Das Altpapier am 26. Juni 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 26. Juni 2023 Sind ARD und ZDF zu langsam?

26. Juni 2023, 12:12 Uhr

Über die Öffentlich-Rechtlichen wird mal wieder geschimpft, sie seien bei Breaking News zu behäbig. Nicht jedes Argument ist stichhaltig – aber die Kritik hat valide Punkte. Und: Was wurde aus der Ankündigung, Tagesschau24 zu einem echten Newskanal umzubauen? Die Medienthemen des Tages kommentiert Klaus Raab.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Umsturzversuch in Russland – und wo sind ARD und ZDF?

Es gibt Themen, die verlässlich immer wieder kommen. Eines davon: Handeln ARD und ZDF richtig, wenn sie nicht schnellstmöglich live und dauerhaft auf Sendung gehen, sobald auf der Welt etwas von größerer Bedeutung passiert?

Es gibt einerseits Gründe, nicht sofort loszusenden, nur weil es die Konkurrenz und die internationalen Vergleichsanstalten tun. Redundanz hat keinen besonderen Informationswert, und die Qualität von Information und Analysen kann man nicht in km/h messen. Andererseits ist ein newsaffines Medienpublikum mittlerweile durch Eilmeldungen und Liveblogs wohl sehr darauf trainiert, Sofort- und Dauerpräsenz als Relevanzwährungen zu nutzen.

Am Samstagvormittag standen die Öffentlich-Rechtlichen also wieder einmal in der Kritik, weil sie ihre Schaufenstersender noch nicht umdekoriert hatten, als andere schon auf ihren besten Plätzen berichteten: Bei spiegel.de, bild.de, zeit.de, welt.de, sueddeutsche.de, n-tv.de und anderen Newsportalen wurde – entweder mit Liveblogs oder in mehreren Beiträgen – dynamisch über den Wagner-Aufstand in Russland, den Söldner-Vormarsch auf Moskau und Wladimir Putins Reaktion berichtet. Bei ARD, ZDF und Phoenix im linearen Programm jedoch: Kindersendungen und Naturdokus.

Die Nachrichtenlage wurde keineswegs ignoriert …

Bei Twitter ärgerte sich u.v.a. hier, da, da und dort jemand über ARD und ZDF, und berliner-zeitung.de goss die Kritik eilig in einen Text: "Söldnerführer Prigoschin will Militärführung stürzen, Putin spricht zur Nation, Antiterror-Maßnahmen in Kraft – aber bei ARD, ZDF und Phoenix wird das ignoriert", hieß es dort um 10.18 Uhr über einem Bild von Bibi Blocksberg und ihrer Freundin Tina. Wie viele Sechsjährige und ihre Eltern sich gefreut hätten, hätten sie statt ihrer Zeichentrickserie überraschend Bilder von Prigoschins bewaffneten Söldnern gesehen, ist eine andere Frage.

Was zudem nicht stimmt: dass die Situation in Russland "ignoriert" worden wäre. Die Öffentlich-Rechtlichen bestehen nicht nur aus den zwei linearen Schaufenstersendern von ARD und ZDF; tagesschau.de zum Beispiel gehört auch zur ARD und berichtete schon früh in Text-Liveblogs. Der Informationssender Tagesschau24 hatte die am Samstagvormittag diffuse Situation in Russland auf dem Schirm und berichtete zusammenfassend und aktuell. Der vielsendrige Hörfunk existiert nebenbei auch noch. Die "Tagesthemen" hatten das sich anbahnende Geschehen schon am Freitag auf dem Schirm. Und am Samstagmittag stand fest, wie das weitere Tagesprogramm von ARD und ZDF umgebaut wird. dwdl.de schrieb über geplante Sondersendungen am Samstagabend und -nachmittag:

"Bis abends informiert Das Erste (…) in diversen 'Tagesschau'-Ausgaben über Aktuelles, unter anderem ab 13:45 Uhr und in einer 100 Minuten langen Sendung ab 15:30 Uhr, die dann das Bild von Tagesschau24 übernimmt. Das ZDF ist wegen feststehender Sportübertragungen weniger flexibel, berichtet aber ab kurz nach 14 Uhr in einem 'ZDF Spezial’."

