08. Januar 2016: Nach den Übergriffen in Köln – folgt der Willkommenskultur die Kultur der Abschreckung?

Bei einem der früheren Lokalchefs der Chicago Tribune soll auf dem Schreibtisch ein Schild mit dem Spruch gestanden haben: "Wenn Deine Mutter sagt, sie liebt dich, überprüfe es". Das zumindest wird in journalistischen Lehrbüchern gerne so zitiert, allerdings ohne Quellenangabe. Also möglicherweise ist das kein echtes Zitat, sondern ein Gerücht, und damit sind wir mitten im aktuellen Problem.

Da wurde  in den ersten Schlagzeilen zu den Kölner Übergriffen tatsächlich berichtet, es seien eintausend Männer gewesen, die da Sex-Attacken auf Frauen begangen hätten, um wenig später die Kölner Polizei zu zitieren, die von polizeibekannten Intensivtätern sprach. Nun muss man sich in dieser Situation natürlich die Frage stellen, ob es in Köln tatsächlich eintausend polizeibekannte Intensivstraftäter gibt, die sich alle zur Silvesternacht am Bahnhof treffen.

Diese ungewöhnliche Meldung hätte eigentlich zwingend zu Nachfragen bei der Polizei führen müssen. Allerdings folgten auf die Silvesternacht erst der Neujahrstag und dann ein Wochenende. Polizei und Redaktionen sind notbesetzt, sodass Informationen über die tatsächlichen Vorfälle nur schwer zu verifizieren sind. Viele wissen wenig und trotzdem muss die Meldung schnell ins Netz, denn alle anderen berichten schließlich auch. Unter solchen Bedingungen zeigen sich die gravierenden Probleme einer Schlagzeile: Sie differenziert nicht und ähnlich wie ein Schlag mit der Faust lässt sie sich auch nicht zurückholen. Die Folgen sind bekannt. Dem Mob auf dem Kölner Hauptbahnhof folgt der digitale Mob im Netz.

Imageschaden für Magdeburg durch die Himmelfahrtskrawalle 1994

Im Jahr 1994 geriet die Stadt Magdeburg bundesweit in die Schlagzeilen wegen der sogenannten Himmelfahrtskrawalle. Als Reporter erlebte ich einen Teil der Auseinandersetzungen vor dem Karstadt-Warenhaus, junge, stark alkoholisierte Jugendliche, die plötzlich Asylbewerber angriffen, um dann wieder in der Menge zu verschwinden. Die Stimmung insgesamt war äußerst angespannt und die Polizei deutlich überfordert mit der Situation, was sich auch daran zeigte, dass sie neben einigen Tätern auch Opfer der Überfälle in Gewahrsam nahm. Die berühmten journalistischen W-Fragen (wer, wo, was, wie, wann, woher) hätte ich als Reporter und Augenzeuge in diesem Moment nicht beantworten können.

Am späten Nachmittag veröffentlichte dann eine Nachrichtenagentur eine Meldung, in der von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Magdeburg" die Rede war. An einem solchen, ansonsten nachrichtenarmen Feiertag war diese Schlagzeile geeignet, bundesweit zur Topmeldung aufzusteigen, mit nachhaltigen Folgen. Ein Polizeipräsident musste seinen Stuhl räumen, weil er die Ursache für die Ausschreitungen in Sonne und Alkohol zu finden glaubte, und der damalige Oberbürgermeister der Stadt sah sich gezwungen, das Image der Stadt aufzubessern, mit der Bemerkung, die meisten Randalierer seien ja gar keine Magdeburger gewesen. Geholfen hat das nichts. Jahrelang musste die Stadt mit ihrem Ruf als Hochburg rechtsradikaler Umtriebe leben.

Folgen für Köln?

Die Vorgänge in Köln werden allerdings weniger das Image der Stadt beschädigen, als vielmehr alle Versuche, sich mit dem Thema Gewalt gegen Frauen vorurteilsfrei auseinanderzusetzen. Der Hinweis, dass es beim Oktoberfest oder anderen deutschen Volksfesten ähnlich übergriffig zugehe, gleicht der damaligen Feststellung, in Magdeburg hätten nur Ortsfremde die Asylbewerber gejagt. Es ist der Versuch einer Relativierung und Einordnung, gut gemeint, aber nicht unbedingt gut gedacht, denn die sogenannten Asylkritiker fühlen sich in ihrem Feindbild durch die Kölner Übergriffe ohnehin bestätigt.

Aus dieser unschönen Situation kann sich keine Erkenntnis entwickeln, aber das scheint derzeit auch nicht das Ziel der Diskussion zu sein. Vielmehr geht es wohl eher darum, die Deutungshoheit zu erringen, angesichts der Frage, was da in der Silvesternacht eigentlich passiert ist, handelte es sich also um sexuelle Übergriffe oder wurden die Frauen Opfer einer typische Form von Flüchtlingskriminalität. Auf Grund der derzeitigen Faktenlage lässt sich darauf keine vorurteilsfreie Antwort finden. In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, dass sich noch kein Experte zu Wort gemeldet hat, der ja einem scheinbaren Naturgesetz folgend, immer schon die Antworten kennt, bevor überhaupt die Fragen gestellt wurden.

Unabhängig also von der Frage, wer da wann was gemacht hat, bleibt natürlich noch ein weiteres Problem zu klären. Was muss eigentlich der Staat tun, um öffentliche Räume nicht zu No-Go-Areas verkommen zu lassen, ohne sich selbst in einen Polizeistaat zu verwandeln. Wohin eine solche Entwicklung führen kann, zeigt das Beispiel Fußball: Als Antwort auf die Gewalt im Umfeld der Spiele hat die Polizei massiv aufgerüstet und für Gästefans ist das Stadion außerhalb des zugewiesenen Blocks de fakto eine No-Go-Area. Mit sexueller Gewalt hat das wohl in den allermeisten Fällen eher weniger zu tun, aber die da beim Fußball übergriffig werden, sind überwiegend junge alkoholisierte Männer. Und da stellt sich natürlich die Frage, welcher Teil der so oft beschworenen abendländischen Kultur sich in solchen Momenten zeigt.