Das Altpapier am 14. Mai 2018 Hört mit der Maskerade auf!
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Dürfen Journalisten ihre Protagonisten umarmen, und zwar nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz real, vor der TV-Kamera? Warum muss man einem Zeit-Redakteur eigentlich erklären, dass Meinungsfreiheit nicht das Recht bedeutet, gehört zu werden? Wird die Bild-Zeitung ihre Reporter von der Fußball-WM abziehen, wenn die ARD es tut? Ein Altpapier von René Martens.
Von Alena Jabarine hat der eine oder andere Altpapier-Leser zumindest mittelbar schon einmal gehört. Vor wenigen Wochen saß sie mit ihrem NDR-Kollegen Nino Seidel für eine Nacht in einem griechischen Gefängnis, weil sie an der Grenze zur Türkei in eine militärische Sperrzone gelangt waren. Passiert ist es im Rahmen von Recherchen für den jungen "Panorama"-Ableger "strg_f", die Jabarine am Wochenende bei einer Veranstaltung von Zeit Online in Hamburg zum Anlass für ein Plädoyer nahm. Es geht in dem von den Organisatoren der Konferenz veröffentlichten Vortrag, grob gesagt, um die Frage, ob die gute alte professionelle Distanz im heutigen Journalismus noch unter allen Umständen zeitgemäß ist:
"Ich habe in der Nacht zum 13. Februar einen Syrer umarmt und das ist ein Problem. Er hieß Basel, war 25 Jahre alt und die Umarmung war fest, weil ich nicht wusste, ob ich ihn wiedersehen würde",
sagt Jabarine unter anderem. Sie bezieht sich dabei auf eine lebensgefährliche Schlauchboot-Überfahrt über einen griechisch-türkischen Grenzfluss. Hintergrund: Ihre Filme heißen "Flucht zurück: Warum Syrer Deutschland verlassen" (erster Teil) und "Flucht zurück: Todesangst und Knast" (zweiter Teil), es geht um Syrer, die erst vor kurzer Zeit unter bedrohlichen und kostspieligen Umständen nach Deutschland gekommen sind – und nun denselben Weg unter denselben Umständen wieder zurück gehen. Zwar kein neues, aber im Fernsehen allemal selten aufgegriffenes Thema. Jabarine und Seidel waren bei dieser Flucht zurück quasi mittendrin, statt nur dabei. Sie sagt:
"Obwohl ich Journalistin bin, habe ich mit Basel gefiebert, mir Sorgen gemacht, gehofft, dass er die Überfahrt überleben wird. Weil ich für 'strg_f', ein neues, junges Reportageformat arbeite, war es kein Tabu, meine Emotionen in den Film reinzuschneiden. Und das habe ich getan."
Die Überschrift des Zeit-Online-Textes lautet "Journalisten, nehmt die Masken ab!", und das haben Jabarine/Seidel tatsächlich an vielen Stellen getan, zum Beispiel, kurz bevor sie und die zurück Flüchtenden sich trennen:
- "Alena, hast du Schiss?"
- "Ja."
- "Ich auch ein bisschen."
Jabarines Vortrags-Fazit:
"Ich wünsche mir, dass wir viel öfter auch das Making-Of erzählen. Dass wir Journalisten zeigen, wie wir recherchieren, wie wir mit Menschen umgehen, wo wir auch mal in der Zwickmühle stecken zwischen Professionalität und Menschlichkeit. Und auch mal hinterfragen, ob mehr Menschlichkeit eigentlich zwangsläufig weniger Professionalität bedeuten muss."
In diesem Thread nennt Udo Stiehl einige "altmodische" (Anführungsstriche von ihm selbst) Argumente gegen Jabarines Position. Ich würde Stiehls Einwände prinzipiell unterschreiben. Andererseits: Die meinetwegen "neumodische", journalistische Grenzen überschreitende "strg_f"-Version der Geschichte ist intensiver als die klassische und inhaltlich teilweise anders akzentuierte Fassung, die in der Hauptsendung der "Panorama"-Redaktion zu sehen war. Eine geschriebene Version der Reportage gibt es übrigens auch.
Die Position, die Jabarine vertritt, würden vermutlich auch die Produzenten der von Radio Bremen verantworteten ARD-Reihe "Rabiat" unterschreiben, deren dritte Folge "Geld. Macht. Glück" heute um 22.45 Uhr im Ersten zu sehen ist.
"Wir berichten nicht nur, vor allem erleben wir",
sagt zum Beispiel (siehe dazu einen Zeit-Online-Artikel von mir, in dem es auch um "Rabiat" geht) Manuel Möglich, einer der Macher, und dieser Satz impliziert ja bereits, dass man die Distanz auch mal aufgeben kann oder muss.
