation und ein freier Redaktionsmitarbeiter dem Intendanten näher als dem freien Mitarbeiter eines Zeitungsunternehmens.

Sind die Öffentlich-Rechtlichen hart genug gegen sich selbst?

Wie sehr die Öffentlich-Rechtlichen eine Berichterstattung in eigener Sache mittelfristig goutieren, wo sie doch jetzt schon ihr eigenes Genre dafür haben, wird sich zeigen. Es gibt derzeit extra eingerichtete Investigativgruppen, die im eigenen Haus recherchieren, beim RBB etwa. (Einer der beteiligten Reporter, Daniel Laufer, wird vom "Medium Magazin" interviewt; ein Auszug steht bei newsroom.de). Aber das sind tendenziell Projektgruppen.

Strukturell überausgestattet ist der öffentlich-rechtliche Medienjournalismus dagegen eher nicht. Hinter der NDR-Meldung vom Januar 2021, "Zapp" – sicher die bekannteste Medienjournalismusmarke der ARD (ZDF mitgemeint) – baue das Onlineangebot aus, steckte seinerzeit eine Mittelkürzung.

Wollte man über die laufende Skandal-Affären-Causae-Krise hinaus das neue öffentlich-rechtliche Genre "Sendung in eigener Sache" stärken, müsste vielleicht ein neues Verständnis dafür entwickelt werden: ein nicht monolithisches, das dem Grundsatz "Wir von den Öffentlich-Rechtlichen müssen doch zusammenhalten" folgt (was eine Haltung ausdrückt, die einem durchaus mal begegnen kann). Auch als die ARD-Krise, seinerzeit als "Schlesinger-Affäre", begann, war es längst nicht ausgemacht, dass in eigener Sache berichtet werden sollte. Daran erinnern die RBB-Moderatorin Eva Lemke und der RBB-Investigativjournalist Olaf Sundermeyer in einem durchaus wuchtig zu nennenden Interview, das sie dem "Journalist" gegeben haben und in dem sie es an Deutlichkeit nicht vermissen lassen.

Nur eine Passage: Irritierend sei gewesen, sagt Lemke da also,

"dass Jörg Wagner vom Medienmagazin [des RBB-Senders RadioEins] zwar von Anbeginn der Skandale ab Ende Juni übers eigene Haus berichtet hat, andere Sendungen aber sehr spät eingestiegen sind. Viele Versuche, es publik zu machen, wurden mit dem Hinweis abgebügelt, es gäbe ja nun Compliance-Untersuchungen, keine Sorge.

Sundermeyer: Warten wir die doch mal in aller Ruhe ab, hieß es. 

Lemke: Dass wir zu dem Zeitpunkt nicht hartnäckiger waren, müssen wir uns zum Vorwurf machen. Schlesingers Niederlegung des ARD-Vorsitzes hat zwar vieles geändert, allerdings wurde da auch deutlich, dass es keine Verteidigungslinie gab. Nicht eine der angedrohten Gegendarstellungen ist jemals rausgegangen. Wir hatten der Kritik nichts entgegenzusetzen. Als wir dann aber angefangen haben, Verwaltungsrat, Chefredakteur, Programmdirektor teils sogar richtig hart zu interviewen, gab es eher positives Feedback – auch wenn ich es oft als vergiftetes Lob wahrgenommen habe. Dass niemand von uns erwartet hatte, hart in der Sache zu sein, auch gegen uns selbst, war fast alarmierender als der Skandal selbst."


