Das Altpapier am 09. November 2022 Wahlforschung als Ratespiel
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09. November 2022, 11:18 Uhr
Vor den Zwischenwahlen hatte die Meinungsforschung in den USA einen schweren Stand. Twitter, so der neueste Plottwist, könnte kostenpflichtig für alle werden. Und: In einem ZDF-Film beschädigt ein WM-Botschafter die katarische PR. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die Schwierigkeiten der Meinungsforschung
"Glauben Sie, dass eine weitere Präsidentschaft von Donald Trump eine Gefahr für die Demokratie in den USA wäre?" Das war die Frage, die das Meinungsforschungsinstitut Civey für t-online.de dieser Tage online stellte, wie es dort heißt. 73 Prozent der Befragten bejahten das demnach "auf jeden Fall" oder "eher". Ziemlich klare Sache, scheinbar. Es ist allerdings schon eine seltsame Frage. Steckt die mutmaßlich sozial erwünschte Antwort nicht schon in der Formulierung? Für die Schlagzeile "Mehrheit der Deutschen sieht eine Gefahr in Donald Trump" hat es am Dienstag, dem Tag der Zwischenwahlen in den USA, jedenfalls gereicht.
Umfragen: schwieriges Feld. Bisweilen dienen sie, wenn sie von Redaktionen beauftragt werden, wohl eher der Schlagzeilen- als der Erkenntnisgenerierung. Aber auch wenn Meinungsforschungsinstitute einem Kerngeschäft nachgehen – der ernsthaften Wahlforschung –, sind ihre Ergebnisse bisweilen mit Vorsicht zu behandeln. In den USA und für deutsche USA-Korrespondentinnen und -Korrespondenten wurde diese Skepsis vor den Zwischenwahlen ausführlich behandelt. Über die "Sorgen der Meinungsforscher" schrieb tagesschau.de. "Meinungsforschung verzweifelt an Midterms-Prognosen", hieß es bei der "Frankfurter Rundschau" online. Und schön plakativ auf der US-Seite "Daily Beast" stand: "Pollsters Have 'No F*cking Idea What’s Going to Happen’ This Election". Das Sternchen übrigens steht hier für ein "u".
Einer von mehreren denkbaren Gründen, aufgegriffen von der Frankfurter Rundschau":
"Konservative Institutionen sollen den Markt der Meinungsumfragen vor den Zwischenwahlen gezielt geflutet haben – mit Ergebnissen, die eher für die Republikaner sprechen. So sollen Portale wie FiveThirtyEight, die viele Umfragen in ihre Prognosen einfließen lassen, auf die falsche Fährte gelockt werden."
Auf den Seiten der "Blätter für deutsche und internationale Politik" stand dagegen, die Demokraten hätten gute Chancen, "die Mehrheiten im Senat oder sogar in beiden Häusern des US-Kongresses zu behalten. Auch die Umfragen zeigen, dass sie besser dastehen als gedacht. Nur: Wie schon 2016 und 2020 sind die MAGA-Republikaner in Umfragen vermutlich stark unterrepräsentiert."
Jedenfalls war vor den Wahlen tatsächlich unabsehbar, wie es ausgehen würde. Diverse Meinungsforscher – zitiert etwa im "Daily Beast"-Artikel – problematisierten das auch selbst. Meinungsforschung als Ratespiel. Vielleicht sollte das Umfrageinstitut Civey in Kooperation mit einem deutschen Medium bald mal die Frage stellen: Glauben Sie, dass Donald Trump eine Gefahr für die Meinungsforschung in den USA ist? Dann wüssten wir mehr. Wenn auch nur darüber, was Leute online auf diese Frage geantwortet haben.
Twitter-Nutzung: "komplett kostenpflichtig"?
Logisch, dass von einem Thema, das mit "Donald Trump" verschlagwortet ist, nun der direkte Bogen zu einem "Elon Musk"-Thema geschlagen wird. Musk und was er bei und mit Twitter treibt, ist immer noch (Altpapier vom Dienstag, Montag, …) eines der großen Themen des deutschen Medienjournalismu, sofern man einen erweiterten Medienjournalismus-Begriff anlegt.