"Tobias und Philipp sind mir sympathisch",
sagt wiederum Steffen Hudemann, der Autor des heute zu sehenden "Rabiat"-Films. Gemeint sind die Gründer eines Essens-Lieferdienstes, die zu den Protagonisten von "Geld.Macht.Glück" gehören. Dass ein TV-Autor so etwas über die Personen äußert, über die er berichtet, ist in der Tat ungewöhnlich.
Die Macher der im weiteren Sinne jungen Reportageformate, die entweder im Netz laufen oder deren Machart dort ihren Ursprung haben – hinter "Rabiat" steht das gerade für den Grimme Online Award nominierte Y-Kollektiv –, haben also offenbar ein anderes Verhältnis zur professionellen journalistischen Distanz – möglicherweise deshalb, weil im Netz andere Formen des Erzählens notwendig sind als im herkömmlichen TV-Reportage- und Dokujournalismus.
Hoch die kollegiale Solidarität!
Der Erdinger Anzeiger steht normalerweise nicht im medienjournalistischen Fokus. Im Moment verschafft sich diese Lokalausgabe des Münchener Merkurs aber gerade Aufmerksamkeit durch eine solidarische Geste. Anlass ist eine Maßnahme der Erdinger Filiale der AfD, sie hat der SZ "Haus- und Fotografierverbot bei sämtlichen AfD-Veranstaltungen" erteilt:
"Wir beziehen das Verbot auch auf uns. Das heißt: Wir werden ab sofort keine AfD-Veranstaltungen mehr besuchen und nicht mehr über diese berichten",
schreibt der Erdinger Anzeiger. Die SZ erwähnt in eigener Sache die Solidaritätsgeste der Merkur-Kollegen, die möglicherweise inspiriert ist von jenen Kollegen, die kürzlich eine AfD-Pressekonferenz im Potsdamer Landtag verließen, weil einem Mann von der Bild-Zeitung das Fragerecht entzogen wurde (siehe Altpapier).
Nun scheint auch die Bild-Zeitung selbst in Solidaritäts-Stimmung gekommen zu sein. Über die Entscheidung Russlands, dem häufig über russisches Staatsdoping berichtenden ARD-Investigativjournalisten Hajo Seppelt für die Berichterstattung von der WM 2018 kein Visum zu erteilen, schreibt sie:
"Wir werden alle Maßnahmen unterstützen, die die ARD-Kollegen für angemessen erachten – von Protestnote bis zum Abzug der Reporter."
Abzug der Reporter – ein gutes Stichwort. Man könnte – sollte es dabei bleiben, dass Seppelt kein Visum bekommt – die Spiele ja ohne Reporter übertragen. Das wäre ein deutliches Zeichen, und der Zuschauer hätte darunter nicht besonders zu leiden. Dass die ARD ihre Berichterstattung nennenswert einschränken wird, ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil sie gemeinsam mit dem ZDF 218 Millionen Euro für die Übertragungsrechte ausgegeben hat.
Seppelt selbst äußert sich unter anderem in einem Interview mit den Salonkolumnisten:
"Dass in diesem Fall Russland ein Visum verweigert, ist beispiellos. Mir ist nicht bekannt, dass jemals bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften ein Visum für Sportjournalisten wegen ihrer Berichterstattung verweigert wurde."
Die SZ sammelt auf ihrer heutigen Medienseite Stellungnahmen von Politikern – und erwähnt auch die der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock. Sie sagt, der aktuelle Visums-Fall sei "ein Grund mehr, dass deutsche Regierungsvertreter den Spielen fernbleiben sollten".
0,002 Prozent der 218 Millionen Euro, die ARD und ZDF für die WM-Rechte ausgegeben haben, brauchen übrigens jene beiden Journalisten, die Ende April in Thüringen von zwei Neonazis angegriffen wurden (siehe Altpapier). Die beiden sitzen unter anderem "auf den Kosten des zerstörten Autos und der geklauten Kameraausrüstung", heißt es bei der Crowdfunding-Plattform Leetchi, wo man spenden kann.
