Das Altpapier am 29. Juni 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 29. Juni 2023 Der Trend zur rohen Bürgerlichkeit

29. Juni 2023, 12:47 Uhr

Sollten wir lieber mehr über die Einstellung von Wählern reden und nicht nur über deren Abstimmungsverhalten? Warum gerieren sich linke Journalisten gern als Strategieberater einer nicht so linken Partei? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Studie der Stunde

Die "Badische Zeitung" hat am Mittwoch den Vorspann zu einem Post-Sonneberg-Artikel der dpa mit der Frage begonnen: "Wer trägt die Verantwortung für den AfD-Wahlerfolg in Thüringen?" Das ist natürlich putzig, weil die Verantwortung für den Erfolg einer Partei die Wähler dieser Partei tragen - bzw. in diesem Fall die Wähler eines Landratskandidaten. Aber es soll ja ein paar Superhelden geben, die das anders sehen.

Die instruktivste Handreichung für Journalistinnen und Journalisten zur Einschätzung von "AfD-Wahlerfolgen" liefert eine zur richtigen Zeit kommende Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Uni Leipzig: Dieses hat eine "bevölkerungsrepräsentative Erhebung in den ostdeutschen Bundesländern" in einem "Policy Paper" unter der Überschrift "Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie" ausgewertet. Diese Studie wird vielerorts aufgegriffen, etwa bei MDR aktuell und tagesschau.de.

Die Studienautoren schreiben:

"In einzelnen Bundesländern werden Aussagen mit eindeutig rechtsextremem Inhalt nur von 20–30% zurückgewiesen. Die Ergebnisse für den tradierten Antisemitismus und die Diktaturbefürwortung fallen ähnlich aus und bei einem Großteil der Menschen finden sich auch Schuldabwehrantisemitismus und Muslimfeindschaft. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass extrem rechte Parteien mit ihren ideologischen Angeboten zahlreiche Anknüpfungspunkte in die Breite der Bevölkerung haben."

Johannes Grunert stellt in seinem Text für den "Spiegel" unter anderem heraus:

"Knapp 70 Prozent der Befragten bejahten die Aussage 'Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen' voll (41 Prozent) oder in Teilen."

Da der Landkreis Sonneberg in Thüringen liegt und das Altpapier beim MDR Thüringen beheimatet ist, heben wir an dieser Stelle mal die Ergebnisse für dieses Bundesland heraus: Manifeste Zustimmung zu der Aussage "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß", gibt es dort zu 13,2 Prozent, teilweise stimmen 26,2 Prozent zu. Bei "Was Deutschland jetzt braucht, ist eine Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert", stimmen 27,6 Prozent vollständig zu, 24,5 teilweise.

Das aktuelle Policy Paper ist, plakativ gesagt, ein Spin-off der seit 2002 veröffentlichten Leipziger Autoritarismus-Studien. In der Ausgabe von 2020 (die ich hin und wieder erwähnt habe im Altpapier, etwa in diesem) hieß es: "Während Menschen mit einer rechtsextremen Einstellung vor 2014 überwiegend die SPD und CDU wählten", habe sich "ihre Priorität" nunmehr geändert, und zwar zu Gunsten der AfD. In der aktuellen Befragung äußerten von den Menschen mit einen geschlossenen rechtsextremen Weltbild mehr als ein Drittel, nicht wählen zu wollen oder nicht zu wissen, ob sie wählen wollen. 10,3 Prozent kündigten an, ihr Kreuz bei der SPD zu machen, 7,7 Prozent tendieren zur Union.

Dass die manifeste Zustimmung in Sachen "Ausländerfeindlichkeit" im Schnitt sogar noch größer war, als es die AfD - in aktuellen Debatten gern auch als "Original" bezeichnet - noch gar nicht gab, zeigt ein vom Soziologen Steffen Mau verlinkter Screenshot. Was die Erhebung zeigt: Wir sollten über die Einstellungen von Wählern reden und nicht (nur) über deren Abstimmungsverhalten.

Journalisten sollten keine Berater sein

Erwähnenswert unter den aktuellen, "nach Sonneberg" erschienenen journalistischen Beiträgen, sind Recherchen von "Spiegel" und MDR Thüringen über einen der sozial-medial bekannteren Sonneberger AfD-Freunde (der diesen Bekanntheitsgrad einem Video verdankt, in der in einem wehrmachtsfreundlichen Kleidungsstück vor einer Kita zu sehen ist). Der MDR berichtet:

"Daniel W. habe eine eindeutige Neonazi-Biografie, die aus dem NSU-Umfeld zur AfD führt, so Rechtsextremismus-Expertin Martina Renner. Aus dem Protokoll einer Befragung von Daniel W. durch den Militärischen Abschirmdienst (MAD) aus jener Zeit geht hervor, dass W. regelmäßig an Stammtischen der Kameradschaft und NPD-Aufmärschen teilnahm und mit dem NSU-Vertrauten Tino Brandt vertraut war."