Was gibt’s Neues seit gestern? Allerhand weitere Einschätzungen natürlich, vornehmlich zu Musks Überlegungen, das Verifikationssystem abzuschaffen und durch ein Abo ohne Verifikation zu ersetzen. Die Schweizer "Medienwoche" meint dazu:
"Damit bringt er sich in eine Situation, in der er fast nur verlieren kann. Sollte sein Plan aufgehen und Twitter mit dem neuen Abo die gewünschten Einnahmen generieren, signalisiert Musk damit, dass er Desinformations-Chaos in Kauf nimmt, solange die Kasse stimmt. Sollte das neue Abo ein Flop werden, trägt Musk damit weiter zum allgemeinen Gewirr und der Ungewissheit auf Twitter bei."
Im jüngsten Briefing des "Social Media Watchblogs" geht es diesmal dagegen um Chancen der Twitter-Übernahme durch Musk: "Vielleicht ist nicht alles schlecht, was Musk vorhat. Vielleicht muss Twitter gründlich durchgeschüttelt werden, um endlich sein volles Potenzial zu entfachen", schreiben Simon Hurtz und Martin Fehrensen und argumentieren, am Ende auch unter Verweis auf Beitrag von Sebastian Esser (der gestern hier aufgegriffen wurde):
"Twitter kommt seit Jahren nicht vom Fleck und scheitert daran, das zweifellos große Potenzial in ein lukratives Geschäftsmodell zu überführen. Das Produkt selbst wurde lange Zeit kaum verbessert, vielversprechende Apps und Trends entweder vorzeitig eingestampft (Vine hätte TikTok werden können, bevor es TikTok gab) oder verschlafen (Fleets war Twitters viel zu späte und schlecht umgesetzte Reaktion auf Stories)."
Wenn Musk, so geht das Argument, für Twitter "einen Großteil des Umsatzes mit Abos generieren" würde, dann würde er:
- die Abhängigkeit von wenigen großen Werbekunden reduzieren und
- dazu beitragen, dass Twitter nicht mehr ganz so krass von Assholismen durchzogen ist (weil "Menschen, die zahlen, zivilisierter diskutieren", so Essers Argument).
Wenn freilich stimmt, was der Tech-Reporter Casey Newton im Newsletter "Platform" schrieb, steht in Musks Umfeld nun im Raum, "die Nutzung des Onlinedienstes komplett kostenpflichtig zu machen", wie "dpa" am Dienstagvormittag übersetzte. Also nicht nur für die, die einen weißen Haken auf blauem Grund haben wollen, der bisher für verifizierte Accounts stand, sondern auch darüber hinaus. "Die Idee sei, die Nutzerinnen und Nutzer Twitter für einen bestimmten Zeitraum kostenlos benutzen zu lassen, bevor dann Abogebühren fällig würden, hieß es", so das "Netzwelt"-Ressort von spiegel.de.
Offiziell kommentiert wurde das von Musk und Twitter bisher nicht. Casey Newton aber nennt das: "fresh evidence that the company will never be the same"; das Unternehmen werde also nie wieder dasselbe sein wie vor Musk. Wenn Musks Name im Spiel ist, sollte man zwar tendenziell immer mit allem rechnen. Auch mit dem Gegenteil. Aber mit dieser Prophezeiung könnte Newton schon Recht haben.
"Geheimsache Katar", Minute 26
In Minute 26 der 43-minütigen ZDF-Dokumentation "Geheimsache Katar" von Jochen Breyer und Julia Friedrichs (Altpapier vom Montag) fällt der Satz, der die deutsche Auseinandersetzung mit dem Film bestimmt: Homosexualität sei ein "damage in the mind", sagt der katarische WM-Botschafter Khalid Salman im Gespräch mit Breyer, woraufhin ein Pressesprecher des WM-Organisationskomitees das Interview abbricht und dem Filmteam als nächsten Programmpunkt einen kleinen Spaziergang vorschlägt.
Dass es in Katar Menschen gibt, die das so sehen, wusste man. Dass es so einige sein dürften, ahnte man zumindest. Und wäre dieser Film eine Reportage über Land und Leute, wäre es geboten, an der Stelle tiefer in politische, kulturelle und religiöse Zusammenhänge einzutauchen. Muss Breyer aber in dem Fall nicht tun: Er hat einen Botschafter der Fußballweltmeisterschaft vor sich: Der spricht für diese Veranstaltung und beschädigt damit die ziemlich durchsichtige katarische PR. Deshalb ist es erhellend, was er sagt. (Aufgegriffen wird es, unter anderem, im Sportteil der "FAZ" und ausführlicher bei faz.net sowie auf den Seiten des Redaktionsnetzwerks Deutschland).