Ein Boykottaufruf ist nicht totalitär
Lalon Sander hat in der taz eine Replik auf Jochen "Hochgradig diskursiv" Bittner veröffentlicht, der in einer Zeit-Online-Kolumne Kritik an Jan Böhmermanns Projekt "Reconquista Internet" geübt hatte (siehe Altpapier). Sander schreibt:
"(Bittner) vergleicht die Böhmermann-Aktion mit dem Orwell-Roman '1984', mit dem Vorgehen von Erdoğan-Freunden und US-Präsident Donald Trump, spricht von einem totalitären Trend und von totalitärem Denken und vom Abwürgen des Diskurses. Es ist eine steile These, die schlicht falsch ist, denn der Autor hat weder den Totalitarismus noch die Meinungsfreiheit verstanden – und auch nicht, dass es rechten Medien und InfluencerInnen nicht um einen Diskurs geht."
Einen historischen Exkurs hat Sander auch parat:
"Wenn die 1968er zum Boykott des Springer-Verlages aufriefen und anschließend ihr Leben lang keine Bild-Zeitung mehr kauften, war dies nicht totalitär, sondern Teil der Freiheit einer demokratischen Gesellschaft."
Wäre dieser Boykottaufruf nachhaltig gewesen, ginge es der demokratischen Gesellschaft heute besser, aber bevor ich zu weit abschweife, kommen wir lieber zum Kern von Sanders Kolumne:
"Meinungsfreiheit ist eben Äußerungsfreiheit, nicht das Recht, gehört zu werden. Und das gilt auch auf Twitter: Wenn Tausende Leute bestimmte Inhalte nicht rezipieren wollen und sich dabei gegenseitig unterstützen, ist das ihr Recht."
Überaus drollig ist ja, dass ausgerechnet Bittner sich jetzt als Haubitze der Meinungsfreiheit inszeniert und den vermeintlichen Diskursabwürger Böhmermann rügt, obwohl er, Bittner, sich selbst zwischen 2014 und 2017 mit einer Klage gegen "Die Anstalt" des ZDF öffentlichkeitswirksam als eine Art Diskursabwürger versuchte, ehe der Bundesgerichtshof dem ZDF im Januar jenes Jahres Recht gab (Altpapier, Legal Tribune Online).
Über den rechten Reichweitenmarkt
Der Bildblog hat ein aufschlussreiches Experiment durchgeführt: Vier Wochen lang hat sich Mats Schönauer die Social-Media-Charts der meist geteilten Artikel deutschsprachiger Medien angeschaut und "aus den Top 25 des Tages (…) die Artikel rausgesucht, die mit Ausländern/Flüchtlingen/Islam zu tun hatten".
Ergebnis: in einem einzigen Monat "fast 200 Ausländer-Artikel" – im oben beschriebenen Sinne (und mit der Einschränkung, dass mit Ausländer, beispielsweise, keine Skandinavier gemeint sind) –, die "von AfD, Pegida und Co. in die letzten Winkel der Sozialen Medien herumgereicht" werden. "Und auch wenn Medien wie Compact, PI News und "Epoch Times" große Teile des rechten Reichweitenmarktes bestimmen – noch erfolgreicher sind Welt (24 Artikel), Bild (21) und Focus Online (19).
Fazit des mit "How to: Klickfischen am rechten Rand" überschriebenen Beitrags:
"Machen Sie es also wie Springer und Burda! Übertreiben Sie, wo Sie nur können. Unterschlagen Sie Fakten. Scheißen Sie konsequent auf journalistische Standards. Und die Klicks der Fremdenfeinde sind Ihnen gewiss."
Was hat diese Art des, pardon, Scheißens für Folgen? Der Stuttgarter Sozialdemokrat Engin Sanli hätte da möglicherweise eine These parat, wenn er denn die Zeit hätte für grundlegende medienkritische Betrachtungen. Aber: "3000 bis 4000 E-Mails verstopfen täglich Sanlis Account", schreibt die Stuttgarter Zeitung. Hauptberuflich ist er nicht Politiker, sondern Anwalt, und zwar für jenen togolesischen Asylbewerber, dessen verhinderte Abschiebung in Ellwangen neulich dafür sorgte, dass ein Großteil der Medien-Republik frei drehte (Altpapier). Nun sind Dobrindtistans wackerste Kämpfer massenweise im schriftlichen Einsatz gegen Sanli.
"Wenn die AfD an der Macht ist, wirst du abgeholt",
lautet ein Briefzitat, das die StZ aufgegriffen hat.