Der "Volksverpetzer", den ich aus ähnlichen Gründen wie der Medienbildungshub des Grimme-Instituts prinzipiell schätze, wartet bei einem Artikel mit der sich auf Friedrich Merz und Co. beziehenden Überschrift "Aus Sonneberg nichts gelernt" auf. Ich finde diesen Impetus, Politikern fehlendes strategisches Denken oder fehlende Lernfähigkeit zu attestieren, ja eher befremdlich - also Sätze, die mit "Wenn" beginnen und "wählen die Leute das Original" aufhören, oder vollständig zum Beispiel "Der aktuelle Rechtsdrall der Union stärkt allein die AfD" lauten (die taz Anfang der Woche). Wenn Merz auf, um ein Zitat aus Annika Brockschmidts "Volksverpetzer"-Text aufzugreifen, "die klassische Erzählung rechter Kulturkämpfer, die die Unterstützung rechter, völkischer Politik als eine Art Notwehrreaktion darstellt" setzt, dann tut er das ja vielleicht, weil er keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch Kulturkämpfer. Ich verstehe jedenfalls nicht so recht, warum sich linke Journalisten als Politikberater für eine antilinke Partei gerieren. Journalisten sollen kritisieren, nicht beraten.

An eigentlich allen anderen Stellen stimme ich Brockschmidt zu, zum Beispiel dieser, in der es um Jan Fleischhauers Reaktion auf Reaktionen auf Claudia Pechsteins CDU-Parteitagsrede geht:

"Die zunehmende Verharmlosung rechts-autoritärer und nationalistischer Positionen finden wir auch bei einigen rechten politischen Kommentator*innen, wie zum Beispiel bei Jan Fleischhauer, (…) der (…) in die AfD-Kerbe (haut), dass Dinge, die Pechstein gesagt habe, nicht rechtsextrem seien, sondern "normal"’ (…) Fleischhauer legt das an den Tag, was der Soziologe Wilhelm Heitmeyer 'rohe Bürgerlichkeit' nennt.

Normalerweise entscheide ich mich dagegen, Figuren wie Fleischhauer überhaupt zu erwähnen, aber heute erschien es mir sinnvoll. Denn: Der Typus des Journalisten, der "in die AfD-Kerbe haut", aber immer wieder wortreich seine Ablehnung gegenüber der AfD zum Ausdruck bringt - Fleischhauer zum Beispiel in der von Brockschmidt aufgegriffenen Kolumne: "Eher würde ich mir den Arm abhacken lassen, als mein Kreuz bei der AfD zu machen. Wer einen Mann wie den Joseph-Goebbels-Spätimitator Björn Höcke wählt, ist aus meiner Sicht politisch nicht ganz zurechnungsfähig" - gewinnt an Bedeutung.


Altpapierkorb (ND-Krise, Studio-Babelsberg-Krise, Urteil gegen gesund.bund.de, Urteil für "Newszone")

+++ Die SZ befasst sich mit der existenziellen Krise des ND, aber leider steht in dem Text kaum etwas drin, was man nicht auch schon in der taz oder im ND selbst lesen konnte (siehe Altpapier von Montag). Aufgefüllt wird der Artikel mit lahmen Irgendwas-mit-Honecker-Anekdoten, die ein halbes Jahrhundert alt sind. Relativ instruktiv dagegen dieser Thread des NDR-Mitarbeiters Sebastian Friedrich vom Wochenende.

+++ "Bedrohliche Nachrichten", um es mit Joachim Huber ("Tagesspiegel") zu sagen, kommen nicht nur aus Friedrichshain, wo das ND sitzt, sondern auch aus Potsdam, von einem "Standort mit herausragender Historie". Das Studio Babelsberg befinde sich, in einer "prekären Situation", so Huber, der einen Artikel der "Wirtschaftswoche" aufgreift. Der "Tagesspiegel"-Redakteur weiter: "Der Immobilienarm des US-amerikanischen Private-Equity-Hauses TPG hatte über seine kanadischen Cinespace Studios das Studio Babelsberg 2021 gekauft. Was nach allseitiger Win-win-Situation aussah, entpuppte sich als allseitige Enttäuschung."

+++ Der Wort & Bild Verlag ("Apotheken Umschau") hat vor dem Landgericht Bonn einen Erfolg gegen das Gesundheitsportal des Bundes errungen - mit, wie die SZ berichtet, "weitreichenden Folgen. Das Gericht hat entschieden, dass das Portal in der heutigen Form nicht weitergeführt werden darf. Es sieht hierin einen Verstoß gegen die Pressefreiheit. Ein Großteil der auf dem Portal eingestellten Artikel überschreitet nach der Begründung der Kammer die Grenzen des zulässigen staatlichen Informationshandelns". Über die Niederlage von gesund.bund.de berichten darüber hinaus u.a. die FAZ und dwdl.de.

+++ Neue Wendung in der Auseinandersetzung um "Newszone", die Nachrichten-App des SWR (siehe Altpapier). In einem epd/FAZ-Text heißt es: "Das Oberlandesgericht Stuttgart hob am Mittwoch eine Entscheidung der Vorinstanz auf, mit der die untersuchte Version der App in einem einstweiligen Verfügungsverfahren untersagt worden war. Zur Begründung verwies das Gericht darauf, dass kein Schlichtungsverfahren zwischen dem SWR und den klagenden Verlagen erfolgt sei."

Das Altpapier am Freitag kommt vom Autor der heutigen Kolumne.

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