Ignoriert wurde die Lage in Russland also keineswegs.

… aber die Kritik an ARD und ZDF hat valide Punkte

Was man bei ARD und ZDF aber auch nicht ignorieren kann: Bei echtzeitjournalistischen, also Breaking-News-Ereignissen scheint es einen Bedarf an dichter, linearer Fernsehbegleitung zu geben. Jonas Leppin wunderte sich bei spiegel.de darüber zwar:

"Wie groß muss die Sehnsucht danach sein, gestandenen TV-Moderatorinnen dabei zuzusehen, wie sie unüberschaubare Ereignisse und Bilder kurz nach Bekanntwerden live kommentieren? Meistens, ohne davor auch nur einige Sekunden das Geschehen reflektieren zu können. Was genau verspricht man sich davon?"

Aber das entsprechende Angebot der Öffentlich-Rechtlichen schien vielen anderen Beobachtern dennoch zu dürftig. Wohl aus vier Gründen:

Erstens: Was immer man davon halten mag – zu den Währungen in Nachrichtenlagen gehören "jetzt", "prominent" und "dauerhaft". Und darauf haben die Öffentlich-Rechtlichen noch immer keine gute Antwort. Einen Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensender haben sie nicht, was nicht in erster Linie an ihnen liegt, sondern an medienpolitischen Vorgaben und den Interessen der privaten Konkurrenz (Stichwort "vollkommen inakzeptabel"). Aber am Eindruck, man habe gepennt, ändert das in der Außenwirkung nicht viel.

Zweitens: Das Argument, Tagesschau24 habe gut und umfassend berichtet, ist zwar schwer zu widerlegen. Aber wenn man etwa in der ARD-Mediathek-App durchzählt, wie viele Fernsehsender zur ARD gehören: Dann ist es vielleicht wirklich schwer zu vermitteln, dass sich am Samstagmorgen nur einer um ein aktuelles Weltgeschehen kümmerte, das von anderen Medien als besonders relevant eingestuft wurde. Zumal dieser eine Sender von den meisten Zuschauerinnen und Zuschauern nicht intuitiv angesteuert werden dürfte und die Nachrichtensendungen dort nicht durchgehend liefen, sondern zunächst nur immer wieder.

Drittens: Die Erwartungen an die Öffentlich-Rechtlichen sind, was die Informations- und Einordnungskompetenz angeht, wohl besonders hoch. Von manchen werden sie sicher auch besonders hoch gesetzt, weil dann scharfe Kritik möglich ist.

Und viertens: Ungeduld. Die ganze Diskussion ist ein alter Hut. Bis auf den Anlass kommt einem alles sehr bekannt vor. Man kennt die Argumente von der Diskussion über die öffentlich-rechtliche Berichterstattung über den Brand in Notre Dame. Über eine Eskalation der Gewalt im Nahen Osten. Und und und. Es hat etwas von Murmeltiertag. Wann, kann man sich auch fragen, reagieren die Öffentlich-Rechtlichen endlich so darauf, dass nicht jedes Mal eine Diskussion quasi bei Null beginnt?

War da nicht ein News-Plan?

Vielleicht wäre es an der Zeit, zu sagen: "Gute, klare Nachrichten gehören zu unseren Kernaufgaben. An der Stelle können wir noch deutlich besser werden." Oder etwas wie: "Es steht uns gut an, einen klaren Nachrichtenkanal zu haben mit einer Adresse im Netz und im linearen Fernsehen."

Oh, Moment: Das hat im Februar 2022 die damalige ARD-Vorsitzende ja beides gesagt, in einem "Tagesspiegel"-Interview (siehe auch Altpapier). Tagesschau24 solle umgebaut werden, damit man der ARD nicht mehr, wie in der Vergangenheit, vorwerfen könne, sie habe nicht schnell genug reagiert. Nach einem Jahr, also Anfang 2023, wolle man dann evaluieren, wie weit man bis dahin mit dem Umbau gekommen sei. Die damalige ARD-Vorsitzende war Patricia Schlesinger.