Altpapierkorb ("Business Insider"-Berichterstattung über den NDR, Grenzen der Propaganda in Russland, Public-Value-Konferenz beim MDR, Zukunft der Medien, Mediennutzungsdauer)

+++ Jenseits der Berichterstattung in eigener Sache bleibt den Öffentlich-Rechtlichen – wie allen anderen Medienunternehmen – auch noch, juristisch gegen Behauptungen vorzugehen. Dass der NDR gegen Teile der Berichterstattung von "Stern", "Business Insider" und "Bild" erfolgreich vorgegangen ist (wobei das Urteil noch nicht rechtskräftig ist), stand hier gestern schon. Falsch sei etwa der Vorwurf der "Vetternwirtschaft" gegen die Chefin des Landesfunkhauses Hamburg, meldete der NDR (in dem Fall als Pressemitteilung) am Donnerstag. Bei Springers "Business Insider" sehe man das anders, heißt es nun im bereits zitierten "SZ"-Text vom heutigen Freitag: "Weite Teile der Berichte seien unwidersprochen, der Vorwurf der Vetternwirtschaft 'mitnichten vom Tisch'."

+++ Und auch die "Business Insider"-Berichterstattung über den NDR Niedersachsen und die stellvertretende NDR-Intendantin Andrea Lütke (Altpapier vom Mittwoch), liegt nun beim NDR in der Rechtsabteilung, wie auf den Seiten der Niedersachsen-Redaktion zu lesen ist. Offensichtlich ist, dass der Text, der "wirtschaftliche Verbindungen" zwischen Lütkes Familie und der Produktionsgesellschaft Cineteam Hannover und damit eine "Amigo-Kultur" in den Raum stellt, einen Fehler enthielt: Unter dem "BI"-Text steht nämlich nun eine Korrektur, und eine Passage, die heute die "FAZ" zitiert, ist damit hinfällig. Was vorerst bleibt: Der NDR weist die Vorwürfe zurück. Ob sie damit aus der Welt sind, lässt sich, Stand heute, aber nicht sagen.

+++ Dass sich in Russland "die Realität stark von dem Bild der Propaganda" unterscheide, schreibt bei "epd Medien" Irina Chevtaeva: "Die angebliche 'Teilmobilisierung' läuft chaotisch ab (…) Der Staat kann die unabhängigen Medien, die darüber berichten, blockieren und die militärische Propaganda verstärken, aber immer mehr Menschen in Russland beginnen, die wirkliche Lage aus eigener Erfahrung klarer zu sehen."

+++ Die Public-Value-Konferenz beim MDR (Altpapier vom Donnerstag) ist gestern zu Ende gegangen. Helmut Hartung schreibt in einem kurzen Text in der "Frankfurter Allgemeinen", was er mitgenommen habe. Die Antworten auf die Frage, ob die Verantwortlichen der Öffentlich-Rechtlichen "den Mut zur kompetenten Kritik in der Berichterstattung, aber auch die Fähigkeit zu Selbstkritik und transparenter Fehlerkultur" hätten, seien, so Hartung, "in der Debatte mit vier ARD-Intendanten (Radio Bremen, Saarländischer Rundfunk, SWR, WDR) mehr als dürftig" ausgefallen. (Dass diese Kolumne beim MDR erscheint, sei hiermit für die Transparenz erwähnt.)

+++ Aus der Rede, die MDR-Intendantin Karola Wille hielt, zitiert Hartung sehr ausführlich auf seiner Homebase, bei Medienpolitik.net.

+++ "Der 'Scheißcomputer' aus dem Jahr 1993 wurde bald zum 'Scheißinternet' und zu den 'Scheiß-Social-Networks', in denen ein anständiger Journalist nichts zu suchen hatte, denn das sei ja alles nur Eitelkeit, was fast immer von denen kam, die weder am Kiosk noch im Internet auf ein interessiertes Publikum stießen." Wolf Lotter befasst sich in einem Essay fürs "Medium Magazin" mit der Zukunft der Medien. Und landet bei: Courage.

+++ Corona vorbei (oder naja, wie man’s nimmt): Und die Mediennutzung geht wieder zurück. Statt zuletzt 427 Minuten pro Tag nun noch 420 Minuten. Das geht aus der ARD/ZDF-Massenkommunikation-Langzeitstudie hervor. Details, und die sind es ja wohl, die hier interessieren, hat der "Tagesspiegel".

Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!

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