Das Reporter-Forum erweckte bisher nicht den Eindruck, dass der Tassenbestand in seinen Schränken besorgniserregend niedrig ist. Nun jedoch hat, was Harald Staun in seiner FAS-Rubrik "Die lieben Kollegen" (45 Cent bei Blendle) aufgreift, der Verein für ein Panel seines diesjährigen Workshops Mitte Juni (siehe Programmpunkt 4E) den im presserechtlichen Rahmen schwer korrekt zu charakterisierenden Roger Köppel als Co-Referenten eingeladen. Staun schreibt dazu mit einer Nonchalance, die mir nicht vergönnt ist:
"Am Interessantesten dürfte die Sitzung werden, in der der Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel erzählt, wie man 'über die Themen der Rechtspopulisten schreiben' kann, 'ohne populistisch zu sein'. Wobei: Man muss nicht unbedingt 135 Euro Teilnahmegebühr zahlen, um Köppels Tricks zu erfahren. Es reichen 6,50 Franken für das legendäre Weltwoche-Cover vom April 2012, das ein Roma-Kind mit Pistole zeigt und die wohl überlegte Schlagzeile: 'Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz.'"
Freuen wir uns also heute schon auf das Reporter-Forum 2019, wenn Jürgen Elsässer zum Thema "über Volksverräter schreiben, ohne dabei unsachlich zu werden" referiert.
Altpapierkorb (Rundfunkbeitragsreformoptionen, Veteranen des Post-Faktischen, Straßenumfragen)
+++ Das Schwerpunkt der samstäglichen Medienseiten in SZ und FAZ: medienpolitische Reformüberlegungen. In der FAZ (45 Cent bei Blendle) schlägt Jochen Zimmermann, Professor an der Universität Bremen, vor, den bisherigen Rundfunkbeitrag durch "eine Demokratieabgabe" zu ersetzen, und zwar in Form eines "Voucher-Systems, bei dem die Nutzer für einen Teil ihrer Gebühren selbst bestimmen können, wem der von ihnen bereitgestellte Beitrag zugute kommt. Ein solches Optout Voucher-System erkennt zunächst den meritorischen Charakter von Informationen an. Das Voucher-System garantiert, wenn es einen Sockelbetrag enthält, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und erfüllt damit die verfassungsgerichtlichen Vorgaben einer Bestandsgarantie. Schließlich erlaubt es dem Beitragszahler, ausgewählte Medien zu fördern." In der SZ plädiert Wolfgang Schulz vom Hans-Bredow-Institut, dafür, "den Rundfunkbeitrag an einen Index zu koppeln" (Setzung des letzteren Links von mir – RM). "Wir brauchen eine Diskussion über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und über die Frage, warum wir den brauchen und in welchem Umfang. Aber bei jeder Entscheidung über die Beitragshöhe die inhaltliche Diskussion zu führen, ist aus meiner Sicht einfach nicht funktional", erläutert Schulz.
+++ Wer war "post-faktisch lange vor post-truth"? Die "Achtundsechzigerfresser". Meint jedenfalls Georg Diez in seiner aktuellen Spiegel-Online-Kolumne.
+++ Etwa 16.000 Stellen fehlen derzeit in den Jugendämtern der Bundesrepublik – das ist das Ergebnis einer Studie der Hochschule Koblenz, die heute um 20.15 Uhr die ARD in ihrem Film "Wenn Eltern ihre Kinder misshandeln" aufgreift. Caroline Fetscher spricht im Tagesspiegel von einer "großartigen Dokumentation". Was den journalistischen Inhalt angeht, sehe ich das auch so – umso ärgerlicher sind die unangemessene dramatisierende Musik und die ebenso unangemessenen animierten Zeichnungen.
+++ Dem tendenziell epochalen Dreiteiler "Judith Rakers: Abenteuer Pferd" (siehe Altpapier von Mittwoch) widmet sich nun auch Hans Hoff bei dwdl.de. Er ordnet die Filme "zwischen Loriot und Rosamunde Pilcher" ein.
+++ Meine Lieblingspassage in der aktuellen Ausgabe von epd medien stammt von Fritz Wolf, und es geht darin um die sacköde ZDF/arte-Dokumentation "Marx und seine Erben": "Es ist eine besondere Eigenschaft dieser Dokumentation, dass sie mit Straßenumfragen nur so um sich wirft: in London, in Chemnitz oder unter französischen Arbeitern bei Alstom. Man könnte, mit Marx, fragen, welche journalistisch-analytische Qualität diese Umfragen haben. Man würde, auch ganz ohne Marx, zu dem Ergebnis kommen, dass es sich um eine journalistische Praxis handelt, die die Mühen der Recherche damit umgeht, dass sie Meinungen einholt und dann einfach im Film herumstehen lässt." Nun hören Fernsehredakteure in der Regel ja nicht auf Fernsehkritiker – Schluchz! Heul! –, aber dass Straßenumfragen in TV-Beiträgen generell nullkommanull Nährwert haben, kann man ihnen anlässlich Wolfs Text gern mal aufs Brot schmieren.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.