"Das war mal ein relatives Glanzstück der Öffentlich-Rechtlichen-Kommunikation: wie die noch neue Vorsitzende der keineswegs oft einigen ARD, Patricia Schlesinger, ganz ohne die eher jahre- als monatelangen Diskussionen, die sonst selbst bei kleinsten Reförmchen-Ideen im öffentlich-rechtlichen Verbund üblich sind, eine ziemlich gravierende Veränderung überraschend als so gut wie beschlossen ankündigte. Also die Umwandlung des Verbrauchermagazin-Wiederholungs-Senders Tagesschau24 in einen Rund-um-die-Uhr-Nachrichtenkanal", kommentierte mein Altpapier-Kollege Christian Bartels damals.

Dass Schlesingers Reformpläne mittlerweile nicht mehr ganz so gut gelitten sind, mag ein Problem sein. Trotzdem kann man ja mal in die ARD hinein fragen: Gibt es in dieser Angelegenheit denn einen neueren Stand?

Zeitungszustellung fördern – oder "technologieneutral" denken?

Auf der gedruckten Medienseite der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bezogen im April drei SPD-Politikerinnen und -Politiker in einem Gastbeitrag Position für eine Zeitungszustellförderung, wie sie Verlagen vorschwebt (Altpapier). Nun ist in dieser Zeitung ein weiterer Gastbeitrag erschienen (Tweet), diesmal von der Grünen-Abgeordneten Tabea Rößner und des Direktors des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität zu Köln, Karl-E. Hain, und ihre Gegenthese lautet: "Es gäbe Innovativeres" als die Zustellförderung – nämlich nicht nur Print in den Blick zu nehmen.

Rößner und Hain empfehlen – im Wording lässt die FDP grüßen – einen "technologieneutralen" Ansatz und schreiben: "Bei der im Koalitionsvertrag der Ampel vorgesehenen Prüfung von Fördermodellen auf Eignung für eine flächendeckende Versorgung mit periodischen Presseerzeugnissen sollte der Blick nicht vorschnell auf eine Zustellförderung verengt, sondern sollten staatsferne Fördermodelle einbezogen werden, die zukunftsorientiert den Bestand und die Entwicklung journalistisch professionell arbeitender Redaktionen in einer zunehmend digitalen Medienwelt im Sinn haben."

Hier scheint auf, dass sich die Bundesregierung nicht nur schwer tut mit der Frage, welches Ministerium für die Zeitungszustellungsförderung zuständig wäre – sondern dass es zwischen den Koalitionsparteien auch nicht ausgemacht ist, welche Art der Förderung sie für sinnvoll erachten.

Was Bayerns Justiz für verzichtbar hält

Zu den relevantesten Beiträgen mit Medienbezügen vom Wochenende zählt eine Recherche von Ronen Steinke aus der "Süddeutschen Zeitung" (Tweet): "Bei ihren Ermittlungen gegen die Klimaprotestgruppe 'Letzte Generation' hat die Generalstaatsanwaltschaft München offenbar monatelang zahlreiche Gespräche mit Journalisten abhören lassen", schreibt er. Für das Abhören von Journalisten gibt es aber hohe Hürden. Steinke:

"Die Ermittler müssen sehr genau abwägen – Pressefreiheit gegen Strafverfolgung. Die Strafprozessordnung schreibt ihnen in Paragraf 160a vor: 'Betrifft das Verfahren keine Straftat von erheblicher Bedeutung, ist in der Regel nicht von einem Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses auszugehen.' In den ausführlichen Beschlüssen des Amtsgerichts München allerdings findet sich zu dieser notwendigen Abwägung kein Wort. Die Pressefreiheit und auch der entsprechende Paragraf 160a werden dort nicht erwähnt."

Die Abhörmaßnahmen seien eine "Eskalation", kommentiert Katharina Riehl auf der Meinungsseite, die aus den Recherchen ihres Kollegen die Erkenntnis gewinnt, "dass die bayerische Justiz den Schutz der freien Presse offenbar für verzichtbar hält, wenn sie ihr gerade im Weg steht. Darüber wird noch zu reden sein."