Reporterglück für Breyer, könnte man sagen. Aber Reporterglück ist manchmal auch hart erarbeitet. Joachim Huber lobt jedenfalls den Film im "Tagesspiegel" für genau das – die Arbeit, die darin steckt: "Die Dokumentation ist von großem Einsatz und noch mehr von fleißiger Recherche als von bloßer Haltung gekennzeichnet", schreibt er.
Auch die "Süddeutsche Zeitung" ist angetan davon, dass der WM-Botschafter die Zurückhaltung fahren lässt: "Selten hat man die aufgeblähte PR-Strategie eines umstrittenen Regimes so pointiert scheitern sehen wie in der an diesem Dienstagabend ausgestrahlten Dokumentation 'Geheimsache Katar’", kommentiert Philipp Schneider im Sportteil. Er bringt in seinem Text auch die hübsche Formulierung unter, der ehemalige Fußballer und Multimillionär David Beckham, der für Katar werbe, sei "geschmiert wie eine Rohrmuffe". Ziemlich chauvinistisch klingt allerdings die etwas unklare Andeutung, Katar sehe "vielleicht doch nicht zufällig" wie eine Mondlandschaft aus. Was soll das denn heißen? Dass man in Katar auf dem Mond lebt? Oder in der gern genommenen "Steinzeit". Hui. Zeitgenossenschaft ist schon ein komplexes Konzept.
Altpapierkorb (Liminski über Buhrows Runden Tisch, "Kyiv Independent", "Bild"-Investigationspersonal, über "Logo")
+++ Der Name von WDR-Intendant Tom Buhrow fällt auch heute wieder: auf der Medienseite der "FAZ", wo Nordrhein-Westfalens Staatskanzleichef Nathanael Liminski zitiert wird, Buhrows Vorschlag, für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen neuen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln und dafür einen "Runden Tisch" einzuberufen (Altpapier), sei "ein ganz wichtiges Signal". Michael Hanfeld schreibt, Liminksi schlage "eine von den Ländern eingesetzte Kommission vor. Diese solle sich aus 'Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die mit einer gewissen Distanz auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk blickten', zusammensetzen. 'Ich denke an Verfassungsrichter, ich denke an große Gewerkschafter, ich denke auch an Vertreter der Wirtschaft.'" Hm. Oder doch lieber eine Mischung, die die Gesellschaft repräsentiert?
+++ Die "SZ" interviewt Daryna Schewtschenko [Update: jetzt auch in der Printzeitung; die Onlinefassung war an dieser Stelle bereits Thema] vom englischsprachigen "Kyiv Independent", einer gecrowdfundeten ukrainischen Online-Zeitung – etwa über die Bedingungen des Kriegsrecht, unter denen sie arbeitet: "(E)s gibt weniger freie Informationen, viele Datenbanken sind nicht mehr zugänglich, was extrem ärgerlich ist. Schließlich hat die ukrainische Zivilgesellschaft jahrelang für Transparenz und Anti-Korruptions-Agenden gekämpft. Das Kriegsrecht macht es schwerer, dem Fluss des Geldes zu folgen. Wir arbeiten wieder mehr mit Informanten, wir bauen Netzwerke auf, wir arbeiten, wenn man so will, auf die altmodische Art. Mit dem Kriegsrecht sind natürlich viele Einschränkungen verbunden: die Sperrstunde, Bewegungseinschränkungen. Das macht journalistische Arbeit schwieriger, aber nicht unmöglich."
+++ Dass "Bild"-Chefredakteur Johannes Boie jemanden gefunden habe, der die Leitung eines wiederbelebten Investigationsressorts übernehme, berichtet der "Medieninsider".
+++ "Übermedien" lobt "Logo", die Kindernachrichtensendung des KiKa: Denn "'Logo' erklärt so, wie Kinder denken. Und setzt keinerlei Vorwissen voraus. Opposition heißt nicht Opposition, sondern: Parteien, die aufpassen, dass die Regierung keinen Mist baut. Wer so radikal voraussetzungslos erklärt, nimmt jeden mit."
Das nächste Altpapier erscheint am Donnerstag.