Altpapierkorb ("nd"-Krise, ARD-Personalrochade, Rundfunkbeitragsbeiträge, Hermann Unterstöger)

+++ Das "nd", eine der überregionalen Tageszeitungen, besser bekannt als "Neues Deutschland", steckt seit Längerem in einer wirtschaftlichen Krise, die sich offenbar verschärft hat. "Akut gefährdet" sei sie, schreibt die Zeitung selbst. Die "taz" berichtet über Rettungspläne.

+++ Lea Wagner wird die neue Jessy Wellmer (tagesspiegel.de). "Jessy Wellmer wird die neue Caren Miosga" (spiegel.de). Und Caren Miosga wird die neue Anne Will. Das ist quasi ARD-Vererbungslehre: Wer den besten Talkplatz am Sonntagabend bekommt, hat vorher die "Tagesthemen" moderiert. Wer die "Tagesthemen" moderiert, hat vorher unter anderem die Sportschau moderiert. Und überhaupt: Anchors kommen oft vom Sport. "Wie manch andere Redaktion auch haben sie bei den Tagesthemen schon früh verstanden, dass das Sportressort eine gute Schule ist für Journalisten und Journalistinnen, die es nach Höherem drängt", schreibt Holger Gertz dazu in der "SZ".

+++ Dass der ARD-Programmdirektorin Christine Strobl zu den genannten Moderatorinnen der Dreisatz "Frauenpower, Erneuerung und vielfältige Perspektiven" einfiel, ist wiederum Lisa Kräher im "Übermedien"-Newsletter aufgefallen: "Auf dem Weg zur Erneuerung könnte man ja auch mal darüber nachdenken, ob es solche Wörter wie 'Frauenpower' noch braucht".

+++ Welche Bundesländer mittlerweile eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags ablehnen, steht im "Tagesspiegel", der sich auf eine Umfrage des Evangelischen Pressedienstes beruft. Es sind demnach sechs. Joachim Huber fragt sich, wann sich die Länder zu Wort melden, die sie nicht ablehnen, und erbittet eine ernsthafte Debatte: "Rundfunkpolitik und Rundfunkpopulismus trennen nur eine sehr dünne Grenze. Und es ist der Rundfunkbeitrag, der sie markiert."

+++ In meinem ersten Praktikum schrieb ich für eine Lokalzeitung einen Artikel über die Wasserknappheit in meinem Landkreis. Ich fand heraus: Es gibt keine. Also stand in der Zeitung: "Im Landkreis wird das Wasser nicht knapp". Ich bekam meine ersten Leserreaktionen deswegen: Was daran interessant sei? Daran musste ich denken, als ich bei tagesspiegel.de die Überschrift las: "Wegen verweigerter Rundfunkbeiträge in Berlin – Keiner sitzt für den RBB im Gefängnis". Der RBB habe allerdings vergangenes Jahr 54.266 "Ersuchen zur Vollstreckung nicht gezahlter Rundfunkgebühren an die Finanzämter gestellt", 300.000 in den vergangenen fünf Jahren. Hintergrund der Berichterstattung ist eine Anfrage der AfD im Abgeordnetenhaus.

+++ Anderer Zungenschlag in der "FAZ": Dort geht es zum wiederholten Mal um den Fall eines Leipziger Studenten, der die Härtefallregelung in Anspruch nehmen will, um vom Rundfunkbeitrag entlastet zu werden. Überschrift: "Der MDR bleibt gnadenlos".

+++ Ein Autor des "Streiflichts" mit dem Kürzel JKÄ – unter Umständen also Joachim Käppner – lüftete am Samstag in der Seite-1-Glosse der "Süddeutschen Zeitung" ein Geheimnis: "Wer schreibt jeden Tag das Streiflicht? Ganz einfach: Hermann Unterstöger. Als der Bundeskanzler noch Helmut Schmidt und der US-Präsident Jimmy Carter hießen, schrieb Unterstöger sein erstes Streiflicht; sein jüngstes, beileibe nicht sein letztes erschien diese Woche. Ja, es gab über die Jahrzehnte noch ein paar Dutzend andere Streiflicht-Autoren und einige -Autorinnen, die aber fast alle Unterstöger-Avatare sind oder waren." Nebenbei gratulierte das "Streiflicht" Hermann Unterstöger zum 80. Geburtstag.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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